T 0266/10 (Faktor VIII-Polypeptid/CHAJMOWICZ) 13-10-2014
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Ein Faktor VIII-Polypeptid mit Faktor VIII:C-Aktivität
Hauptantrag - ausreichende Offenbarung (nein)
Hilfsantrag I - ausreichende Offenbarung (nein)
Hilfsantrag II - Voraussetzungen des EPÜ erfüllt (ja)
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die am 4. Dezember 2009 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung nach Artikel 101(2) EPÜ, mit der das europäische Patent Nr. 1 129 186 (Anmeldenummer 99953425.8) mit der Bezeichnung "Ein Faktor VIII-Polypeptid mit Faktor VIII:C-Aktivität" widerrufen wurde. Die dem Streitpatent zugrunde liegende Anmeldung wurde mit der Veröffentlichungsnummer WO 00/28021 (im Folgenden "die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung") veröffentlicht.
II. Das Streitpatent wurde mit 12 Ansprüchen erteilt. Die Ansprüche 1, 2, 8, 9 und 10 des Patents in der erteilten Fassung lauten wie folgt:
"1. Humanes Faktor VIII-Polypeptid mit Faktor VIII:C-Aktivität, welches eine Modifikation zwischen AS 1743 (Phe) und 1749 (Arg), AS 1784 (Ser) und 1831 (Asp), AS 1888 (Ser) und 1919 (His), AS 1942 (Trp) und 1947 (Met), AS 1959 (Ser) und 1974 (Ala), AS 2037 (Ile) und 2062 (Trp), AS 2108 (Asp) und 2118 (Asn) und/oder AS 2154 (Thr) und 2158 (Ile) aufweist, wobei die Modifikation eine Mutation, Deletion oder Insertion ist, die die Bindungsaffinität zu dem Low Density Lipoprotein-Receptorverwandtem Protein (LRP) verringert.
2. Faktor VIII-Polypeptid nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die Modifikation zwischen AS 2037 (Ile) und 2062 (Trp), AS 2108 (Asp) und 2118 (Asn) und/oder AS 2154 (Thr) und 2158 (Ile) vorliegt.
8. Präparation, welche ein FVIII-Molekül mit FVIII:C-Aktivität nach einem der Ansprüche 1 bis 3 und ein Polypeptid ausgewählt aus der Gruppe der LRP-Antagonisten aufweist.
9. Präparation nach Anspruch 8, dadurch gekennzeichnet, dass der LRP-Antagonist ausgewählt ist aus der Gruppe von RAP und löslichen Fragmenten von LRP.
10. Präparation nach Anspruch 8, dadurch gekennzeichnet, dass die löslichen Fragmente von LRP eine Bindungsaffinität zur FVIII-LRP-Bindungsstelle zeigen."
Der abhängige Anspruch 3 ist auf eine Ausführungsform des Faktor VIII-Polypeptids gemäß Anspruch 2 gerichtet. Die unabhängigen Ansprüche 4, 5, 6 und 7 haben ein DNA-Molekül, einen Expressionsvektor, eine transformierte Zelle bzw. ein Verfahren zur Herstellung des erfindungsgemäßen Faktor VIII-Polypeptids zum Gegenstand. Die Ansprüche 11 und 12 sind auf die Verwendung des erfindungsgemäßen Faktor VIII-Polypeptids zur Formulierung einer Präparation zur Behandlung einer Gerinnungsstörung gerichtet.
III. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Einspruchsabteilung fest, dass die von der Einsprechenden geltend gemachten Einspruchsgründe des Artikels 100 a) i.V.m. Artikel 56 EPÜ und des Artikels 100 b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung entgegenstehen. Dagegen wurden die auf die Artikel 100 c) und 100 a) i.V.m. Artikel 54 EPÜ gestützten Einwände für nicht stichhaltig erachtet.
Zur Begründung der Feststellung zum Einspruchsgrund des Artikels 100 a) i.V.m. Artikel 56 EPÜ führte die Einspruchsabteilung Folgendes aus: Dokument (2) sei als nächstliegender Stand der Technik anzusehen. Ausgehend von diesem Dokument bestehe die zu lösende Aufgabe darin, ein modifiziertes humanes Faktor VIII-Polypeptid mit Faktor VIII:C-Aktivität bereitzustellen, welches gegenüber dem Wildtyp eine längere Halbwertszeit und/oder erhöhte Stabilität aufweist und zur Behandlung von Gerinnungsstörungen verwendet werden kann. Das Streitpatent liefere keine experimentellen Daten, die belegen, dass diese Aufgabe von dem Gegenstand des Anspruchs 1 tatsächlich gelöst werde. Es sei äußerst fraglich, ob die Aufgabe allein durch die Identifizierung von potentiellen "Exosites" mittels Hydropathie-Studien und den Vorschlag, diese "Exosites" zu modifizieren, gelöst werde. Somit sei "... ein kausaler Zusammenhang zwischen den beanspruchten hypothetischen Faktor VIII Modifikationen und einer behaupteten vorteilhaften Wirkung/Eigenschaft dieser Modifikationen ..." nicht glaubhaft nachgewiesen worden. Aus diesen Gründen könne zumindest dem Gegenstand des Anspruchs 1 die erforderliche erfinderische Tätigkeit nicht zuerkannt werden.
Die Feststellung zu Artikel 100 b) EPÜ begründete die Einspruchsabteilung damit, die Offenbarung im Streitpatent sei unzureichend, weil darin kein einziges Faktor VIII-Polypeptid offenbart werde, das in einem der im Anspruch 1 angegebenen Bereiche modifiziert ist und eine verbesserte Halbwertszeit aufweist. Daher sei die Lehre des Streitpatents lediglich eine Einladung zur Durchführung eines umfangreichen Forschungsprogramms mit dem Ziel, geeignete LRP-Bindungsstellen in den A3- und C1-Domänen des Faktor VIII-Polypeptids aufzufinden, die zum Erhalt eines Polypeptids mit verbesserter Stabilität modifiziert werden könnten. Somit sei das Ausmaß zumutbarer Versuche eindeutig überschritten und der Erfolg äußerst zweifelhaft.
IV. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde ein und reichte mit der Beschwerdebegründung neue Beweismittel ein.
V. Die Einsprechende (Beschwerdegegnerin) erwiderte auf die Beschwerdebegründung. Sie beantragte hilfsweise mündliche Verhandlung.
VI. Die Beteiligten wurden zu einer mündlichen Verhandlung geladen. In einer Mitteilung gemäß Regel 15(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern teilte die Kammer ihre vorläufige Meinung zu einigen strittigen Fragen mit, die in der mündlichen Verhandlung diskutiert werden sollten, insbesondere zu Fragen bezüglich des Artikels 100 a) in Verbindung mit Artikeln 54 und 56 EPÜ, sowie des Artikels 100 b) EPÜ.
VII. Am 12. September 2014 erwiderte die Beschwerdeführerin auf die Mitteilung der Kammer und reichte sechs geänderte Anspruchssätze als Hilfsanträge I bis VI sowie weitere Beweismittel ein.
VIII. Die Ansprüche 1 und 2 gemäß Hilfsantrag I lauten wie folgt:
"1. Humanes Faktor VIII-Polypeptid mit Faktor VIII:C-Aktivität, welches eine Modifikation zwischen AS 1784 (Ser) und 1831 (Asp), AS 1888 (Ser) und 1919 (His), AS 2037 (Ile) und 2062 (Trp) und/oder AS 2108 (Asp) und 2118 (Asn) aufweist, wobei die Modifikation eine Mutation, Deletion oder Insertion ist, die die Bindungsaffinität zu dem Low Density Lipoprotein-Receptorverwandtem Protein (LRP) verringert.
2. FaktorVIII-Polypeptid nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die Modifikation zwischen AS 2037(lle) und 2062 (Trp) und/oder AS 2108 (Asp) und 2118 (Asn) vorliegt."
Die Ansprüche 3 bis 12 sind mit den entsprechenden Ansprüchen des Streitpatents identisch.
IX. Am selben Tag teilte die Beschwerdegegnerin der Kammer mit, dass sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen würde, und nahm ihren diesbezüglichen Antrag zurück.
X. Die mündliche Verhandlung fand am 13. Oktober 2014 in Abwesenheit der Beschwerdegegnerin statt. Während der mündlichen Verhandlung reichte die Beschwerdeführerin einen neuen Anspruchssatz (Ansprüche 1 bis 11) als Hilfsantrag II ein, der den am 12. September 2014 eingereichten Hilfsantrag II ersetzte.
XI. Die Ansprüche 1, 2 und 9 gemäß Hilfsantrag II lauten wie folgt:
"1. Humanes Faktor VIII-Polypeptid mit Faktor VIII:C-Aktivität, welches eine Modifikation zwischen AS 1784 (Ser) und 1831 (Asp) und/oder AS 2108 (Asp) und 2118 (Asn) aufweist, wobei die Modifikation eine Mutation, Deletion oder Insertion ist, die die Bindungsaffinität zu dem Low Density Lipoprotein-Receptorverwandtem Protein (LRP) verringert.
2. Faktor VIII-Polypeptid nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die Modifikation zwischen AS 2108 (Asp) und 2118 (Asn) vorliegt.
9. Präparation nach Anspruch 8, dadurch gekennzeichnet, dass der LRP-Antagonist ausgewählt ist aus der Gruppe von RAP und löslichen Fragmenten von LRP, die eine Bindungsaffinität zur FVIII-LRP-Bindungsstelle zeigen."
Die Ansprüche 3 bis 8 sind mit den entsprechenden Ansprüchen des Streitpatents identisch. Die Ansprüche 10 und 11 unterscheiden sich von den Ansprüchen 11 und 12 des Streitpatents dadurch, dass der Anspruch 10 auf den Anspruch 8 oder 9 und der Anspruch 11 auf den Anspruch 10 zurückbezogen sind.
XII. In dieser Entscheidung wird auf folgende Entgegenhaltungen Bezug genommen:
(1): US-Patent Nr. 5,364,771, veröffentlicht am 15. November 1994;
(2): A. Yakhyaev et al., 1997, Blood, Band 90 (Suppl. 1), Zusammenfassung Nr. 126-I;
(3): P. J. Lenting et al., 20. August 1999, The Journal of Biological Chemistry, Band 274, Nr. 34, Seiten 23734 bis 23739;
(7): Methods of Testing Protein Functionality, 1996, Ed. G. M. Hall, Blackle Academic & Professional, London;
Anlage A: N. Bovenschen et al., 14. März 2003, The Journal of Biological Chemistry, Band 278, Nr. 11, Seiten 9370 bis 9377;
Anlage B: "Factor VIII variants having reduced interaction with LRP", Beschreibung der Versuche und Darstellung der Ergebnisse als Tabelle.
XIII. Zu den für diese Entscheidung relevanten Fragen argumentierte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen wie folgt:
Berücksichtigung von Beweismitteln - Artikel 12(4) VOBK
Die Versuchsergebnisse in der Anlage B bestätigten, dass Modifikationen in den A3- und C1-Bereichen des Faktor VIII-Polypeptids die Bindungsaffinität zu LRP verringern.
Hauptantrag und Hilfsantrag I - Artikel 100 b) EPÜ
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern bedeute die Tatsache, dass die Nacharbeitung der Erfindung langwierig und mühsam sei, nicht unbedingt, dass die Erfindung nicht ausreichend offenbart sei. Für die Offenbarung sei es ausreichend, wenn die zur Ausführung der Erfindung bestimmten Mittel durch technische Angaben, die sie anwendbar machen, eindeutig offenbart seien und das angestrebte Ergebnis zumindest in einigen realistischen Fällen erzielt werde. Das gelegentliche Misslingen beeinträchtige nicht die Ausführbarkeit der Erfindung. Es müsse nur gewährleistet sein, dass der Fachmann, der die Patentschrift liest, die Erfindung in allen wesentlichen Teilen ausführen kann und weiss, wann er im Schutzbereich der Ansprüche arbeitet.
Auf der Grundlage der Angaben im Streitpatent, insbesondere im Beispiel XI sei ein Fachmann am Anmeldetag in der Lage gewesen, Faktor VIII-Polypeptide, die in einem oder mehreren der im Anspruch 1 angegebenen Sequenzbereichen modifiziert sind, zu erhalten und deren Bindungsaffinität zu LRP gemäß den Beispielen I, II, IX bzw. III in vitro oder in vivo zu testen. Die Faktor VIII:C-Aktivität habe der Fachmann wie in den Absätzen [0038] bis [0042] des Streitpatents offenbart messen können.
Der Meinung der Einspruchsabteilung, die Erfolgsaussichten eines Fachmanns, der eine Faktor VIII-Mutante innerhalb der im Anspruch 1 angegebenen Regionen mit erhöhter Halbwertszeit und/oder Stabilität herzustellen versucht, seien zweifelhaft, könne nicht zugestimmt werden. Durch die Identifizierung der Exosites im Streitpatent seien die Sequenzbereiche erheblich eingegrenzt worden, welche zur Verringerung der LRP-Bindung modifiziert werden müssen.
Hilfsantrag II
Artikel 83 EPÜ - Ausreichende Offenbarung
Der geänderte Anspruch 1 sei auf Modifikationen in zwei eng definierten Sequenzbereichen eingeschränkt. Der Fachmann könne mit geringem Experimentieraufwand Faktor VIII-Mutanten auffinden, die eine verringerte Bindungsaffinität zu LRP aufweisen. In der Anlage B seien Versuchsergebnisse für Modifikationen in vier verschiedenen Bereichen der A3-C1-Domäne und zwei Bereichen der C2-Domäne des Faktor VIII-Polypeptids angegeben. Mangels widerlegender Beweise sei die beanspruchte Erfindung als ausreichend offenbart anzusehen.
Artikel 54 EPÜ - Neuheit
Die Ansprüche seien auf humanen, in bestimmten Sequenzbereichen modifizierten Faktor VIII gerichtet. Ihr Gegenstand sei deshalb gegenüber der Entgegenhaltung (1) neu. In Bezug auf die von der Beschwerdegegnerin aufgezeigten Angaben in der Beschreibung des Streitpatents gebe es möglicherweise ein Klarheitsproblem, dies sei jedoch kein Einspruchsgrund.
Artikel 56 EPÜ - Erfinderische Tätigkeit
Am Anmeldetag seien der Faktor VIII-Clearance-Mechanismus, die in diesem Prozess involvierten Zellrezeptoren und die in der Faktor VIII-Rezeptor-Wechselwirkung involvierten Molekularstellen nicht bekannt gewesen. Im Streitpatent werde zum ersten Mal beschrieben, dass LRP ein an der Aufnahme von Faktor VIII beteiligter zellulärer Rezeptor ist und dass bestimmte Bereiche der leichten Kette des Faktor VIII-Polypeptids zur Wechselwirkung mit LRP beitragen. Außerdem lehre das Patent, dass eine geringere Bindung des Faktor VIII-Polypeptids an LRP zu einer verringerten Clearance des Polypeptids und einer Erhöhung seiner Halbwertszeit und Stabilität führe.
Die Beispiele I, III, V, VI, VII, X und XI des Streitpatents und die Anlagen A, B und C zeigten, dass die modifizierten Faktor VIII-Polypeptide gemäß Anspruch 1 die der Erfindung zugrundeliegende Aufgabe tatsächlich lösen. Die Anlage A belege, dass ein Faktor VIII-Polypeptid mit modifizierter A3-Domäne eine erheblich geringere Wechselwirkung mit LRP zeigt. Die erfinderische Tätigkeit sei daher anzuerkennen.
XIV. Die Beschwerdegegnerin trug schriftlich folgendes vor:
Berücksichtigung von Beweismitteln - Artikel 12(4) VOBK
Bei der Anlage A handle es sich um einen wissenschaftlichen Artikel, der mehr als 3 Jahre nach dem Anmeldetag veröffentlicht wurde. Daher könne dieser Artikel nicht verwendet werden, um glaubhaft zu machen, dass die technische Aufgabe am Anmeldetag gelöst worden sei.
Bei den Versuchsergebnissen in der Anlage B werde die LRP-Affinität verschiedener Faktor VIII-Varianten als willkürliches [LRP-Bindung]/[Faktor VIII-Aktivität]-Verhältnis angegeben.
Hauptantrag und Hilfsantrag I - Artikel 100 b) EPÜ
Das Patent gebe dem Fachmann keine ausreichenden Informationen an die Hand, wie er Polypeptide mit verringerter Bindungsaffinität zu LRP und erhöhter Halbwertszeit herstellen könne. Der einzige technische Beitrag des Streitpatents bestehe in der Identifizierung potentieller "Exosites" in der leichten Kette des humanen Faktor VIII-Polypeptids anhand von Hydropathie-Profilen. Es sei jedoch zweifelhaft, ob Hydropathie-Profile irgendeine Aussagekraft in Bezug auf die tatsächliche Beteiligung der potentiellen "Exosites" an der Bindung des Faktor VIII-Polypeptids an LRP haben. Auch wenn im Streitpatent gezeigt werde, dass die leichte Kette des Faktor VIII-Polypeptids an LRP bindet, sei dies kein Beweis dafür, dass die Bindung über einen der im Anspruch 1 angegebenen Bereiche erfolge.
Der Patentinhaber habe es Dritten überlassen, die Wechselwirkung des Faktor VIII-Polypeptids mit LRP zu untersuchen und die unmittelbar daran beteiligten Aminosäuren zu identifizieren. Da die im Anspruch 1 angegebenen Bereiche insgesamt 151 Aminosäuren umfassen, habe ein Fachmann am Anmeldetag zahlreiche Versuche durchführen müssen, um herauszufinden, welche Aminosäure(n) innerhalb der angegebenen Bereiche des Faktor VIII-Polypeptids modifiziert werden müssen, um die Bindungsaffinität zu LRP zu verringern. Da dies mit einem unzumutbaren Experimentieraufwand verbunden sei, müsse die Frage, ob die beanspruchte Erfindung ausreichend offenbart sei, verneint werden.
Hilfsantrag II
Artikel 54 EPÜ - Neuheit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht neu. Die Entgegenhaltung (1) beschreibe modifizierte Faktor VIII-Polypeptide, die aus einer schweren Kette des humanen Faktor VIII-Polypeptids und einer leichten Kette des Faktor VIII-Polypeptids vom Schwein bestehen. Diese Hybrid-Moleküle wiesen gerinnungsfördernde Aktivität, d.h. Faktor VIII:C-Aktivität auf (siehe Anspruch 1 und Spalte 3, Zeilen 41 bis 56 der Entgegenhaltung).
Modifikationen, die über die im Anspruch definierten Bereiche der Aminosäuresequenz des Faktor VIII-Polypeptids hinausgehen, würden vom Wortlaut des Anspruchs 1 nicht ausgeschlossen. Dies ergebe sich eindeutig aus den Ausführungen in den Absätzen [0030] und [0053] des Streitpatents. Im Absatz [0053] sei angegeben, dass die Faktor VIII-DNA, die als Ausgangsmaterial für die Herstellung der erfindungsgemäßen Faktor VIII-Mutanten verwendet wird, von jeder beliebigen Säuger-Spezies abstammen könne, unter anderem vom Schwein.
Artikel 56 EPÜ - Erfinderische Tätigkeit
Der Inhalt der Entgegenhaltung (2) stelle den nächstliegenden Stand der Technik dar. Diese Entgegenhaltung beschreibe, dass die A2-Domäne des Faktor VIII-Polypeptids an LRP bindet und dass die Clearance des A1/A3-C1-C2-Fragments zur Regulation der Aktivität des Faktors VIII beiträgt. Der beanspruchte Gegenstand unterscheide sich von dem Inhalt der Entgegenhaltung (2) durch eine Modifikation in einem oder mehreren der im Anspruch 1 angegebenen Bereiche der leichten Kette. Dementsprechend bestehe die zu lösende Aufgabe darin, ein Faktor VIII-Polypeptid mit Faktor VIII:C-Aktivität bereitzustellen, das eine erhöhte Halbwertszeit und/oder erhöhte Stabilität in vivo und/oder in vitro aufweise. Das Patent enthalte keine Versuchsergebnisse, die glaubhaft machten, dass diese Aufgabe gelöst worden sei.
XV. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der Entscheidung der Einspruchsabteilung und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag) oder auf der Grundlage des mit Schreiben vom 12. September 2014 eingereichten Hilfsantrags I oder des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags II.
XVI. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte schriftlich die Zurückweisung der Beschwerde.
Berücksichtigung von Beweismitteln - Artikel 12(4) VOBK
1. Gemäß Artikel 12(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) liegen dem Beschwerdeverfahren zugrunde: a) die Beschwerde und die Beschwerdebegründung nach Artikel 108 EPÜ; b) die Erwiderungen der anderen Beteiligten, die innerhalb von vier Monaten nach Zustellung der Beschwerdebegründung einzureichen sind, und c) Mitteilungen der Kammer und Antworten hierauf, die gemäß den Anweisungen der Kammer eingereicht worden sind. Dieses gesamte Vorbringen wird, wenn und soweit es sich auf die Beschwerdesache bezieht, von der Kammer berücksichtigt. Die Kammer ist jedoch befugt, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im vorangegangenen Einspruchs- bzw. Prüfungsverfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind (vgl. Artikel 12(4) VOBK).
Dokument (7)
2. In ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung hat sich die Beschwerdegegnerin bei ihrer Argumentation zum Einspruchsgrund des Artikels 100 b) EPÜ auf das Dokument (7) gestützt. Dieses im Einspruchsverfahren nach Ablauf der Einspruchsfrist eingereichte Dokument wurde von der Einspruchsabteilung in Anwendung des Artikels 114(2) EPÜ nicht ins Verfahren zugelassen, mit der Begründung, das Dokument sei verspätet eingereicht und prima facie nicht relevanter als die bereits vorliegenden Dokumente (siehe Absatz 1a auf Seite 2 der angefochtenen Entscheidung).
3. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Dokument (7) nicht zuzulassen, ist von der Beschwerdegegnerin nicht angefochten worden. Die Kammer hat in ihrer Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK auf diesen Umstand hingewiesen und bemerkt, dass sie die Relevanz des Dokuments (7) für die im Beschwerdeverfahren zu entscheidenden Fragen nicht erkennen kann. Dazu äußerte sich die Beschwerdeführerin nicht. Stattdessen nahm sie ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück und blieb der mündlichen Verhandlung fern.
4. Die Kammer sieht daher keinen Grund für die Berücksichtigung des Dokuments (7) und entscheidet in Wahrnehmung ihrer Befugnis nach Artikel 12(4) VOBK, das Dokument (7) nicht ins Beschwerdeverfahren zuzulassen.
Anlage A
5. Bei der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anlage A ("Annex A") handelt es sich um eine wissenschaftliche Veröffentlichung aus dem Jahr 2003, die sich mit der Bindung von LRP und Faktor IXa an die A3-Domäne des Gerinnungsfaktors VIII befasst. Die Beschwerdeführerin reagiert mit diesem Dokument auf die Feststellung der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung, es sei nicht experimentell belegt, dass die beanspruchte Erfindung die technische Aufgabe löse. Der entsprechende Einwand wurde von der Einsprechenden erst wenige Wochen vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung erhoben und zum ersten Mal in der mündlichen Verhandlung diskutiert. Unter diesen Umständen kann dieses Dokument nicht als verspätet eingereicht angesehen werden.
6. Die von der Beschwerdegegnerin gegen die Berücksichtigung des Dokuments vorgetragenen Argumente vermögen die Kammer nicht zu überzeugen (siehe Absatz 35 unten). Die Kammer hält die in der Anlage A beschriebenen Versuchsergebnisse für relevant für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit und entscheidet deshalb, sie ins Verfahren zuzulassen.
Anlage B
7. Die ebenfalls mit der Beschwerdebegründung eingereichte Anlage B ("Factor VIII variants having reduced interaction with LRP") beschreibt einen Versuch, in dem Faktor VIII-Varianten mit verschiedenen Modifikationen, unter anderem auch solchen wie im Anspruch 1 definiert, auf Bindung mit LRP getestet werden.
8. Nach Meinung der Kammer erfüllt die Anlage B nicht die Mindestanforderungen, die die Beschwerdekammern an Versuchsberichte zur Glaubhaftmachung einer erfinderischen Tätigkeit stellen. Es ist aus der Anlage B nicht ersichtlich, von wem und wann die Versuche durchgeführt wurden. Die Bedingungen, unter denen die Versuche durchgeführt wurden, sind nicht hinreichend beschrieben. So wird beispielsweise das Ausmaß der Bindung der Faktor VIII-Varianten an LRP in willkürlich gewählten, nicht definierten Einheiten angegeben. Genaue Ergebnisse der LRP-Bindungsversuche können der Anlage nicht entnommen werden, weil die experimentellen Daten nur das Verhältnis zwischen LRP-Bindung und Faktor VIII-Aktivität liefern. Außerdem fehlen die Daten der erforderlichen Kontrollen.
9. Die Kammer hat aus diesen Gründen starke Zweifel an der Beweiskraft der Versuchsergebnisse in der Anlage B und entscheidet deshalb in Wahrnehmung ihrer Befugnis nach Artikel 12(4) VOBK, dieses Dokument nicht ins Verfahren zuzulassen.
Hauptantrag
Artikel 100 b) EPÜ - Ausreichende Offenbarung
10. Gegenstand des Anspruch 1 des Streitpatents in der erteilten Fassung ist ein humanes Faktor VIII-Polypeptid, charakterisiert durch (i) ein strukturelles Merkmal, nämlich eine Modifikation in einem oder mehreren der angegebenen Bereiche der Aminosäuresequenz der leichten Kette, und (ii) zwei funktionelle Merkmale, nämlich (a) das Polypeptid besitzt Faktor VIII:C-Aktivität (Gerinnungsaktivität) und (b) die Modifikation der Aminosäuresequenz verringert die Bindungsaffinität des Faktor VIII-Polypeptids zu LRP.
11. Es ist unstrittig, dass die Angaben im Streitpatent, auf die die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung hingewiesen hat, dem Fachmann die nötigen Mittel zum Auffinden eines modifizierten, verringerte Bindungsaffinität zu LRP aufweisenden humanen Faktor VIII-Polypeptids mit Faktor VIII:C-Aktivität an die Hand geben. Die zu entscheidende Frage ist jedoch, ob ein Fachmann mit diesen Mitteln ein solches Polypeptid ohne unzumutbaren Experimentieraufwand auffinden konnte. Diese Frage wurde von der Einspruchsabteilung verneint.
12. In Anspruch 1 werden acht verschiedene Bereiche der Aminosäuresequenz des Faktor VIII-Polypeptids für eine Modifikation vorgeschlagen. Diese Sequenzbereiche umfassen insgesamt 143 Aminosäuren. Gemäß Anspruch 1 kann es sich bei der Modifikation um eine Mutation oder Deletion einer oder mehrerer dieser Aminosäuren, oder um eine Insertion einer oder mehrerer (nicht spezifizierten) Aminosäuren in einem oder mehreren der Sequenzbereiche handeln. Kombiniert man die Anzahl der Aminosäuren mit der Anzahl möglicher Modifikationen, so wird in Anspruch 1 eine enorme Anzahl an möglichen Variationen des Faktor VIII-Polypeptids beschrieben.
13. Das Streitpatent offenbart kein einziges Beispiel für ein modifiziertes Faktor VIII-Polypeptid gemäß Anspruch 1. Aufgrund der aufgabenhaften Formulierung des Merkmals "... die Bindungsaffinität zu ... LRP verringert" ist der Fachmann daher gezwungen, durch Versuche herauszufinden, welche Variante(n) des Faktor VIII-Polypeptids diese Eigenschaft besitzen. Auch wenn dies - wie die Beschwerdeführerin argumentiert - durch Routineversuche herausgefunden werden kann, würde das Ausmaß der dafür nötigen Versuche aus Sicht der Kammer eindeutig den Rahmen des Zumutbaren sprengen. Wie von der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung bemerkt, handelt es sich bei der Lehre des Anspruchs 1, insbesondere im Hinblick auf das funktionelle Merkmal der verringerten Bindung an LRP, lediglich um eine Einladung zur Durchführung eines umfangreichen Forschungsprogramms.
14. Die Kammer kann dem Argument der Beschwerdeführerin, dass dieser Einwand nicht gerechtfertigt sei, weil die im Anspruch 1 angegebenen Sequenzbereiche nicht einmal 22% der gesamten Aminosäuresequenz der leichten Kette des Faktor VIII-Polypeptids ausmachen, nicht folgen. Es ist zwar richtig, dass die Erfinder die Sequenzbereiche des Faktor VIII-Polypeptids, deren Modifikation zu einer Verringerung der Bindungsaffinität zu LRP führen könnte, im Vergleich zur gesamten Sequenz eingegrenzt haben, dennoch reicht die Offenbarung im Streitpatent aus der Sicht der Kammer nicht aus, um den Fachmann zuverlässig und ohne unzumutbaren Experimentieraufwand zu den gewünschten Varianten des Faktor VIII-Polypeptids mit verringerter Bindungsaffinität zu LRP zu führen.
15. Aus diesen Gründen ist die Kammer der Auffassung, dass die negative Feststellung der Einspruchsabteilung zu Artikel 100 b) EPÜ nicht zu beanstanden ist. Der Hauptantrag ist daher nicht gewährbar.
Hilfsanträge I und II
Zulassung ins Verfahren - Artikel 13 VOBK
16. Der Hilfsantrag I (Ansprüche 1 bis 12, siehe Absatz VIII oben) wurde mit der Erwiderung der Beschwerdeführerin auf die Mitteilung der Kammer nach Artikel 15(1) VOBK eingereicht. Die Ansprüche 1 und 2 unterscheiden sich von den entsprechenden Ansprüchen des Hauptantrags durch die Streichung von vier bzw. einem der für die Modifikation vorgeschlagenen Sequenzbereiche des Faktors VIII-Polypeptids.
17. Die Ansprüche 1 bis 11 gemäß Hilfsantrag II (siehe Absatz XI oben) wurden nach der Diskussion der höherrangigen Anträge in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht. In den geänderten Ansprüchen 1 und 2 werden nunmehr zwei Sequenzbereiche bzw. ein Bereich für die Modifikation vorgeschlagen. In dem geänderten Anspruch 9 werden die Merkmale der Ansprüche 9 und 10 des Streitpatents in der erteilten Fassung kombiniert.
18. Die in den Hilfsanträgen I und II vorgenommenen Änderungen erhöhen nicht die Komplexität des Vorbringens und werfen keine Fragen auf, die eine Verlegung der mündlichen Verhandlung erforderlich gemacht hätten. Obwohl die geänderten Ansprüche in einem sehr späten Stadium des Beschwerdeverfahrens eingereicht wurden, entscheidet die Kammer in Wahrnehmung ihrer Befugnis nach Artikel 13(1) VOBK, die geänderten Ansprüche ins Verfahren zuzulassen.
Hilfsantrag I
Artikel 83 EPÜ - Ausreichende Offenbarung
19. Durch die Einschränkung auf vier Sequenzbereiche verringert sich die Anzahl der Aminosäuren, die gemäß Anspruch 1 für eine Modifikation in Betracht kommen, auf 113. Die Kammer ist dennoch der Ansicht, dass auch hier das Ausmaß der Versuche, die zum Auffinden einer Variante des Faktor VIII-Polypeptids mit verringerter Bindungsaffinität zu LRP benötigt werden, das zumutbare Maß überschreitet. Die Ausführungen in Bezug auf Anspruch 1 des Hauptantrags in den vorigen Absätzen 12 bis 14 gelten entsprechend.
20. Da die Voraussetzungen des Artikels 83 EPÜ nach Meinung der Kammer nicht erfüllt sind, kann das Streitpatent nicht auf der Grundlage der geänderten Ansprüche gemäß Hilfsantrag I aufrechterhalten werden.
Hilfsantrag II
Artikel 123(2)(3) und 84 EPÜ
21. Im geänderten Anspruch 1 werden nur zwei Sequenzbereiche des Faktor VIII-Polypeptids für eine Modifikation vorgeschlagen (AS 1784 (Ser) bis 1831 (Asp) und AS 2108 (Asp) bis 2118 (Asn)). Gemäß Anspruch 2 weist das beanspruchte Faktor VIII-Polypeptid eine Modifikation in dem Sequenzbereich zwischen AS 2108 (Asp) und 2118 (Asn).
22. Im Einspruchsverfahren hat die Einsprechende (jetzt Beschwerdegegnerin) argumentiert, das Merkmal "zwischen AS 1784 (Ser) und 1831 (Asp)" habe keine Grundlage in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung. Die gegenteilige Feststellung der Einspruchsabteilung wurde im Beschwerdeverfahren nicht angefochten und die Kammer hat keine Veranlassung, die Feststellung von sich aus in Frage zu stellen.
23. Wie oben ausgeführt ergeben sich die Merkmale des geänderten Anspruchs 9 aus der Kombination der Merkmale der Ansprüche 9 und 10 des Streitpatents in der erteilten Fassung. Gegen diese Ansprüche wurde weder im Einspruchs- noch im Beschwerdeverfahren ein Einwand nach Artikel 123(2) EPÜ erhoben und die Kammer sieht zu einem solchen Einwand keine Veranlassung.
24. Da durch die vorgenommenen Änderungen der Schutzbereich des Streitpatents eingeschränkt wurde, liegt ein Verstoß gegen Artikel 123(3) EPÜ nicht vor. Klarheitsmängel (Artikel 84 EPÜ) sind nicht ersichtlich.
Artikel 83 EPÜ
25. In dem geänderten Anspruch 1 sind die für die Modifikation vorgeschlagenen Sequenzbereiche des Faktor VIII-Polypeptids erheblich eingeschränkt. Wegen der im Vergleich zu den höherrangigen Anträgen deutlich geringeren Anzahl der Aminosäuren, die gemäß Anspruch 1 für eine Modifikation in Betracht kommen, bestehen seitens der Kammer bezüglich des Experimentieraufwands zum Auffinden eines wie im Anspruch 1 vorgeschlagen modifizierten Faktor VIII-Polypeptids mit verringerter Bindungsaffinität zu LRP keine Bedenken mehr. Die Kammer ist vielmehr überzeugt, dass der Fachmann anhand der Angaben in der Anmeldung mit vertretbarem Experimentieraufwand in der Lage war, die Erfindung gemäß Anspruch 1 auszuführen.
26. In der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung hat die Beschwerdegegnerin Argumente bezüglich der im Streitpatent beschriebenen Mutanten in der C2-Domäne des Faktor VIII-Polypeptids vorgebracht. Mit ihren Argumenten versuchte die Beschwerdegegnerin die im Streitpatent aufgestellte Hypothese, dass die Bindung des Faktor VIII-Polypeptids an LRP über eine der an der Oberfläche exponierten Exosites erfolgt, anzugreifen. Aus Sicht der Kammer sind diese Argumente für den vorliegenden Hilfsantrag II irrelevant. Modifikationen in der C2-Domäne sind vom Gegenstand des Anspruchs 1 nicht umfasst und die Tatsache, dass auch Modifikationen in der C2-Domäne wie im Beispiel XI des Patents beschrieben zu einer Verringerung der Bindungsaffinität zu LRP führen können, ist für die Lehre des Streitpatents in der geänderten Fassung gemäß Hilfsantrag II unerheblich.
27. Die Kammer stellt fest, dass die Voraussetzungen des Artikels 83 EPÜ erfüllt sind.
Artikel 87 EPÜ - Priorität
28. Die Feststellung der Einspruchsabteilung, dass die für das Patent in Anspruch genommene Priorität wirksam ist, wurde von der Beschwerdegegnerin nicht angefochten und ihre auf die Entgegenhaltung (3) gestützten Einwände wurden nicht weiterverfolgt. Da die Begründung der Einspruchsabteilung für die Feststellung über die Wirksamkeit der Priorität schlüssig ist, hat die Kammer keine Veranlassung, die Richtigkeit der Feststellung anzuzweifeln.
Artikel 54 EPÜ - Neuheit
29. Die Auffassung der Einspruchsabteilung, der Gegenstand der Ansprüche des Streitpatents in der erteilten Fassung sei gegenüber dem in der Entgegenhaltung (1) beschriebenen modifizierten Faktor VIII-Polypeptid neu, weil es sich bei diesem nicht um ein humanes Faktor VIII-Polypeptid handelt, wird von der Kammer in Bezug auf die geänderten Ansprüche geteilt. Auch die im vorliegenden Anspruch 1 für eine Modifikation vorgeschlagenen Sequenzbereiche sind in der Entgegenhaltung (1) nicht beschrieben.
30. Die Beschwerdegegnerin verwies in ihrer Argumentation zur Neuheit auf die Angaben in den Absätzen [0030] und [0053] des Streitpatents, die ihrer Meinung nach eine enge Auslegung der Ansprüche sowohl in Bezug auf die modifizierten Sequenzbereiche als auch auf die Herkunft des Polypeptids in Frage stellen. Die Kammer bemerkt, dass diese Angaben im Streitpatent tatsächlich im Widerspruch sowohl zum Wortlaut des Anspruchs 1 als auch zu anderen Angaben in der Patentbeschreibung stehen. Obwohl Anspruch 1 auf ein Faktor VIII-Polypeptid mit einer Modifikation in einem oder beiden der angegebenen Sequenzbereiche beschränkt ist, die sich in der A3- bzw. C1-Domäne des Faktor VIII-Polypeptids befinden, werden im Absatz [0030] Modifikationen in den A3- und C1-Domänen nur als "bevorzugt" bezeichnet. Im Absatz [0053] des Streitpatents wird ausgeführt, dass die Faktor VIII-cDNA, die als Ausgangsmaterial für die Konstruktion des erfindungsgemäß modifizierten Faktor VIII-Polypeptids verwendet wird, aus jeder Säuger-Spezies stammen kann; als bevorzugte Spezies werden neben dem Menschen auch Schwein oder Rind genannt.
31. Die festgestellten widersprüchlichen Angaben in der Patentbeschreibung rühren anscheinend von einer fehlerhaften Beschreibungsanpassung her. Allein auf der Grundlage dieser offensichtlichen Mängel der Beschreibung erscheint der Kammer eine breitere Auslegung des an sich klaren Wortlauts des Anspruchs 1 nicht gerechtfertigt. Diese Mängel müssen jedoch bei der noch durchzuführenden Anpassung der Beschreibung behoben werden.
32. Der Gegenstand der Ansprüche des Streitpatents in der geänderten Fassung gemäß Hilfsantrag II wird als neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ angesehen.
Artikel 56 EPÜ - Erfinderische Tätigkeit
33. In der angefochtenen Entscheidung wurde die Entgegenhaltung (2) als nächstliegender Stand der Technik angesehen. Diese Entgegenhaltung, die bereits in der dem Streitpatent zugrundeliegenden Patentanmeldung als Stand der Technik erwähnt wurde, befasst sich mit der Aufnahme von Fragmenten des proteolitisch aktivierten Faktor VIII-Polypeptids in die Zelle bzw. mit deren Abbau. Der A2-Domäne des Faktor VIII-Polypeptids wird eine wichtige Rolle bei der Regulation seiner gerinnungsfördernden Aktivität zugeschrieben. In Versuchen mit Zellen, die LRP exprimieren bzw. nicht exprimieren, zeigten sich deutliche Unterschiede bei der Aufnahme und Abbau der A2-Domäne, während bei den A1- oder A3C1C2-Domänen keine Unterschiede festzustellen waren. Die Autoren schlagen dennoch vor, dass die Deletion der A1- oder A3C1C2-Domänen auch zur Regulation der Faktor VIII-Aktivität beitragen könnte.
34. Die Einspruchsabteilung formulierte die ausgehend von dieser Entgegenhaltung zu lösende Aufgabe als "... (i) andere Domänen des humanen Faktors VIII aufzufinden die geeignet sind durch entsprechende Modifikationen (Mutationen, Deletionen oder Insertionen) eine Verringerung der Affinität zu LRP zu bewirken und auf Basis der unter (i) gewonnenen Information (ii) ein modifiziertes humanes Faktor VIII Polypeptid mit Faktor VIII:C Aktivität bereitzustellen welches gegenüber dem Wildtyp eine längerer Halbwertszeit und/oder erhöhte Stabilität aufweist und somit für die Verwendung zur Behandlung von Gerinnungsstörungen geeignet ist." (siehe Seite 5, erster vollständiger Absatz der angefochtenen Entscheidung). Diese Formulierung der Aufgabe ist auch in dem letzten Absatz auf Seite 6 und dem ersten auf Seite 7 der Anmeldung zu finden.
35. Die Einspruchsabteilung befand, dass dieses Problem durch den im Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung vorgeschlagenen Gegenstand nicht glaubhaft gelöst wurde, weil sämtliche experimentellen Daten im Streitpatent sich auf Mutationen außerhalb der im Anspruch angegebenen Sequenzbereiche beziehen.
36. Die Beschwerdeführerin hat im Beschwerdeverfahren die Ansprüche auf Modifikationen in zwei Sequenzbereichen des Faktor VIII-Polypeptids eingeschränkt und mit der Anlage A nachgewiesen, dass die zu lösende Aufgabe von dem Gegenstand der Ansprüche tatsächlich gelöst wird. In der als Anlage A eingereichten wissenschaftlichen Veröffentlichung wird beschrieben, dass eine Modifikation der Aminosäuren 1811-1818 in der A3-Domäne des Faktor VIII-Polypeptids die Wechselwirkung des modifizierten Polypeptids mit LRP stark verringert (siehe Seite 9375, linke Spalte, erster vollständiger Absatz).
37. Die Meinung der Beschwerdegegnerin, das nach dem Anmeldetag veröffentlichte Dokument in der Anlage A könne zur Glaubhaftmachung der erfolgreichen Lösung der technischen Aufgabe nicht verwendet werden, wird von der Kammer nicht geteilt. Gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern werden nach dem Anmeldetag veröffentlichte Dokumente, die beweisen, dass der beanspruchte Gegenstand die gewünschte Wirkung erzielt und daher die Aufgabe löst, dann berücksichtigt, wenn angesichts der Offenbarung im Patent bereits glaubhaft erscheint, dass die Aufgabe tatsächlich gelöst wird (siehe unter anderem Entscheidungen T 433/05 vom 14. Juni 2007 und T 778/08 vom 7. Dezember 2010). Im vorliegenden Fall enthält das Streitpatent zwar keinen experimentellen Nachweis, dass eine Modifikation in einem oder beiden der angegebenen Bereiche der leichten Kette des Faktor VIII-Polypeptids die Bindungsaffinität zu LRP verringert, es bestehen jedoch angesichts der Angaben im Streitpatent keine objektiv begründeten Zweifel, dass die beanspruchte Erfindung die gestellte Aufgabe löst. Der eindeutige Beweis für die Erzielung der Wirkung ist keine Voraussetzung für die Plausibilität der Wirkung der vorgeschlagenen Modifikationen.
38. Die Kammer teilt die Auffassung der Einspruchsabteilung, dass sich der Gegenstand des Patents für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Der Fachmann hatte keine Veranlassung, die im Anspruch 1 genannten Sequenzbereiche auszuwählen, mit dem Ziel, durch geeignete Modifikationen innerhalb dieser Bereiche ein Faktor VIII-Polypeptid mit Faktor VIII:C-Aktivität und verbesserter Halbwertzeit und/oder Stabilität herzustellen (siehe erster vollständiger Absatz auf Seite 6 der angefochtenen Entscheidung).
39. Aus diesen Gründen kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand der geänderten Ansprüche gemäß Hilfsantrag II auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
Artikel 113(1) EPÜ - Rechtliches Gehör
40. In der Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK wies die Kammer auf strittige Punkte hin, die in der mündlichen Verhandlung diskutiert werden sollten, und teilte den Beteiligten ihre vorläufige Meinung zu einiger dieser Punkte mit. In Erwiderung auf die Mitteilung reichte die Beschwerdeführerin mehrere Hilfsanträge ein. Die Beschwerdegegnerin erwiderte nicht auf die Mitteilung der Kammer, zog ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück und nahm an derselben nicht teil.
41. Der Anspruchssatz, auf dessen Grundlage die Aufrechterhaltung des Patents in beschränkter Form von der Kammer angeordnet wird, wurde in der mündlichen Verhandlung eingereicht. Die Ansprüche sind mit denen des mit der Erwiderung auf die Mitteilung der Kammer eingereichten Hilfsantrags II nahezu identisch. Die Gelegenheit, entweder schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung zu diesem Antrag Stellung zu nehmen, hat die Beschwerdegegnerin nicht wahrgenommen. Der vorliegende und der frühere Hilfsantrag II unterscheiden sich einzig durch den geänderten abhängigen Anspruch 9, in dem die Merkmale der früheren Ansprüche 9 und 10 kombiniert wurden. Diese Ansprüche sind jedoch weder im Einspruchs- noch im Beschwerdeverfahren von der Beschwerdegegnerin angegriffen worden.
42. Der Beschwerdegegnerin wurde daher rechtliches Gehör im Sinne des Artikels 113(1) EPÜ gewährt.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen, mit der Anordnung, das Patent auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 11 des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags II und einer noch daran anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.