G 0002/21 (Stützung auf eine behauptete technische Wirkung zum Nachweis erfinderischer Tätigkeit (Plausibilität)) 23-03-2023
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I. Beweismittel, die von einem Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis einer technischen Wirkung vorgelegt werden und auf die er sich für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands beruft, dürfen nicht allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben, dass diese Beweismittel, auf denen die Wirkung beruht, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden.
II. Ein Patentanmelder oder -inhaber kann sich zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit auf eine technische Wirkung berufen, wenn der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen und auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung schlussfolgern würde, dass diese Wirkung von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wird.
Zulässigkeit der Vorlagen - bejaht
Neuformulierung der Vorlagefragen - verneint
Erweiterung der Vorlagefragen - verneint
Grundsatz der freien Beweiswürdigung - Ausnahme vom Grundsatz erforderlich - verneint
Erfinderische Tätigkeit - Stützung auf technische Wirkung" - bejaht, auf Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung
Inhaltsverzeichnis
Vorgelegte Rechtsfragen
Streitpatent
Beschwerdeverfahren
Verlauf des Verfahrens vor der Großen Beschwerdekammer
Zusammenfassung der wichtigsten im Verfahren vorgebrachten Argumente
Entscheidungsgründe
Umfang und Schwerpunkt der Vorlage
Zulässigkeit der Vorlage
Vorüberlegungen
Grundsatz der freien Beweiswürdigung
Bisherige Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer
Beweiswürdigung vor den Beschwerdekammern
Grundsatz der freien Beweiswürdigung in den Vertragsstaaten
Zwischenergebnis
Rechtsprechung betreffend die Stützung auf eine technische Wirkung zum Nachweis erfinderischer Tätigkeit
Zwischenergebnis
Überlegungen betreffend die Rechtsprechung zur ausreichenden Offenbarung
Zwischenergebnis
Nationaler Rechtsrahmen und nationale Rechtsprechung betreffend die Stützung auf eine technische Wirkung zum Nachweis erfinderischer Tätigkeit
Zwischenergebnis
Abschließende Überlegungen
Sachverhalt und Anträge
Vorgelegte Rechtsfragen
I. Mit ihrer Zwischenentscheidung T 116/18 vom 11. Oktober 2021 (nachstehend "Vorlageentscheidung") befasste die Technische Beschwerdekammer 3.3.02 (nachstehend "vorlegende Kammer") auf der Grundlage von Artikel 112 (1) a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 22 VOBK 2020 die Große Beschwerdekammer mit folgenden Rechtsfragen:
Wenn sich der Patentinhaber für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit auf eine technische Wirkung beruft und Beweismittel, z. B. Versuchsdaten, zum Nachweis dieser Wirkung vorgelegt hat, die vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden (nachveröffentlichte Beweismittel):
1. Ist dann eine Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung (siehe z. B. G 3/97, Nr. 5 der Entscheidungsgründe und G 1/12, Nr. 31 der Entscheidungsgründe) dahin gehend zuzulassen, dass nachveröffentlichte Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, weil der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht?
2. Falls Frage 1 bejaht wird (und die nachveröffentlichten Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, wenn der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht), können die nachveröffentlichten Beweismittel dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen die Wirkung für plausibel erachtet hätte (Ab-initio-Plausibilität)?
3. Falls Frage 1 bejaht wird (und die nachveröffentlichten Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, wenn der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht), können die nachveröffentlichten Beweismittel dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen keinen Grund gesehen hätte, die Wirkung für unplausibel zu erachten (Ab-initio-Unplausibilität)?
Streitpatent
II. Das europäische Patent Nr. 2 484 209 (nachstehend "das Patent") betrifft Insektizidzusammensetzungen und geht auf die europäische Patentanmeldung Nr. 12 002 626.5 zurück, eine Teilanmeldung zu der europäischen Patentanmeldung Nr. 05 719 327.8.
III. Das Patent umfasst in der erteilten Fassung zwei Anspruchssätze für verschiedene Vertragsstaaten, und zwar einen Anspruchssatz a für die Vertragsstaaten IS und LT und einen Anspruchssatz b für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, DE, DK, ES, FR, GB, GR, IT, LI, LU, MC, NL und SE. Der jeweilige Anspruch 1 ist auf eine Insektizidzusammensetzung gerichtet, und die beiden Anspruchssätze unterscheiden sich dadurch, dass Anspruch 1 b) zusätzlich zu Anspruch 1 a) noch einen Disclaimer für bestimmte Verbindungen enthält. Beide Anspruchssätze enthalten auch Verfahrensansprüche zur Bekämpfung von Schädlingsinsekten.
Beschwerdeverfahren
IV. Der Einspruch gegen das Patent war auf alle Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) bis c) EPÜ gestützt worden: mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit, unzureichende Offenbarung und Erweiterung des Gegenstands.
V. Die Einsprechende legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, den Einspruch nach Artikel 101 (2) EPÜ zurückzuweisen.
VI. Die Große Beschwerdekammer weist auf folgende Punkte aus der Vorlageentscheidung hin:
(1) Der vorlegenden Kammer zufolge (Nrn. 2.1 bis 2.3 der Gründe der Vorlageentscheidung) wird im Patent (Absätze [0002] bis [0004]) mit Verweis auf vorveröffentlichte Patentdokumente anerkannt, dass sowohl Thiamethoxam als auch die Verbindungen der beanspruchten Formel I a vor dem Prioritätstag des Patents für ihre insektizide Wirkung bekannt waren. Laut dem Patent (Absatz [0008]) haben die Erfinder festgestellt, dass Mischungen von Thiamethoxam und Verbindungen der beanspruchten Formel I a eine stärkere insektizide Wirksamkeit entfalten können, als ausgehend von der jeweiligen Wirksamkeit der Einzelkomponenten zu erwarten wäre. Dies bedeutet, dass laut dem Patent eine Insektizidzusammensetzung gemäß Anspruch 1 mehr als eine additive, nämlich eine synergistische Wirkung erzielen kann. Zur Klarstellung, ob eine bestimmte Kombination von Insektiziden synergistisch wirkt, werden im Patent zunächst die Wirksamkeiten der einzelnen Insektizide in Form der Sterberate bestimmt, d. h. in Form des prozentualen Anteils toter Insekten, der zu beobachten ist, wenn eine bestimmte Zahl von Insekten über einen bestimmten Zeitraum einer bestimmten Menge von Insektizid ausgesetzt wird. Aus diesen einzelnen Wirksamkeiten wird dann anhand der Colby-Formel eine für den gemeinsamen Einsatz beider Insektizide zu erwartende Wirksamkeit errechnet. Der Wert dieser zu erwartenden Wirksamkeit entspricht einer rein additiven Wirkung beider Insektizide. Liegt die tatsächlich festgestellte Wirksamkeit der Kombination beider Insektizide über diesem zu erwartenden Wert, so wirken die Insektizide synergistisch zusammen. Liegt sie unter diesem Wert, so wirken die Insektizide der Kombination antagonistisch. Diese Herangehensweise bei der Ermittlung des Vorhandenseins/der Abwesenheit von Synergien war unter den Beteiligten unstreitig. Das Patent (Absatz [0058]) umfasst eine Liste von Beispielen für Schädlingsinsekten, die sich mittels der vorgenannten Zusammensetzungen bekämpfen lassen. Unter den genannten Schädlingsinsekten sind Spodoptera litura, Plutella xylostella und Chilo suppressalis.
(2) Die vorlegende Kammer erkannte die ausreichende Offenbarung der beanspruchten Erfindung an. Sie befand, dass die Frage, ob eine Synergie erzielt worden sei, nicht nach Artikel 100 b) EPÜ zu beurteilen sei, sondern vielmehr nach den Artikeln 100 a) und 56 EPÜ (Nr. 9 der Gründe der Vorlageentscheidung).
(3) Im Hinblick auf den Einspruchsgrund gemäß den Artikeln 100 a) und 54 EPÜ befand die vorlegende Kammer, dass keine der Vorveröffentlichungen, auf die sich die Einsprechende für ihren Neuheitseinwand gegen den beanspruchten Gegenstand stützte, der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehe (Nr. 10 der Gründe der Vorlageentscheidung).
(4) Bezüglich des Einspruchsgrunds gemäß den Artikeln 100 a) und 56 EPÜ schlussfolgerte die vorlegende Kammer (Nrn. 11 und 12 der Gründe der Vorlageentscheidung), dass die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Patentgegenstands davon abhänge, ob Beweismittel, die vor dem Anmeldetag des Patents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden, angesichts der sogenannten Plausibilitätsrechtsprechung berücksichtigt werden könnten.
Die Patentinhaberin berief sich hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit unter anderem auf das nachveröffentlichte Beweismittel D21 (Testdaten), das eine synergistische Wirkung stütze. Da die beiden Beteiligten in Bezug auf die Anwendbarkeit der sogenannten Plausibilitätsrechtsprechung unterschiedliche Standpunkte vertraten, formulierten sie entsprechend gegensätzliche Anträge dazu, ob das nachveröffentlichte Beweismittel D21 berücksichtigt werden sollte.
Im Zusammenhang mit der erfinderischen Tätigkeit zog auch die Einsprechende ein nachveröffentlichtes Beweismittel an, nämlich D23 (Testdaten), das die vorlegende Kammer aus verfahrensrechtlichen Gründen zum Verfahren zuließ (Nrn. 3 bis 6 der Gründe der Vorlageentscheidung).
Die vorlegende Kammer kam zu dem Schluss, dass der Hauptantrag der Patentinhaberin nicht gewährbar sei, wenn nur die Daten aus dem Patent und D23 berücksichtigt würden. Wäre hingegen auch D21 zu berücksichtigen, so sei er gewährbar, weil die nachveröffentlichten Versuchsdaten aus D21 der einzige, aber wesentliche Beleg für die behauptete synergistische Wirkung seien (Nr. 12.6 der Gründe der Vorlageentscheidung).
(5) In Nummer 13 der Gründe der Vorlageentscheidung erklärt die vorlegende Kammer, dass keine verfahrenstechnischen Gründe gegen die Berücksichtigung des nachveröffentlichten Beweismittels D21 sprächen und es somit Bestandteil des Verfahrens sei, und erörtert drei voneinander abweichende Rechtsprechungslinien der Beschwerdekammern bezüglich der Voraussetzungen, unter denen Beweismittel aus materiellrechtlichen Gründen berücksichtigt bzw. nicht berücksichtigt werden können, je nachdem wie plausibel die technische Wirkung ausgehend von den als Nachweis vorgelegten Beweismitteln ist.
(6) Die vorlegende Kammer sah eine erste Rechtsprechungslinie (Nr. 13.4 der Gründe der Vorlageentscheidung), wonach nachveröffentlichte Beweismittel nur dann berücksichtigt werden dürften, wenn der Fachmann angesichts der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens am Anmeldetag Grund zu der Annahme gehabt hätte, dass die behauptete Wirkung erzielt wird (Typ I, von der vorlegenden Kammer als "Ab-initio-Plausibilität" bezeichnet). Nach dieser Rechtsprechungslinie, für die die vorlegende Kammer die Entscheidungen T 1329/04 (Nr. 10 der Entscheidungsgründe), T 609/02 (Nrn. 5 bis 9 der Entscheidungsgründe), T 488/16 (Nrn. 4.2, 4.5 und 4.19 der Entscheidungsgründe), T 415/11 (Nrn. 45 bis 55 der Entscheidungsgründe), T 1791/11 (Nrn. 3.2.5 bis 3.2.7 der Entscheidungsgründe) und T 895/13 (Nrn. 15 bis 17 der Entscheidungsgründe) diskutierte, sind zumeist Versuchsdaten oder eine wissenschaftliche Erklärung in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung die Gründe, die diese Annahme rechtfertigen.
(7) Die vorlegende Kammer erörterte eine zweite Rechtsprechungslinie, wonach nachveröffentlichte Beweismittel stets zu berücksichtigen sind, wenn die angebliche technische Wirkung nicht unplausibel ist (Typ II, von der vorlegenden Kammer als "Ab-initio-Unplausibilität" bezeichnet, Nr. 13.5 der Gründe der Vorlageentscheidung). Nach dieser Rechtsprechungslinie dürfen nachveröffentlichte Beweismittel nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn der Fachmann berechtigte Gründe gehabt hätte zu bezweifeln, dass sich die behauptete technische Wirkung am Anmeldetag des Patents erzielen ließ. Solche Zweifel können z. B. aufkommen, wenn die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung oder das allgemeine Fachwissen am Anmeldetag des Patents einen Hinweis enthält, dass sich die behauptete technische Wirkung tatsächlich nicht erzielen lässt. In diesem Zusammenhang erwähnt die vorlegende Kammer die Entscheidungen T 919/15 (Nr. 5.6 der Entscheidungsgründe), T 578/16 (Nrn. 13 bis 15 der Entscheidungsgründe), T 536/07 (Nr. 11 der Entscheidungsgründe), T 1437/07 (Nr. 38.1 der Entscheidungsgründe), T 266/10 (Nr. 37 der Entscheidungsgründe), T 863/12 (Nr. 7.3.3 der Entscheidungsgründe), T 184/16 (Nrn. 2.4 bis 2.7 der Entscheidungsgründe) und T 2015/20 (Nr. 2.7 der Entscheidungsgründe).
(8) Schließlich erörterte die vorlegende Kammer eine dritte Rechtsprechungslinie, die das sogenannte Plausibilitätskonzept gänzlich abzulehnen scheint (Typ III, von der vorlegenden Kammer als "Plausibilitätsablehnung" bezeichnet, Nr. 13.6 der Gründe der Vorlageentscheidung), und diskutierte in diesem Zusammenhang die Entscheidungen T 31/18 (Nr. 2.5.2 der Entscheidungsgründe) und T 2371/13 (Nr. 6.1.2 der Entscheidungsgründe).
(9) Die vorlegende Kammer fährt fort mit weiteren Überlegungen zu den Folgen einer strikten Anwendung der Rechtsprechung des Typs I oder Typs III (Nr. 13.7.1 der Gründe der Vorlageentscheidung) und zu den Beschränkungen der Rechtsprechung des Typs I und Typs II in Fällen, in denen eine Wirkung gegenüber einem Dokument des Stands der Technik nachgewiesen werden muss, das der Anmelder bzw. Patentinhaber nicht in Betracht gezogen hat oder möglicherweise nicht in Betracht ziehen konnte (Nr. 13.7.2 der Gründe der Vorlageentscheidung). Abschließend erörtert sie ein weiteres Spannungsfeld zwischen diesen beiden Rechtsprechungstypen auf der einen Seite und dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf der anderen (Nrn. 13.7.3 und 13.7.4 der Gründe der Vorlageentscheidung).
(10) Zu den Vorlagefragen erklärt die vorlegende Kammer (Nr. 14 der Gründe der Vorlageentscheidung), dass eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer erforderlich ist, und zwar zum einen, um eine einheitliche Rechtsanwendung zu sichern, und zum anderen, weil sich Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung stellen. Die drei der Großen Beschwerdekammer zur Entscheidung vorgelegten Fragen beziehen sich auf die drei vorstehend erläuterten Rechtsprechungslinien. Die Beantwortung der Fragen ist für den vorliegenden Fall entscheidend, weil davon abhängt, ob das nachveröffentlichte Beweismittel D21 berücksichtigt werden kann, und weil D21, sollte es berücksichtigt werden, wie vorstehend dargelegt, für die abschließende Entscheidung über die erfinderische Tätigkeit relevant ist.
Verlauf des Verfahrens vor der Großen Beschwerdekammer
VII. Die am Beschwerdeverfahren Beteiligten sind nach Artikel 112 (2) EPÜ an diesem Verfahren beteiligt. Die Große Beschwerdekammer forderte die Patentinhaberin und die Einsprechende auf, sich zu den der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen schriftlich zu äußern.
VIII. Gemäß Artikel 9 Satz 1 VOGBK forderte die Große Beschwerdekammer auch den Präsidenten des Europäischen Patentamts (nachstehend "Präsident des EPA") auf, sich zu den Rechtsfragen schriftlich zu äußern. Seine Äußerungen gingen am 22. April 2022 ein. Die Patentinhaberin und die Einsprechende erhielten gemäß Artikel 9 Satz 2 VOGBK die Gelegenheit, zu diesen Äußerungen Stellung zu nehmen. Die Einsprechende reichte mit Schreiben vom 30. September 2022 eine Erwiderung ein.
IX. Die schriftliche Äußerung der Einsprechenden ging am 29. April 2022 ein.
X. Mit einer im Amtsblatt des EPA (ABl. EPA 2021, A102) veröffentlichten Mitteilung gab die Große Beschwerdekammer Dritten Gelegenheit, schriftliche Stellungnahmen nach Artikel 10 VOGBK einzureichen, woraufhin 20 Amicus-curiae-Schriftsätze und eine Einwendung eines Dritten eingingen:
(1) F. Carlsson, 10. Dezember 2021
(2) H.-R. Jaenichen, 11. Januar 2022
(3) R. Kiebooms, 12. Januar 2022 (als Einwendung Dritter eingereicht)
(4) Beiersdorf AG, 2. März 2022
(5) E. Wunder, 17. März 2022
(6) P. H. van Deursen, 22. März 2022
(7) Internationale Föderation von Patentanwälten (FICPI), 19. April 2022
(8) BAYER AG, 20. April 2022
(9) Institut der beim EPA zugelassenen Vertreter (epi), 22. April 2022
(10) European Patent Litigators Association (EPLIT), 26. April 2022
(11) P. de Lange, 28. April 2022
(12) Internationale Vereinigung für den Schutz des Geistigen Eigentums (AIPPI), 28. April 2022
(13) Medicines for Europe, 29. April 2022
(14) Patentanwaltskammer, 29. April 2022
(15) UK BioIndustry Association (BiA), 29. April 2022
(16) Fresenius Kabi Deutschland GmbH, 29. April 2022
(17) Compagnie Nationale des Conseils en Propriété Industrielle (CNCPI), 29. April 2022
(18) Europäischer Dachverband der pharmazeutischen Industrie (EFPIA), 29. April 2022
(19) BASF SE, 29. April 2022
(20) IP Federation, 29. April 2022
(21) Chartered Institute of Patent Attorneys (CIPA), 29. April 2022
XI. In Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung erließ die Große Beschwerdekammer am 13. Oktober 2022 eine Mitteilung nach den Artikeln 13 und 14 (2) VOGBK. Mit dieser Mitteilung sollten die Beteiligten auf potenziell bedeutsame rechtliche Aspekte im Zusammenhang mit den Vorlagefragen aufmerksam gemacht werden und Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
XII. Die Patentinhaberin und die Einsprechende reagierten auf die Mitteilung der Großen Beschwerdekammer mit Schreiben vom 10. November 2022 bzw. 8. November 2022. Weitere Einwendungen Dritter gingen ein von Medicines for Europe, Fresenius Kabi Deutschland GmbH sowie in anonymisierter Form.
XIII. Am 24. November 2022 fand die mündliche Verhandlung vor der Großen Beschwerdekammer in Anwesenheit der Patentinhaberin und der Einsprechenden sowie des Präsidenten des EPA statt.
XIV. Am Ende der mündlichen Verhandlung kündigte der Vorsitzende an, dass die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer schriftlich ergehen werde.
Zusammenfassung der wichtigsten im Verfahren vorgebrachten Argumente
Zulässigkeit der Vorlage
XV. Die Patentinhaberin, die Einsprechende, der Präsident des EPA und die meisten Dritten erachteten die Vorlage entweder ausdrücklich oder implizit für zulässig.
BAYER AG und epi brachten vor, die Vorlage müsse für unzulässig erachtet werden, weil der Ausgang der Beschwerdesache nicht von den Vorlagefragen abhänge. Laut BAYER AG dürften die Antworten angesichts des Gebots der Gleichbehandlung der Beteiligten keine Auswirkungen auf den Ausgang haben. Nachveröffentlichte Beweismittel könnten basierend auf dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung berücksichtigt werden oder auch nicht. Wenn also der Einsprechenden gestattet werde, nachprüfbare Tatsachen zur Begründung von Zweifeln einzureichen, müsse der Patentinhaberin genauso gestattet werden, nachprüfbare Tatsachen zur Begründung der in der Anmeldung glaubhaft gemachten Wirkung einzureichen. So oder so würde dies für den vor der vorlegenden Kammer anhängigen Fall bedeuten, dass der Gegenstand der Ansprüche als erfinderisch zu betrachten sei. Nach Meinung des epi müsse das Dokument D21 von der vorlegenden Kammer gemäß dem Typ-1-Ansatz berücksichtigt werden; es gebe keine Divergenz in der Rechtsprechung.
Allgemeine Aspekte
XVI. Die Patentinhaberin entnahm der Rechtsprechung der Beschwerdekammern im Allgemeinen und den Ausführungen im der Vorlageentscheidung zugrunde liegenden konkreten Fall, dass es zwei verschiedene Maßstäbe gebe.
Der erste Maßstab betreffe die Anerkennung einer technischen Wirkung, d. h. die Frage, ob die behauptete technische Wirkung über den gesamten Schutzbereich des Anspruchs erzielt wird. Die Patentinhaberin verwies diesbezüglich auf die Entscheidung T 939/92 (Nr. 2.6 der Entscheidungsgründe), wonach eine technische Wirkung nur dann berücksichtigt werde, wenn glaubhaft sei, dass im Wesentlichen alle beanspruchten Ausführungsarten diese technische Wirkung aufweisen. Wenn dieses Erfordernis erfüllt sei, werde die technische Wirkung für die Bestimmung einer objektiven technischen Aufgabe berücksichtigt.
Der zweite Maßstab sehe vor, dass ein nachveröffentlichtes Dokument, das eine technische Wirkung belegt, berücksichtigt werden kann. Hierfür verwies die Patentinhaberin auf die Entscheidung T 1329/04 (Nr. 11 der Entscheidungsgründe), wonach ein solches Dokument nur dann berücksichtigt werden könne, wenn zumindest glaubhaft sei, dass für die angeblich gelöste Aufgabe auch tatsächlich eine Lösung gefunden worden sei. Treffe dies zu, könne sich der Anmelder oder Patentinhaber auf ein nachveröffentlichtes Dokument berufen, um zu belegen, dass die technische Wirkung über den gesamten Schutzbereich des Anspruchs erzielt worden sei.
XVII. Die Einsprechende brachte vor, dass die Vorlagefrage 1 sowohl materiellrechtliche als auch verfahrensrechtliche Fragen betreffe, nämlich zum einen die Frage, ob man sich auf eine behauptete technische Wirkung berufen könne, für die es in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keinen direkten Beweis gebe, und zum anderen die Frage, ob nachveröffentlichte Beweismittel als Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung unberücksichtigt bleiben müssten. Diese beiden Aspekte müssten klar voneinander unterschieden werden.
XVIII. Der Präsident des EPA vertrat die Auffassung, dass der Umfang der Vorlagefragen geklärt werden müsse, und sprach sich dafür aus, die Fragen neu zu ordnen und entweder umzuformulieren oder so zu erweitern, dass das Plausibilitätskonzept auch im Rahmen des Patentierbarkeitserfordernisses der ausreichenden Offenbarung nach Artikel 83 EPÜ behandelt werde. Die efpia befürwortete ebenfalls eine Klarstellung der Fragen, wenn auch in geringerem Umfang als vom Präsidenten des EPA vorgeschlagen.
Auch epi, Medicines for Europe, Fresenius Kabi Deutschland GmbH und BASF SE sprachen sich für eine Umformulierung der Frage 1 aus. P. de Lange plädierte für eine komplette Neuformulierung der Vorlagefragen, um den Schwerpunkt darauf zu legen, ob ein zusätzliches Erfordernis der "technischen Stützung durch die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung" anzuwenden sei.
Die Einsprechende bat die Große Beschwerdekammer in ihrer Erwiderung auf deren Mitteilung nach den Artikeln 13 und 14 (2) VOGBK um Klärung, inwieweit Grundsätze betreffend nachveröffentlichte Beweismittel im Zusammenhang mit der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auch im Zusammenhang mit der Beurteilung der ausreichenden Offenbarung angewendet werden könnten.
XIX. Einige Dritte (FICPI, epi, Patentanwaltskammer) regten an, die Vorlagefragen 2 und 3 unabhängig von der Antwort auf die Frage 1 zu beantworten.
XX. Die Einsprechende, der Präsident des EPA und einige Dritte (H.-R. Jaenichen, FICPI, BAYER AG, epi, AIPPI, efpia, IP Federation, CIPA) vertraten jeweils die Auffassung, dass "Plausibilität" per se kein Patentierbarkeitserfordernis sei, sondern mit der Frage verknüpft sei, ob eine Erfindung anerkannt werden könne und ob ein Anmelder oder Patentinhaber am Anmeldetag der Patentanmeldung tatsächlich in Besitz einer Erfindung gewesen sei.
XXI. In einem weiteren Amicus-curiae-Schriftsatz (BiA) wurde keine konkrete Antwort auf die Vorlagefragen vorgeschlagen, die Große Beschwerdekammer aber aufgefordert, einen Ansatz zu erwägen, der zwischen den beiden Extremen liege, nachgereichte Daten völlig auszuschließen oder "Plausibilität" bei der Entscheidung über die Zulässigkeit solcher nachgereichten Daten grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Auch BASF SE sah davon ab, konkrete Antworten vorzuschlagen, und äußerte sich mehr in der Sache, dass nämlich technische Wirkungen, auf die die Patentierbarkeit gestützt werde, in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen glaubhaft und zur Zufriedenheit des Fachmanns offenbart sein müssten, wobei von Fall zu Fall zu entscheiden sei, wie detailliert die Substantiierung durch Tatsachen sein müsse.
Verneinung der Frage 1
XXII. Der Präsident des EPA bejahte grundsätzlich die uneingeschränkte Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung auch in Bezug auf nachveröffentlichte Beweismittel, auf denen eine technische Wirkung ausschließlich beruht; verschiedene Dritte unterstützten diese Auffassung (F. Carlsson, Beiersdorf AG, E. Wunder, FICPI, BAYER AG, epi, EPLIT, Patentanwaltskammer, CNCPI, efpia, CIPA).
Nach Ansicht des Präsidenten des EPA können nachveröffentlichte Beweismittel, die zum Nachweis einer technischen Wirkung im Hinblick auf die Zuerkennung erfinderischer Tätigkeit vorgelegt werden, nicht dazu herangezogen werden, eine entsprechende Angabe in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung vollständig zu ersetzen. Dafür sei allerdings keine Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung erforderlich. Aus diesem Grund sprach sich der Präsident des EPA für eine Verneinung der Frage 1 aus, reichte dessen ungeachtet aber Argumente ein, die den in Frage 2 genannten Ansatz grundsätzlich zu befürworten schienen.
Das epi brachte, unterstützt von der CIPA, zusätzlich vor, dass jegliche Prüfung der Glaubwürdigkeit einer technischen Wirkung am Anmeldetag völlig unabhängig sei und logischerweise erst erfolgen könne, nachdem die freie und vollständige Würdigung der nachveröffentlichten Beweismittel ergeben habe, dass die technische Wirkung eintrete. Insofern die erstmals durch die nachveröffentlichten Beweismittel nachgewiesene technische Wirkung in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht erwähnt sei, könne sich der Anmelder oder Patentinhaber bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit aber nur dann auf diese technische Wirkung berufen, wenn diese Wirkung dem Wesen der in der ursprünglich eingereichten Anmeldung offenbarten Erfindung entspreche.
Ganz allgemein hielt die CNCPI die Einführung einer Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht für gerechtfertigt, weil die Frage des Nachweises der technischen Wirkung im Rahmen der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit eine Konstruktion der Rechtsprechung darstelle.
Nach Meinung einiger anderer Dritter (Beiersdorf AG, BAYER AG, epi, EPLIT, CIPA) sei eine Bejahung der Frage 1 unvereinbar mit dem Konzept des Artikels 117 (1) EPÜ, der eine Reihe von zwangsläufig nachveröffentlichten Beweismitteln zulasse, nämlich die Vernehmung von Beteiligten, die Einholung von Auskünften, die Vernehmung von Zeugen, die Begutachtung durch Sachverständige und die Einnahme des Augenscheins. In einem weiteren Amicus-curiae-Schriftsatz (Patentanwaltskammer) wurde vorgebracht, dass eine starre Regelung für die Berücksichtigung nachveröffentlichter technischer Informationen im Widerspruch zu Artikel 113 (1) EPÜ stehe. Nachveröffentlichte Beweismittel müssten vielmehr frei entsprechend ihres Beweiswerts gewürdigt werden. Jede in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen glaubhaft gemachte Wirkung könne mit nach dem Prioritätstag der Patentanmeldung erstellten oder öffentlich zugänglich gemachten Beweismitteln angefochten oder verteidigt werden.
Ein weiterer Dritter (E. Wunder) argumentierte, wie der nächstliegende Stand der Technik so sei auch die technische Wirkung zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung zu beurteilen.
Bejahung der Frage 1
XXIII. Grundsätzliche Argumente für die Zulassung einer Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung dahin gehend, dass nachveröffentlichte Beweismittel, auf denen eine technische Wirkung ausschließlich beruht, unberücksichtigt bleiben, wurden ursprünglich von der Einsprechenden vorgebracht und auch von verschiedenen Dritten unterstützt (P. H. van Deursen, P. de Lange, Medicines for Europe, Fresenius Kabi Deutschland GmbH und IP Federation sowie anonyme Einwendungen eines Dritten).
Die Einsprechende, unterstützt durch Medicines for Europe und Fresenius Kabi Deutschland GmbH, hielt es ursprünglich für unbillig, wenn ein technischer Beitrag zum Stand der Technik eine bloße Behauptung zur Begründung eines durch ein erteiltes Patent gewährten Monopolrechts sein könne, die ausschließlich auf Beweismitteln beruht, die Jahre nach dem Anmeldetag eingereicht werden. Dies würde bedeuten, dass ein Anmelder zum Zeitpunkt der Einreichung einer Patentanmeldung nur eine sehr niedrige Hürde überwinden muss, denn es würde zugelassen, dass eine technische Wirkung eine reine Spekulation ist, die keinen technischen Beitrag zum Stand der Technik leisten kann. Daher werde der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht verletzt, wenn nachveröffentlichte Beweismittel als alleiniger Nachweis für eine behauptete technische Wirkung unberücksichtigt bleiben, für die es in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keinen Beweis gibt und die am Anmeldetag der Patentanmeldung nicht plausibel war.
In ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Großen Beschwerdekammer gemäß den Artikeln 13 und 14 (2) VOGBK (Nr. 12 dieser Mitteilung) stimmte die Einsprechende jedoch mit der Großen Beschwerdekammer darin überein, dass der Grundsatz der freien Beweiswürdigung es nicht zu erlauben scheine, Beweismittel per se unberücksichtigt zu lassen, soweit sie von einem Beteiligten zur Stützung einer angefochtenen Schlussfolgerung eingereicht und angezogen werden und für die abschließende Entscheidung entscheidend sind.
Einige Dritte (P. H. van Deursen, P. de Lange, Medicines for Europe) verfolgten einen weitergehenden Ansatz, nämlich bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit alle nachveröffentlichten Beweismittel von der Berücksichtigung auszuschließen, die zur Stützung einer beanspruchten technischen Wirkung eingereicht werden. Der Grundsatz der Rechtssicherheit Dritter erfordere es, dass die den Anspruch stützenden Beweismittel am Anmeldetag bekannt sind und während der Lebensdauer des Anspruchs unveränderbar sein sollten.
Bejahung der Frage 2
XXIV. Grundsätzliche Argumente für eine Berücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel in Fällen, in denen der Fachmann am Anmeldetag der streitigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen die Wirkung für plausibel erachtet hätte, wurden von der Einsprechenden eingereicht und von verschiedenen Dritten befürwortet (Medicines for Europe, IP Federation). Einige Dritte sprachen sich zwar für eine Verneinung der Frage 1 aus, befürworteten aber eine Bejahung der Frage 2, entweder als zusätzliche Erwägungen (FICPI, epi) oder für den Fall, dass die Frage 1 bejaht werde (BAYER AG, CIPA). Ungeachtet der Tatsache, dass sich der Präsident des EPA nicht direkt für eine Bejahung der Frage 2 aussprach, werden seine Argumente so aufgefasst, dass sie diesen Ansatz generell befürworten.
Nach Meinung der Einsprechenden und einiger Dritter (Medicines for Europe, IP Federation) sei es im Wesentlichen eine Sache des materiellen Patentrechts, dass ein Patent nur dann erteilt werden könne, wenn am Anmeldetag der Patentanmeldung eine patentierbare Erfindung vorliege. Somit dürfe eine behauptete technische Wirkung nicht nur reine Spekulation sein, sondern müsse aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableitbar sein und einen technischen Beitrag zum Stand der Technik leisten. In diesem Sinne könnten nachveröffentlichte Beweismittel zur Stützung einer behaupteten technischen Wirkung, die am Anmeldetag vorlag, berücksichtigt werden.
Die Einsprechende schlug in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Großen Beschwerdekammer gemäß den Artikeln 13 und 14 (2) VOGBK folgenden Test vor:
i) Eine behauptete technische Wirkung ist plausibel, wenn ein mit dem Stand der Technik vertrauter Fachmann im Hinblick auf die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung der Überzeugung ist, dass die behauptete technische Wirkung eintreten wird.
ii) Der Fachmann muss zudem überzeugt sein, dass die behauptete technische Wirkung im gesamten Schutzbereich des Anspruchs eintreten wird.
iii) Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, sollten die nachveröffentlichten Beweismittel bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht weiter berücksichtigt werden.
Der Präsident des EPA betonte, es gebe kein gesondertes, eigenständiges Patentierbarkeitserfordernis der "Plausibilität", dem EPÜ sei aber zu entnehmen, dass eine Erfindung nur dann patentierbar ist, wenn sich eine technische Wirkung erzielen lässt. Eine behauptete technische Wirkung müsse als inhärentes Merkmal einer Erfindung, die den Artikeln 56 und 83 EPÜ entspricht, auf der Grundlage des Inhalts der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen erzielt werden. Das Fehlen einer solchen Offenbarung könne nicht zu einem späteren Zeitpunkt durch Einreichung nachveröffentlichter Beweismittel kompensiert werden, die belegten, dass die behauptete technische Wirkung tatsächlich erzielt werde. Nachveröffentlichte Beweismittel könnten berücksichtigt werden, um eine am Anmeldetag glaubhafte Offenbarung zu untermauern oder um Behauptungen von Einsprechenden zu widerlegen, dass die beanspruchte technische Wirkung nicht erzielt werden könne. Beweismittel, die von einem Patentinhaber zum Nachweis einer bereits am Anmeldetag glaubhaft offenbarten behaupteten technischen Wirkung eingereicht werden oder die vom Einsprechenden eingereicht werden, um nachzuweisen, dass diese technische Wirkung nicht erzielt werden kann, müssten nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung beurteilt werden.
Die FICPI brachte vor, dass es unter bestimmten Umständen, wenn die Erzielung einer bestimmten technischen Wirkung in einem Anspruch behandelt werde und somit Teil des Erfindungsgegenstands sei, angebracht sei zu prüfen, ob die beanspruchte Wirkung in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung glaubhaft gemacht wurde. Allerdings könne eine beanspruchte technische Wirkung auch ohne Nachweis glaubhaft gemacht werden, z. B. durch Extrapolation, Analogie oder eine theoretische Begründung, und der Grundsatz der freien Beweiswürdigung sollte beibehalten werden, um erforderlichenfalls spätere Nachweise für eine beanspruchte Wirkung zuzulassen, die in der Anmeldung glaubhaft gemacht worden ist.
BAYER AG und CNCPI argumentierten ferner, dass die Anwendbarkeit der einzelnen Ansätze von Fall zu Fall zu entscheiden sei und von verschiedenen Aspekten abhänge wie dem jeweiligen technischen Gebiet, dem Stand der Technik und der Vorhersehbarkeit der beanspruchten technischen Wirkung, ohne dass diese Aspekte per se im Widerspruch zueinander stünden.
Argumente gegen den der Vorlagefrage 2 zugrunde liegenden Ansatz
XXV. Die Patentinhaberin brachte vor, dass der der Vorlagefrage 2 zugrunde liegende Ansatz höchstens auf die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung (Artikel 83 EPÜ) anwendbar sei, für die er ursprünglich mit der Entscheidung T 609/02 eingeführt worden sei, insbesondere, wenn die technische Wirkung im Anspruch angegeben sei (T 939/92, Nr. 2.2.2 der Entscheidungsgründe). Dagegen sollte er nicht auf die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ) eines beanspruchten Gegenstands angewendet werden, denn dies wäre in Bezug auf die Rechtswirkung, den Wissensstand des Patentanmelders und die Beweislast äußerst unverhältnismäßig.
Bejahung der Frage 3
XXVI. Die Patentinhaberin sprach sich für die Berücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel als Nachweis für eine behauptete technische Wirkung aus, wenn der Fachmann am Anmeldetag der streitigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen keinen Grund gesehen hätte, die Wirkung für unplausibel zu erachten, insbesondere bei auf eine medizinische Verwendung gerichteten Patenten. In solchen Fällen wäre sich der Anmelder schon zu Beginn des Patenterteilungsverfahrens der Bedeutung der technischen Wirkung bewusst und hätte diese bereits in der Patentanmeldung erwähnt. Daher dürfte sich der Anmelder in der Regel mit der Schwelle für die ausreichende Offenbarung befassen. Hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit wäre es dagegen schwer einschätzbar, auf welche technische Wirkung sich der Patentanmelder berufen sollte, weil die Bewertung der technischen Wirkung von der Wahl des nächstliegenden Stands der Technik abhänge, der in der Regel erst nach dem Anmeldetag feststehe. Somit sei der Anmelder oft gezwungen, die technische Wirkung eines Unterscheidungsmerkmals geltend zu machen, das bei der Einreichung der Anmeldung nicht im Vordergrund stand.
Eine Dritte (IP Federation) regte an, alle drei Vorlagefragen zu bejahen. Es sollte zulässig sein, nachgereichte Daten zu berücksichtigen, wenn der Fachmann am Anmeldetag der streitigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben und/oder vom allgemeinen Fachwissen keinen Grund gesehen hätte, die technische Wirkung für unplausibel zu erachten, und zwar auch dann, wenn er die technische Wirkung ausgehend von den Angaben in der Patentanmeldung und/oder vom allgemeinen Fachwissen für plausibel erachtet hätte.
Andere Dritte schlugen zwar eine Verneinung der Frage 1 vor, sprachen sich aber für eine Bejahung der Frage 3 aus, entweder als weitere Erwägungen (FICPI) oder für den Fall, dass die Frage 1 bejaht werde (BAYER AG, epi, CIPA), damit die Möglichkeit eines Anmelders gewahrt bleibe, zusätzliche Beweismittel einzubringen, um die mit dem Gegenstand der Erfindung zusammenhängende technische Wirkung zu stützen, die wenn auch in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht ausdrücklich offenbart, so doch substanziell für Wesen und Charakter der offenbarten Erfindung und nicht unplausibel sei. Die CIPA plädierte dafür, dass alle Erfordernisse betreffend Angaben zur "Plausibilität" - oder nicht vorhandenen "Unplausibilität" - am Anmeldetag minimal sein sollten. So sollte es beispielsweise ausreichen, dass die letztendlich geltend gemachte technische Wirkung lediglich "nicht völlig unplausibel" sei, zumal der Anmelder am Anmeldetag möglicherweise noch nicht den nächstliegenden Stand der Technik kenne, von dem sich die beanspruchte Erfindung unterscheiden müsse.
Argumente gegen den der Vorlagefrage 3 zugrunde liegenden Ansatz
XXVII. Die Einsprechende brachte vor, dass der der Vorlagefrage 3 zugrunde liegende Ansatz die Patentierbarkeitsschwelle deutlich senke und die Erteilung von Patenten auf der Grundlage einer am Anmeldetag rein spekulativen technischen Wirkung statt auf der Grundlage eines echten technischen Beitrags ermögliche. Wenn zugelassen würde, eine Erfindung nach dem Anmeldetag zu definieren, dann könnte alles in der ursprünglich eingereichten Anmeldung Offenbarte nach diesem wirksamen Tag in eine Erfindung "umgewandelt" werden. Ein solcher Ansatz sei mit dem Erfordernis des Artikels 52 (1) EPÜ unvereinbar, wonach ein Patent für eine Erfindung erteilt wird, sofern diese Erfindung bereits vor Einreichung der Patentanmeldung gemacht worden ist.
Die Fresenius Kabi Deutschland GmbH brachte außerdem vor, dass die Beweislast für eine beanspruchte technische Wirkung gewöhnlich dem Patentanmelder oder -inhaber obliege; die in Frage 3 implizierte Hürde für Einsprechende und Prüfer sei fast unüberwindbar, bedeute einen erheblichen Nachteil und sei einfach unfair. Sachverhalt und Anträge
Vorgelegte Rechtsfragen
I. Mit ihrer Zwischenentscheidung T 116/18 vom 11. Oktober 2021 (nachstehend "Vorlageentscheidung") befasste die Technische Beschwerdekammer 3.3.02 (nachstehend "vorlegende Kammer") auf der Grundlage von Artikel 112 (1) a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 22 VOBK 2020 die Große Beschwerdekammer mit folgenden Rechtsfragen:
Wenn sich der Patentinhaber für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit auf eine technische Wirkung beruft und Beweismittel, z. B. Versuchsdaten, zum Nachweis dieser Wirkung vorgelegt hat, die vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden (nachveröffentlichte Beweismittel):
1. Ist dann eine Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung (siehe z. B. G 3/97, Nr. 5 der Entscheidungsgründe und G 1/12, Nr. 31 der Entscheidungsgründe) dahin gehend zuzulassen, dass nachveröffentlichte Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, weil der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht?
2. Falls Frage 1 bejaht wird (und die nachveröffentlichten Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, wenn der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht), können die nachveröffentlichten Beweismittel dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen die Wirkung für plausibel erachtet hätte (Ab-initio-Plausibilität)?
3. Falls Frage 1 bejaht wird (und die nachveröffentlichten Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, wenn der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht), können die nachveröffentlichten Beweismittel dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen keinen Grund gesehen hätte, die Wirkung für unplausibel zu erachten (Ab-initio-Unplausibilität)?
Streitpatent
II. Das europäische Patent Nr. 2 484 209 (nachstehend "das Patent") betrifft Insektizidzusammensetzungen und geht auf die europäische Patentanmeldung Nr. 12 002 626.5 zurück, eine Teilanmeldung zu der europäischen Patentanmeldung Nr. 05 719 327.8.
III. Das Patent umfasst in der erteilten Fassung zwei Anspruchssätze für verschiedene Vertragsstaaten, und zwar einen Anspruchssatz a für die Vertragsstaaten IS und LT und einen Anspruchssatz b für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, DE, DK, ES, FR, GB, GR, IT, LI, LU, MC, NL und SE. Der jeweilige Anspruch 1 ist auf eine Insektizidzusammensetzung gerichtet, und die beiden Anspruchssätze unterscheiden sich dadurch, dass Anspruch 1 b) zusätzlich zu Anspruch 1 a) noch einen Disclaimer für bestimmte Verbindungen enthält. Beide Anspruchssätze enthalten auch Verfahrensansprüche zur Bekämpfung von Schädlingsinsekten.
Beschwerdeverfahren
IV. Der Einspruch gegen das Patent war auf alle Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) bis c) EPÜ gestützt worden: mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit, unzureichende Offenbarung und Erweiterung des Gegenstands.
V. Die Einsprechende legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, den Einspruch nach Artikel 101 (2) EPÜ zurückzuweisen.
VI. Die Große Beschwerdekammer weist auf folgende Punkte aus der Vorlageentscheidung hin:
(1) Der vorlegenden Kammer zufolge (Nrn. 2.1 bis 2.3 der Gründe der Vorlageentscheidung) wird im Patent (Absätze [0002] bis [0004]) mit Verweis auf vorveröffentlichte Patentdokumente anerkannt, dass sowohl Thiamethoxam als auch die Verbindungen der beanspruchten Formel I a vor dem Prioritätstag des Patents für ihre insektizide Wirkung bekannt waren. Laut dem Patent (Absatz [0008]) haben die Erfinder festgestellt, dass Mischungen von Thiamethoxam und Verbindungen der beanspruchten Formel I a eine stärkere insektizide Wirksamkeit entfalten können, als ausgehend von der jeweiligen Wirksamkeit der Einzelkomponenten zu erwarten wäre. Dies bedeutet, dass laut dem Patent eine Insektizidzusammensetzung gemäß Anspruch 1 mehr als eine additive, nämlich eine synergistische Wirkung erzielen kann. Zur Klarstellung, ob eine bestimmte Kombination von Insektiziden synergistisch wirkt, werden im Patent zunächst die Wirksamkeiten der einzelnen Insektizide in Form der Sterberate bestimmt, d. h. in Form des prozentualen Anteils toter Insekten, der zu beobachten ist, wenn eine bestimmte Zahl von Insekten über einen bestimmten Zeitraum einer bestimmten Menge von Insektizid ausgesetzt wird. Aus diesen einzelnen Wirksamkeiten wird dann anhand der Colby-Formel eine für den gemeinsamen Einsatz beider Insektizide zu erwartende Wirksamkeit errechnet. Der Wert dieser zu erwartenden Wirksamkeit entspricht einer rein additiven Wirkung beider Insektizide. Liegt die tatsächlich festgestellte Wirksamkeit der Kombination beider Insektizide über diesem zu erwartenden Wert, so wirken die Insektizide synergistisch zusammen. Liegt sie unter diesem Wert, so wirken die Insektizide der Kombination antagonistisch. Diese Herangehensweise bei der Ermittlung des Vorhandenseins/der Abwesenheit von Synergien war unter den Beteiligten unstreitig. Das Patent (Absatz [0058]) umfasst eine Liste von Beispielen für Schädlingsinsekten, die sich mittels der vorgenannten Zusammensetzungen bekämpfen lassen. Unter den genannten Schädlingsinsekten sind Spodoptera litura, Plutella xylostella und Chilo suppressalis.
(2) Die vorlegende Kammer erkannte die ausreichende Offenbarung der beanspruchten Erfindung an. Sie befand, dass die Frage, ob eine Synergie erzielt worden sei, nicht nach Artikel 100 b) EPÜ zu beurteilen sei, sondern vielmehr nach den Artikeln 100 a) und 56 EPÜ (Nr. 9 der Gründe der Vorlageentscheidung).
(3) Im Hinblick auf den Einspruchsgrund gemäß den Artikeln 100 a) und 54 EPÜ befand die vorlegende Kammer, dass keine der Vorveröffentlichungen, auf die sich die Einsprechende für ihren Neuheitseinwand gegen den beanspruchten Gegenstand stützte, der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehe (Nr. 10 der Gründe der Vorlageentscheidung).
(4) Bezüglich des Einspruchsgrunds gemäß den Artikeln 100 a) und 56 EPÜ schlussfolgerte die vorlegende Kammer (Nrn. 11 und 12 der Gründe der Vorlageentscheidung), dass die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Patentgegenstands davon abhänge, ob Beweismittel, die vor dem Anmeldetag des Patents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden, angesichts der sogenannten Plausibilitätsrechtsprechung berücksichtigt werden könnten.
Die Patentinhaberin berief sich hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit unter anderem auf das nachveröffentlichte Beweismittel D21 (Testdaten), das eine synergistische Wirkung stütze. Da die beiden Beteiligten in Bezug auf die Anwendbarkeit der sogenannten Plausibilitätsrechtsprechung unterschiedliche Standpunkte vertraten, formulierten sie entsprechend gegensätzliche Anträge dazu, ob das nachveröffentlichte Beweismittel D21 berücksichtigt werden sollte.
Im Zusammenhang mit der erfinderischen Tätigkeit zog auch die Einsprechende ein nachveröffentlichtes Beweismittel an, nämlich D23 (Testdaten), das die vorlegende Kammer aus verfahrensrechtlichen Gründen zum Verfahren zuließ (Nrn. 3 bis 6 der Gründe der Vorlageentscheidung).
Die vorlegende Kammer kam zu dem Schluss, dass der Hauptantrag der Patentinhaberin nicht gewährbar sei, wenn nur die Daten aus dem Patent und D23 berücksichtigt würden. Wäre hingegen auch D21 zu berücksichtigen, so sei er gewährbar, weil die nachveröffentlichten Versuchsdaten aus D21 der einzige, aber wesentliche Beleg für die behauptete synergistische Wirkung seien (Nr. 12.6 der Gründe der Vorlageentscheidung).
(5) In Nummer 13 der Gründe der Vorlageentscheidung erklärt die vorlegende Kammer, dass keine verfahrenstechnischen Gründe gegen die Berücksichtigung des nachveröffentlichten Beweismittels D21 sprächen und es somit Bestandteil des Verfahrens sei, und erörtert drei voneinander abweichende Rechtsprechungslinien der Beschwerdekammern bezüglich der Voraussetzungen, unter denen Beweismittel aus materiellrechtlichen Gründen berücksichtigt bzw. nicht berücksichtigt werden können, je nachdem wie plausibel die technische Wirkung ausgehend von den als Nachweis vorgelegten Beweismitteln ist.
(6) Die vorlegende Kammer sah eine erste Rechtsprechungslinie (Nr. 13.4 der Gründe der Vorlageentscheidung), wonach nachveröffentlichte Beweismittel nur dann berücksichtigt werden dürften, wenn der Fachmann angesichts der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens am Anmeldetag Grund zu der Annahme gehabt hätte, dass die behauptete Wirkung erzielt wird (Typ I, von der vorlegenden Kammer als "Ab-initio-Plausibilität" bezeichnet). Nach dieser Rechtsprechungslinie, für die die vorlegende Kammer die Entscheidungen T 1329/04 (Nr. 10 der Entscheidungsgründe), T 609/02 (Nrn. 5 bis 9 der Entscheidungsgründe), T 488/16 (Nrn. 4.2, 4.5 und 4.19 der Entscheidungsgründe), T 415/11 (Nrn. 45 bis 55 der Entscheidungsgründe), T 1791/11 (Nrn. 3.2.5 bis 3.2.7 der Entscheidungsgründe) und T 895/13 (Nrn. 15 bis 17 der Entscheidungsgründe) diskutierte, sind zumeist Versuchsdaten oder eine wissenschaftliche Erklärung in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung die Gründe, die diese Annahme rechtfertigen.
(7) Die vorlegende Kammer erörterte eine zweite Rechtsprechungslinie, wonach nachveröffentlichte Beweismittel stets zu berücksichtigen sind, wenn die angebliche technische Wirkung nicht unplausibel ist (Typ II, von der vorlegenden Kammer als "Ab-initio-Unplausibilität" bezeichnet, Nr. 13.5 der Gründe der Vorlageentscheidung). Nach dieser Rechtsprechungslinie dürfen nachveröffentlichte Beweismittel nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn der Fachmann berechtigte Gründe gehabt hätte zu bezweifeln, dass sich die behauptete technische Wirkung am Anmeldetag des Patents erzielen ließ. Solche Zweifel können z. B. aufkommen, wenn die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung oder das allgemeine Fachwissen am Anmeldetag des Patents einen Hinweis enthält, dass sich die behauptete technische Wirkung tatsächlich nicht erzielen lässt. In diesem Zusammenhang erwähnt die vorlegende Kammer die Entscheidungen T 919/15 (Nr. 5.6 der Entscheidungsgründe), T 578/16 (Nrn. 13 bis 15 der Entscheidungsgründe), T 536/07 (Nr. 11 der Entscheidungsgründe), T 1437/07 (Nr. 38.1 der Entscheidungsgründe), T 266/10 (Nr. 37 der Entscheidungsgründe), T 863/12 (Nr. 7.3.3 der Entscheidungsgründe), T 184/16 (Nrn. 2.4 bis 2.7 der Entscheidungsgründe) und T 2015/20 (Nr. 2.7 der Entscheidungsgründe).
(8) Schließlich erörterte die vorlegende Kammer eine dritte Rechtsprechungslinie, die das sogenannte Plausibilitätskonzept gänzlich abzulehnen scheint (Typ III, von der vorlegenden Kammer als "Plausibilitätsablehnung" bezeichnet, Nr. 13.6 der Gründe der Vorlageentscheidung), und diskutierte in diesem Zusammenhang die Entscheidungen T 31/18 (Nr. 2.5.2 der Entscheidungsgründe) und T 2371/13 (Nr. 6.1.2 der Entscheidungsgründe).
(9) Die vorlegende Kammer fährt fort mit weiteren Überlegungen zu den Folgen einer strikten Anwendung der Rechtsprechung des Typs I oder Typs III (Nr. 13.7.1 der Gründe der Vorlageentscheidung) und zu den Beschränkungen der Rechtsprechung des Typs I und Typs II in Fällen, in denen eine Wirkung gegenüber einem Dokument des Stands der Technik nachgewiesen werden muss, das der Anmelder bzw. Patentinhaber nicht in Betracht gezogen hat oder möglicherweise nicht in Betracht ziehen konnte (Nr. 13.7.2 der Gründe der Vorlageentscheidung). Abschließend erörtert sie ein weiteres Spannungsfeld zwischen diesen beiden Rechtsprechungstypen auf der einen Seite und dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf der anderen (Nrn. 13.7.3 und 13.7.4 der Gründe der Vorlageentscheidung).
(10) Zu den Vorlagefragen erklärt die vorlegende Kammer (Nr. 14 der Gründe der Vorlageentscheidung), dass eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer erforderlich ist, und zwar zum einen, um eine einheitliche Rechtsanwendung zu sichern, und zum anderen, weil sich Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung stellen. Die drei der Großen Beschwerdekammer zur Entscheidung vorgelegten Fragen beziehen sich auf die drei vorstehend erläuterten Rechtsprechungslinien. Die Beantwortung der Fragen ist für den vorliegenden Fall entscheidend, weil davon abhängt, ob das nachveröffentlichte Beweismittel D21 berücksichtigt werden kann, und weil D21, sollte es berücksichtigt werden, wie vorstehend dargelegt, für die abschließende Entscheidung über die erfinderische Tätigkeit relevant ist.
Verlauf des Verfahrens vor der Großen Beschwerdekammer
VII. Die am Beschwerdeverfahren Beteiligten sind nach Artikel 112 (2) EPÜ an diesem Verfahren beteiligt. Die Große Beschwerdekammer forderte die Patentinhaberin und die Einsprechende auf, sich zu den der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen schriftlich zu äußern.
VIII. Gemäß Artikel 9 Satz 1 VOGBK forderte die Große Beschwerdekammer auch den Präsidenten des Europäischen Patentamts (nachstehend "Präsident des EPA") auf, sich zu den Rechtsfragen schriftlich zu äußern. Seine Äußerungen gingen am 22. April 2022 ein. Die Patentinhaberin und die Einsprechende erhielten gemäß Artikel 9 Satz 2 VOGBK die Gelegenheit, zu diesen Äußerungen Stellung zu nehmen. Die Einsprechende reichte mit Schreiben vom 30. September 2022 eine Erwiderung ein.
IX. Die schriftliche Äußerung der Einsprechenden ging am 29. April 2022 ein.
X. Mit einer im Amtsblatt des EPA (ABl. EPA 2021, A102) veröffentlichten Mitteilung gab die Große Beschwerdekammer Dritten Gelegenheit, schriftliche Stellungnahmen nach Artikel 10 VOGBK einzureichen, woraufhin 20 Amicus-curiae-Schriftsätze und eine Einwendung eines Dritten eingingen:
(1) F. Carlsson, 10. Dezember 2021
(2) H.-R. Jaenichen, 11. Januar 2022
(3) R. Kiebooms, 12. Januar 2022 (als Einwendung Dritter eingereicht)
(4) Beiersdorf AG, 2. März 2022
(5) E. Wunder, 17. März 2022
(6) P. H. van Deursen, 22. März 2022
(7) Internationale Föderation von Patentanwälten (FICPI), 19. April 2022
(8) BAYER AG, 20. April 2022
(9) Institut der beim EPA zugelassenen Vertreter (epi), 22. April 2022
(10) European Patent Litigators Association (EPLIT), 26. April 2022
(11) P. de Lange, 28. April 2022
(12) Internationale Vereinigung für den Schutz des Geistigen Eigentums (AIPPI), 28. April 2022
(13) Medicines for Europe, 29. April 2022
(14) Patentanwaltskammer, 29. April 2022
(15) UK BioIndustry Association (BiA), 29. April 2022
(16) Fresenius Kabi Deutschland GmbH, 29. April 2022
(17) Compagnie Nationale des Conseils en Propriété Industrielle (CNCPI), 29. April 2022
(18) Europäischer Dachverband der pharmazeutischen Industrie (EFPIA), 29. April 2022
(19) BASF SE, 29. April 2022
(20) IP Federation, 29. April 2022
(21) Chartered Institute of Patent Attorneys (CIPA), 29. April 2022
XI. In Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung erließ die Große Beschwerdekammer am 13. Oktober 2022 eine Mitteilung nach den Artikeln 13 und 14 (2) VOGBK. Mit dieser Mitteilung sollten die Beteiligten auf potenziell bedeutsame rechtliche Aspekte im Zusammenhang mit den Vorlagefragen aufmerksam gemacht werden und Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
XII. Die Patentinhaberin und die Einsprechende reagierten auf die Mitteilung der Großen Beschwerdekammer mit Schreiben vom 10. November 2022 bzw. 8. November 2022. Weitere Einwendungen Dritter gingen ein von Medicines for Europe, Fresenius Kabi Deutschland GmbH sowie in anonymisierter Form.
XIII. Am 24. November 2022 fand die mündliche Verhandlung vor der Großen Beschwerdekammer in Anwesenheit der Patentinhaberin und der Einsprechenden sowie des Präsidenten des EPA statt.
XIV. Am Ende der mündlichen Verhandlung kündigte der Vorsitzende an, dass die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer schriftlich ergehen werde.
Zusammenfassung der wichtigsten im Verfahren vorgebrachten Argumente
Zulässigkeit der Vorlage
XV. Die Patentinhaberin, die Einsprechende, der Präsident des EPA und die meisten Dritten erachteten die Vorlage entweder ausdrücklich oder implizit für zulässig.
BAYER AG und epi brachten vor, die Vorlage müsse für unzulässig erachtet werden, weil der Ausgang der Beschwerdesache nicht von den Vorlagefragen abhänge. Laut BAYER AG dürften die Antworten angesichts des Gebots der Gleichbehandlung der Beteiligten keine Auswirkungen auf den Ausgang haben. Nachveröffentlichte Beweismittel könnten basierend auf dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung berücksichtigt werden oder auch nicht. Wenn also der Einsprechenden gestattet werde, nachprüfbare Tatsachen zur Begründung von Zweifeln einzureichen, müsse der Patentinhaberin genauso gestattet werden, nachprüfbare Tatsachen zur Begründung der in der Anmeldung glaubhaft gemachten Wirkung einzureichen. So oder so würde dies für den vor der vorlegenden Kammer anhängigen Fall bedeuten, dass der Gegenstand der Ansprüche als erfinderisch zu betrachten sei. Nach Meinung des epi müsse das Dokument D21 von der vorlegenden Kammer gemäß dem Typ-1-Ansatz berücksichtigt werden; es gebe keine Divergenz in der Rechtsprechung.
Allgemeine Aspekte
XVI. Die Patentinhaberin entnahm der Rechtsprechung der Beschwerdekammern im Allgemeinen und den Ausführungen im der Vorlageentscheidung zugrunde liegenden konkreten Fall, dass es zwei verschiedene Maßstäbe gebe.
Der erste Maßstab betreffe die Anerkennung einer technischen Wirkung, d. h. die Frage, ob die behauptete technische Wirkung über den gesamten Schutzbereich des Anspruchs erzielt wird. Die Patentinhaberin verwies diesbezüglich auf die Entscheidung T 939/92 (Nr. 2.6 der Entscheidungsgründe), wonach eine technische Wirkung nur dann berücksichtigt werde, wenn glaubhaft sei, dass im Wesentlichen alle beanspruchten Ausführungsarten diese technische Wirkung aufweisen. Wenn dieses Erfordernis erfüllt sei, werde die technische Wirkung für die Bestimmung einer objektiven technischen Aufgabe berücksichtigt.
Der zweite Maßstab sehe vor, dass ein nachveröffentlichtes Dokument, das eine technische Wirkung belegt, berücksichtigt werden kann. Hierfür verwies die Patentinhaberin auf die Entscheidung T 1329/04 (Nr. 11 der Entscheidungsgründe), wonach ein solches Dokument nur dann berücksichtigt werden könne, wenn zumindest glaubhaft sei, dass für die angeblich gelöste Aufgabe auch tatsächlich eine Lösung gefunden worden sei. Treffe dies zu, könne sich der Anmelder oder Patentinhaber auf ein nachveröffentlichtes Dokument berufen, um zu belegen, dass die technische Wirkung über den gesamten Schutzbereich des Anspruchs erzielt worden sei.
XVII. Die Einsprechende brachte vor, dass die Vorlagefrage 1 sowohl materiellrechtliche als auch verfahrensrechtliche Fragen betreffe, nämlich zum einen die Frage, ob man sich auf eine behauptete technische Wirkung berufen könne, für die es in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keinen direkten Beweis gebe, und zum anderen die Frage, ob nachveröffentlichte Beweismittel als Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung unberücksichtigt bleiben müssten. Diese beiden Aspekte müssten klar voneinander unterschieden werden.
XVIII. Der Präsident des EPA vertrat die Auffassung, dass der Umfang der Vorlagefragen geklärt werden müsse, und sprach sich dafür aus, die Fragen neu zu ordnen und entweder umzuformulieren oder so zu erweitern, dass das Plausibilitätskonzept auch im Rahmen des Patentierbarkeitserfordernisses der ausreichenden Offenbarung nach Artikel 83 EPÜ behandelt werde. Die efpia befürwortete ebenfalls eine Klarstellung der Fragen, wenn auch in geringerem Umfang als vom Präsidenten des EPA vorgeschlagen.
Auch epi, Medicines for Europe, Fresenius Kabi Deutschland GmbH und BASF SE sprachen sich für eine Umformulierung der Frage 1 aus. P. de Lange plädierte für eine komplette Neuformulierung der Vorlagefragen, um den Schwerpunkt darauf zu legen, ob ein zusätzliches Erfordernis der "technischen Stützung durch die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung" anzuwenden sei.
Die Einsprechende bat die Große Beschwerdekammer in ihrer Erwiderung auf deren Mitteilung nach den Artikeln 13 und 14 (2) VOGBK um Klärung, inwieweit Grundsätze betreffend nachveröffentlichte Beweismittel im Zusammenhang mit der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auch im Zusammenhang mit der Beurteilung der ausreichenden Offenbarung angewendet werden könnten.
XIX. Einige Dritte (FICPI, epi, Patentanwaltskammer) regten an, die Vorlagefragen 2 und 3 unabhängig von der Antwort auf die Frage 1 zu beantworten.
XX. Die Einsprechende, der Präsident des EPA und einige Dritte (H.?R. Jaenichen, FICPI, BAYER AG, epi, AIPPI, efpia, IP Federation, CIPA) vertraten jeweils die Auffassung, dass "Plausibilität" per se kein Patentierbarkeitserfordernis sei, sondern mit der Frage verknüpft sei, ob eine Erfindung anerkannt werden könne und ob ein Anmelder oder Patentinhaber am Anmeldetag der Patentanmeldung tatsächlich in Besitz einer Erfindung gewesen sei.
XXI. In einem weiteren Amicus-curiae-Schriftsatz (BiA) wurde keine konkrete Antwort auf die Vorlagefragen vorgeschlagen, die Große Beschwerdekammer aber aufgefordert, einen Ansatz zu erwägen, der zwischen den beiden Extremen liege, nachgereichte Daten völlig auszuschließen oder "Plausibilität" bei der Entscheidung über die Zulässigkeit solcher nachgereichten Daten grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Auch BASF SE sah davon ab, konkrete Antworten vorzuschlagen, und äußerte sich mehr in der Sache, dass nämlich technische Wirkungen, auf die die Patentierbarkeit gestützt werde, in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen glaubhaft und zur Zufriedenheit des Fachmanns offenbart sein müssten, wobei von Fall zu Fall zu entscheiden sei, wie detailliert die Substantiierung durch Tatsachen sein müsse.
Verneinung der Frage 1
XXII. Der Präsident des EPA bejahte grundsätzlich die uneingeschränkte Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung auch in Bezug auf nachveröffentlichte Beweismittel, auf denen eine technische Wirkung ausschließlich beruht; verschiedene Dritte unterstützten diese Auffassung (F. Carlsson, Beiersdorf AG, E. Wunder, FICPI, BAYER AG, epi, EPLIT, Patentanwaltskammer, CNCPI, efpia, CIPA).
Nach Ansicht des Präsidenten des EPA können nachveröffentlichte Beweismittel, die zum Nachweis einer technischen Wirkung im Hinblick auf die Zuerkennung erfinderischer Tätigkeit vorgelegt werden, nicht dazu herangezogen werden, eine entsprechende Angabe in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung vollständig zu ersetzen. Dafür sei allerdings keine Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung erforderlich. Aus diesem Grund sprach sich der Präsident des EPA für eine Verneinung der Frage 1 aus, reichte dessen ungeachtet aber Argumente ein, die den in Frage 2 genannten Ansatz grundsätzlich zu befürworten schienen.
Das epi brachte, unterstützt von der CIPA, zusätzlich vor, dass jegliche Prüfung der Glaubwürdigkeit einer technischen Wirkung am Anmeldetag völlig unabhängig sei und logischerweise erst erfolgen könne, nachdem die freie und vollständige Würdigung der nachveröffentlichten Beweismittel ergeben habe, dass die technische Wirkung eintrete. Insofern die erstmals durch die nachveröffentlichten Beweismittel nachgewiesene technische Wirkung in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht erwähnt sei, könne sich der Anmelder oder Patentinhaber bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit aber nur dann auf diese technische Wirkung berufen, wenn diese Wirkung dem Wesen der in der ursprünglich eingereichten Anmeldung offenbarten Erfindung entspreche.
Ganz allgemein hielt die CNCPI die Einführung einer Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht für gerechtfertigt, weil die Frage des Nachweises der technischen Wirkung im Rahmen der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit eine Konstruktion der Rechtsprechung darstelle.
Nach Meinung einiger anderer Dritter (Beiersdorf AG, BAYER AG, epi, EPLIT, CIPA) sei eine Bejahung der Frage 1 unvereinbar mit dem Konzept des Artikels 117 (1) EPÜ, der eine Reihe von zwangsläufig nachveröffentlichten Beweismitteln zulasse, nämlich die Vernehmung von Beteiligten, die Einholung von Auskünften, die Vernehmung von Zeugen, die Begutachtung durch Sachverständige und die Einnahme des Augenscheins. In einem weiteren Amicus-curiae-Schriftsatz (Patentanwaltskammer) wurde vorgebracht, dass eine starre Regelung für die Berücksichtigung nachveröffentlichter technischer Informationen im Widerspruch zu Artikel 113 (1) EPÜ stehe. Nachveröffentlichte Beweismittel müssten vielmehr frei entsprechend ihres Beweiswerts gewürdigt werden. Jede in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen glaubhaft gemachte Wirkung könne mit nach dem Prioritätstag der Patentanmeldung erstellten oder öffentlich zugänglich gemachten Beweismitteln angefochten oder verteidigt werden.
Ein weiterer Dritter (E. Wunder) argumentierte, wie der nächstliegende Stand der Technik so sei auch die technische Wirkung zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung zu beurteilen.
Bejahung der Frage 1
XXIII. Grundsätzliche Argumente für die Zulassung einer Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung dahin gehend, dass nachveröffentlichte Beweismittel, auf denen eine technische Wirkung ausschließlich beruht, unberücksichtigt bleiben, wurden ursprünglich von der Einsprechenden vorgebracht und auch von verschiedenen Dritten unterstützt (P. H. van Deursen, P. de Lange, Medicines for Europe, Fresenius Kabi Deutschland GmbH und IP Federation sowie anonyme Einwendungen eines Dritten).
Die Einsprechende, unterstützt durch Medicines for Europe und Fresenius Kabi Deutschland GmbH, hielt es ursprünglich für unbillig, wenn ein technischer Beitrag zum Stand der Technik eine bloße Behauptung zur Begründung eines durch ein erteiltes Patent gewährten Monopolrechts sein könne, die ausschließlich auf Beweismitteln beruht, die Jahre nach dem Anmeldetag eingereicht werden. Dies würde bedeuten, dass ein Anmelder zum Zeitpunkt der Einreichung einer Patentanmeldung nur eine sehr niedrige Hürde überwinden muss, denn es würde zugelassen, dass eine technische Wirkung eine reine Spekulation ist, die keinen technischen Beitrag zum Stand der Technik leisten kann. Daher werde der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht verletzt, wenn nachveröffentlichte Beweismittel als alleiniger Nachweis für eine behauptete technische Wirkung unberücksichtigt bleiben, für die es in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keinen Beweis gibt und die am Anmeldetag der Patentanmeldung nicht plausibel war.
In ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Großen Beschwerdekammer gemäß den Artikeln 13 und 14 (2) VOGBK (Nr. 12 dieser Mitteilung) stimmte die Einsprechende jedoch mit der Großen Beschwerdekammer darin überein, dass der Grundsatz der freien Beweiswürdigung es nicht zu erlauben scheine, Beweismittel per se unberücksichtigt zu lassen, soweit sie von einem Beteiligten zur Stützung einer angefochtenen Schlussfolgerung eingereicht und angezogen werden und für die abschließende Entscheidung entscheidend sind.
Einige Dritte (P. H. van Deursen, P. de Lange, Medicines for Europe) verfolgten einen weitergehenden Ansatz, nämlich bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit alle nachveröffentlichten Beweismittel von der Berücksichtigung auszuschließen, die zur Stützung einer beanspruchten technischen Wirkung eingereicht werden. Der Grundsatz der Rechtssicherheit Dritter erfordere es, dass die den Anspruch stützenden Beweismittel am Anmeldetag bekannt sind und während der Lebensdauer des Anspruchs unveränderbar sein sollten.
Bejahung der Frage 2
XXIV. Grundsätzliche Argumente für eine Berücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel in Fällen, in denen der Fachmann am Anmeldetag der streitigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen die Wirkung für plausibel erachtet hätte, wurden von der Einsprechenden eingereicht und von verschiedenen Dritten befürwortet (Medicines for Europe, IP Federation). Einige Dritte sprachen sich zwar für eine Verneinung der Frage 1 aus, befürworteten aber eine Bejahung der Frage 2, entweder als zusätzliche Erwägungen (FICPI, epi) oder für den Fall, dass die Frage 1 bejaht werde (BAYER AG, CIPA). Ungeachtet der Tatsache, dass sich der Präsident des EPA nicht direkt für eine Bejahung der Frage 2 aussprach, werden seine Argumente so aufgefasst, dass sie diesen Ansatz generell befürworten.
Nach Meinung der Einsprechenden und einiger Dritter (Medicines for Europe, IP Federation) sei es im Wesentlichen eine Sache des materiellen Patentrechts, dass ein Patent nur dann erteilt werden könne, wenn am Anmeldetag der Patentanmeldung eine patentierbare Erfindung vorliege. Somit dürfe eine behauptete technische Wirkung nicht nur reine Spekulation sein, sondern müsse aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableitbar sein und einen technischen Beitrag zum Stand der Technik leisten. In diesem Sinne könnten nachveröffentlichte Beweismittel zur Stützung einer behaupteten technischen Wirkung, die am Anmeldetag vorlag, berücksichtigt werden.
Die Einsprechende schlug in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Großen Beschwerdekammer gemäß den Artikeln 13 und 14 (2) VOGBK folgenden Test vor:
i) Eine behauptete technische Wirkung ist plausibel, wenn ein mit dem Stand der Technik vertrauter Fachmann im Hinblick auf die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung der Überzeugung ist, dass die behauptete technische Wirkung eintreten wird.
ii) Der Fachmann muss zudem überzeugt sein, dass die behauptete technische Wirkung im gesamten Schutzbereich des Anspruchs eintreten wird.
iii) Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, sollten die nachveröffentlichten Beweismittel bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht weiter berücksichtigt werden.
Der Präsident des EPA betonte, es gebe kein gesondertes, eigenständiges Patentierbarkeitserfordernis der "Plausibilität", dem EPÜ sei aber zu entnehmen, dass eine Erfindung nur dann patentierbar ist, wenn sich eine technische Wirkung erzielen lässt. Eine behauptete technische Wirkung müsse als inhärentes Merkmal einer Erfindung, die den Artikeln 56 und 83 EPÜ entspricht, auf der Grundlage des Inhalts der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen erzielt werden. Das Fehlen einer solchen Offenbarung könne nicht zu einem späteren Zeitpunkt durch Einreichung nachveröffentlichter Beweismittel kompensiert werden, die belegten, dass die behauptete technische Wirkung tatsächlich erzielt werde. Nachveröffentlichte Beweismittel könnten berücksichtigt werden, um eine am Anmeldetag glaubhafte Offenbarung zu untermauern oder um Behauptungen von Einsprechenden zu widerlegen, dass die beanspruchte technische Wirkung nicht erzielt werden könne. Beweismittel, die von einem Patentinhaber zum Nachweis einer bereits am Anmeldetag glaubhaft offenbarten behaupteten technischen Wirkung eingereicht werden oder die vom Einsprechenden eingereicht werden, um nachzuweisen, dass diese technische Wirkung nicht erzielt werden kann, müssten nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung beurteilt werden.
Die FICPI brachte vor, dass es unter bestimmten Umständen, wenn die Erzielung einer bestimmten technischen Wirkung in einem Anspruch behandelt werde und somit Teil des Erfindungsgegenstands sei, angebracht sei zu prüfen, ob die beanspruchte Wirkung in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung glaubhaft gemacht wurde. Allerdings könne eine beanspruchte technische Wirkung auch ohne Nachweis glaubhaft gemacht werden, z. B. durch Extrapolation, Analogie oder eine theoretische Begründung, und der Grundsatz der freien Beweiswürdigung sollte beibehalten werden, um erforderlichenfalls spätere Nachweise für eine beanspruchte Wirkung zuzulassen, die in der Anmeldung glaubhaft gemacht worden ist.
BAYER AG und CNCPI argumentierten ferner, dass die Anwendbarkeit der einzelnen Ansätze von Fall zu Fall zu entscheiden sei und von verschiedenen Aspekten abhänge wie dem jeweiligen technischen Gebiet, dem Stand der Technik und der Vorhersehbarkeit der beanspruchten technischen Wirkung, ohne dass diese Aspekte per se im Widerspruch zueinander stünden.
Argumente gegen den der Vorlagefrage 2 zugrunde liegenden Ansatz
XXV. Die Patentinhaberin brachte vor, dass der der Vorlagefrage 2 zugrunde liegende Ansatz höchstens auf die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung (Artikel 83 EPÜ) anwendbar sei, für die er ursprünglich mit der Entscheidung T 609/02 eingeführt worden sei, insbesondere, wenn die technische Wirkung im Anspruch angegeben sei (T 939/92, Nr. 2.2.2 der Entscheidungsgründe). Dagegen sollte er nicht auf die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ) eines beanspruchten Gegenstands angewendet werden, denn dies wäre in Bezug auf die Rechtswirkung, den Wissensstand des Patentanmelders und die Beweislast äußerst unverhältnismäßig.
Bejahung der Frage 3
XXVI. Die Patentinhaberin sprach sich für die Berücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel als Nachweis für eine behauptete technische Wirkung aus, wenn der Fachmann am Anmeldetag der streitigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen keinen Grund gesehen hätte, die Wirkung für unplausibel zu erachten, insbesondere bei auf eine medizinische Verwendung gerichteten Patenten. In solchen Fällen wäre sich der Anmelder schon zu Beginn des Patenterteilungsverfahrens der Bedeutung der technischen Wirkung bewusst und hätte diese bereits in der Patentanmeldung erwähnt. Daher dürfte sich der Anmelder in der Regel mit der Schwelle für die ausreichende Offenbarung befassen. Hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit wäre es dagegen schwer einschätzbar, auf welche technische Wirkung sich der Patentanmelder berufen sollte, weil die Bewertung der technischen Wirkung von der Wahl des nächstliegenden Stands der Technik abhänge, der in der Regel erst nach dem Anmeldetag feststehe. Somit sei der Anmelder oft gezwungen, die technische Wirkung eines Unterscheidungsmerkmals geltend zu machen, das bei der Einreichung der Anmeldung nicht im Vordergrund stand.
Eine Dritte (IP Federation) regte an, alle drei Vorlagefragen zu bejahen. Es sollte zulässig sein, nachgereichte Daten zu berücksichtigen, wenn der Fachmann am Anmeldetag der streitigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben und/oder vom allgemeinen Fachwissen keinen Grund gesehen hätte, die technische Wirkung für unplausibel zu erachten, und zwar auch dann, wenn er die technische Wirkung ausgehend von den Angaben in der Patentanmeldung und/oder vom allgemeinen Fachwissen für plausibel erachtet hätte.
Andere Dritte schlugen zwar eine Verneinung der Frage 1 vor, sprachen sich aber für eine Bejahung der Frage 3 aus, entweder als weitere Erwägungen (FICPI) oder für den Fall, dass die Frage 1 bejaht werde (BAYER AG, epi, CIPA), damit die Möglichkeit eines Anmelders gewahrt bleibe, zusätzliche Beweismittel einzubringen, um die mit dem Gegenstand der Erfindung zusammenhängende technische Wirkung zu stützen, die wenn auch in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht ausdrücklich offenbart, so doch substanziell für Wesen und Charakter der offenbarten Erfindung und nicht unplausibel sei. Die CIPA plädierte dafür, dass alle Erfordernisse betreffend Angaben zur "Plausibilität" ? oder nicht vorhandenen "Unplausibilität" ? am Anmeldetag minimal sein sollten. So sollte es beispielsweise ausreichen, dass die letztendlich geltend gemachte technische Wirkung lediglich "nicht völlig unplausibel" sei, zumal der Anmelder am Anmeldetag möglicherweise noch nicht den nächstliegenden Stand der Technik kenne, von dem sich die beanspruchte Erfindung unterscheiden müsse.
Argumente gegen den der Vorlagefrage 3 zugrunde liegenden Ansatz
XXVII. Die Einsprechende brachte vor, dass der der Vorlagefrage 3 zugrunde liegende Ansatz die Patentierbarkeitsschwelle deutlich senke und die Erteilung von Patenten auf der Grundlage einer am Anmeldetag rein spekulativen technischen Wirkung statt auf der Grundlage eines echten technischen Beitrags ermögliche. Wenn zugelassen würde, eine Erfindung nach dem Anmeldetag zu definieren, dann könnte alles in der ursprünglich eingereichten Anmeldung Offenbarte nach diesem wirksamen Tag in eine Erfindung "umgewandelt" werden. Ein solcher Ansatz sei mit dem Erfordernis des Artikels 52 (1) EPÜ unvereinbar, wonach ein Patent für eine Erfindung erteilt wird, sofern diese Erfindung bereits vor Einreichung der Patentanmeldung gemacht worden ist.
Die Fresenius Kabi Deutschland GmbH brachte außerdem vor, dass die Beweislast für eine beanspruchte technische Wirkung gewöhnlich dem Patentanmelder oder ?inhaber obliege; die in Frage 3 implizierte Hürde für Einsprechende und Prüfer sei fast unüberwindbar, bedeute einen erheblichen Nachteil und sei einfach unfair.
Entscheidungsgründe
Umfang und Schwerpunkt der Vorlage
1. Die Rechtsfragen, mit denen die Große Beschwerdekammer im vorliegenden Fall befasst worden ist, betreffen zwei Punkte, nämlich ob der Grundsatz der freien Beweiswürdigung eine Einschränkung in Bezug auf bestimmte Beweismittel erfordert, die bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zur Stützung einer behaupteten technischen Wirkung herangezogen werden, und welche Kriterien im Hinblick auf eine solche technische Wirkung anzuwenden sind.
2. Die vorlegende Kammer sprach diese Punkte in drei Fragen an, wobei die Fragen 2 und 3 nur dann relevant werden sollten, wenn durch Bejahung der Frage 1 eine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der freien Beweiswürdigung zuzulassen ist.
3. Der Präsident des EPA und einige Dritte regten eine Neuordnung und Umformulierung der Vorlagefragen dahin gehend an, dass zunächst die Fragen 2 und 3 beantwortet werden, bevor die eingeschränkte und uneingeschränkte Anwendbarkeit des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung erörtert wird.
4. Die Große Beschwerdekammer ist nicht an die von einer Beschwerdekammer gewählte Formulierung der Rechtsfragen gebunden und kann diese Fragen umformulieren. Allerdings ist die von einer vorlegenden Kammer gewählte spezifische Formulierung der Ausgangspunkt für die Definition dessen, was eine vorlegende Kammer als Rechtsfrage erachtet, die eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) a) EPÜ erfordert. Die Große Beschwerdekammer kann vom Wortlaut abweichen, wenn dies erforderlich ist, um den eigentlichen Gegenstand und Schwerpunkt der Vorlageentscheidung besser wiederzugeben (siehe z. B. G 2/08, Nrn. 1 und 3 der Entscheidungsgründe; G 2/10, Nr. 1 der Entscheidungsgründe; G 1/12, Nr. 16 der Entscheidungsgründe; G 1/13, Nr. 1 der Entscheidungsgründe; G 3/14, Abschnitt B der Entscheidungsgründe; G 1/19, Abschnitt A der Entscheidungsgründe; G 3/19, Abschnitt III der Begründung; G 1/21, Nr. 20 der Entscheidungsgründe).
5. Die Große Beschwerdekammer entnimmt der spezifischen und eindeutigen Formulierung der Vorlagefragen, dass sich die vorlegende Kammer zweifelsohne Gedanken über die Hierarchie und Abhängigkeit der Vorlagefragen gemacht hat und gewillt ist, eine abschließende Entscheidung über die Beschwerde bereits dann zu treffen, wenn die Große Beschwerdekammer die Frage 1 verneint, ohne die Fragen 2 und 3 zu beantworten.
6. Dies scheint auch in Einklang zu stehen mit dem Vorbringen in zwei Amicus-curiae-Schriftsätzen, wonach jegliche Untersuchung der behaupteten technischen Wirkung völlig unabhängig ist und logischerweise erst nach einer freien und vollständigen Würdigung auch aller einschlägigen nachveröffentlichten Beweismittel erfolgen kann.
7. Daher sieht die Große Beschwerdekammer keine Notwendigkeit oder Rechtfertigung für eine Neuordnung oder Umformulierung der Vorlagefragen. Sie ist zwar keineswegs verpflichtet, Überlegungen zu in den beiden anderen Vorlagefragen angesprochenen Aspekten anzufügen, die im Zusammenhang mit der Vorlageentscheidung relevant sind, ist sich aber des Vorschlags des Präsidenten des EPA und mehrerer Dritter bewusst, auf den nach deren Meinung vorrangigen Aspekt der Vorlageentscheidung einzugehen, nämlich darauf, welche Grundsätze bei der Prüfung einer behaupteten technischen Wirkung im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit anzuwenden sind.
8. Der Präsident des EPA schlägt außerdem vor, den Umfang der Vorlagefragen über die Fragen der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit hinaus auf die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung nach Artikel 83 EPÜ zu erweitern.
9. Die Große Beschwerdekammer erkennt an, dass es in erster Linie Sache der vorlegenden Kammer ist festzulegen, welche Rechtsfrage sie für so wichtig hält, dass sie in der anhängigen Beschwerde nicht entscheiden kann, ohne zuerst eine Antwort der Großen Beschwerdekammer auf diese Frage zu erhalten. Eine solche Rechtsfrage kann nur in dem konkreten Kontext von entscheidender Bedeutung sein, in dem sie sich stellt, damit die Vorlage von Rechtsfragen rein akademischer Natur vermieden wird.
10. Die Große Beschwerdekammer stellt fest, dass die vorlegende Kammer den faktischen und rechtlichen Kontext klar beschrieben hat, in dem sich die Rechtsfrage stellt, nämlich die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands im Rechtsrahmen des Artikels 56 EPÜ. Die vorlegende Kammer befand explizit, dass der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ für die Entscheidung in der Beschwerde nicht relevant ist, wie bereits die Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung festgestellt hatte. Die vorlegende Kammer hielt die ausreichende Offenbarung der beanspruchten Erfindung offensichtlich nicht für eine entscheidende Frage, sodass die vorgelegten Rechtsfragen ihrer Ansicht nach keinen Einfluss darauf haben, ob und in welchem Ausmaß im Rechtsrahmen des Artikels 83 EPÜ eine Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung zu machen ist.
11. Der Umfang der in den Vorlagefragen definierten Rechtsfrage und die Gründe für die Vorlageentscheidung erlauben oder erfordern es daher nicht, die Vorlagefragen dahin gehend umzuformulieren, dass ein Verweis auf die Frage der ausreichenden Offenbarung und auf Artikel 83 EPÜ hinzugefügt wird.
12. Ungeachtet des erwähnten klaren Schwerpunkts der Vorlagefragen auf der erfinderischen Tätigkeit ist sich die Große Beschwerdekammer aber der entsprechenden Rechtsprechung zur ausreichenden Offenbarung bewusst.
Zulässigkeit der Vorlage
13. Gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ befasst die Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder in Fällen, in denen sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten die Große Beschwerdekammer, wenn sie hierzu eine Entscheidung für erforderlich hält.
14. In ihrer Begründung hat die vorlegende Kammer ausführlich dargelegt, warum für ihre Entscheidung über die vor ihr anhängige Beschwerde die Beantwortung der Vorlagefragen unerlässlich ist, weil die abschließende Entscheidung über die Beschwerde aus ihrer Sicht davon abhängt, ob nachveröffentlichte Beweismittel, die vom Patentinhaber zum Nachweis einer technischen Wirkung vorgelegt wurden, berücksichtigt werden können oder unberücksichtigt bleiben müssen. Daher ist eine Beantwortung zumindest einiger Vorlagefragen erforderlich, damit die vorlegende Kammer abschließend über die vor ihr anhängige Beschwerde entscheiden kann.
15. Die Große Beschwerdekammer ist ferner der Überzeugung, dass es sich bei den Vorlagefragen um Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung handelt, da ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinausgehende Auswirkungen hat und für eine große Zahl vergleichbarer Fälle vor den Beschwerdekammern und vor den Prüfungs- und Einspruchsabteilungen relevant sein wird. Somit wird eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer über die Vorlagefragen der Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung dienen (siehe G 1/12, Nrn. 11 und 12 der Entscheidungsgründe).
16. Einige Dritte plädierten dafür, die Vorlage als unzulässig anzusehen, denn die beanspruchte Erfindung müsse als erfinderisch erachtet werden, wenn die Beweismittel berücksichtigt würden, die die Einsprechende und die Patentinhaberin zur Stützung ihrer jeweiligen Behauptungen in der Frage vorgelegt hätten, ob die beanspruchte Erfindung die von der Patentinhaberin behauptete und von der Einsprechenden bestrittene technische Wirkung erzeuge. Ebenso sei sie für erfinderisch zu erachten, wenn die von den beiden Beteiligten jeweils vorgelegten Beweismittel unberücksichtigt blieben.
17. Die Große Beschwerdekammer verweist darauf, dass die vorlegende Kammer die Ermessensentscheidung getroffen hat, die von der Einsprechenden eingereichten nachveröffentlichten Beweismittel (Testdaten D23) zuzulassen, sich aber nicht in der Lage sah, auch die von der Patentinhaberin eingereichten nachveröffentlichten Beweismittel (Testdaten D21) zuzulassen, ohne zuerst eine Antwort der Großen Beschwerdekammer auf eine Rechtsfrage zu erhalten, die die vorlegende Kammer für entscheidend hält. Da die Verfahrensentscheidung der vorlegenden Kammer nicht Gegenstand einer Überprüfung durch die Große Beschwerdekammer im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 112 (1) a) EPÜ ist, steht sie der Zulässigkeit der Vorlage hinsichtlich genau dieser zweiten Frage, ob sie die Testdaten der Patentinhaberin zulassen darf oder nicht, nicht entgegen.
18. Ein Dritter stellte die von der vorlegenden Kammer postulierte Divergenz der Rechtsprechung infrage und erklärte, seiner Einschätzung nach wendeten die Beschwerdekammern die Rechtsprechung einheitlich und auf der Grundlage ihrer technischen Bewertung des jeweiligen Sachverhalts an.
19. Die Große Beschwerdekammer akzeptiert jedoch die Einschätzung der vorlegenden Kammer einer divergierenden Rechtsprechung, sei es auch nur bei der Verwendung unterschiedlicher konzeptioneller und terminologischer Ansätze, die den Fragen 2 und 3 zugrunde liegen. Dies wird durch die Vorbringen der Einsprechenden, die Stellungnahme des Präsidenten des EPA und mehrere Amicus-curiae-Schriftsätze bestätigt. Angesichts dieser Ansätze sah sich die vorlegende Kammer im vorliegenden Fall außerstande, zu einem klaren Schluss zu kommen.
20. Somit ist die Vorlage zulässig.
Vorüberlegungen
21. In der Vorlageentscheidung wird im einleitenden Teil der Vorlagefragen festgestellt, dass sich im Zusammenhang mit der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit eines beanspruchten Gegenstands drei Rechtsfragen ergeben.
22. Gemäß Artikel 52 (1) EPÜ werden Patente für Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erteilt, sofern sie neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind.
23. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist die erfinderische Tätigkeit zu dem für das Patent maßgebenden Stichtag ausgehend von den darin enthaltenen Angaben in Verbindung mit dem zu diesem Zeitpunkt verfügbaren allgemeinen Fachwissen zu beurteilen (siehe T 609/02, T 1329/04, T 1545/08 sowie Rechtsprechung der Beschwerdekammern [nachstehend "CLB"], 10. Auflage, 2022, I.D.4.3.3 und die dort genannten Entscheidungen).
24. Die Beschwerdekammern und die administrativen Organe des EPA wenden regelmäßig den Aufgabe-Lösungs-Ansatz an, wenn entschieden werden muss, ob ein beanspruchter Gegenstand auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht und die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ erfüllt. Dieser Ansatz umfasst im Wesentlichen die folgenden methodischen Schritte (siehe CLB, 10. Auflage, I.D.2 und die dort genannten Entscheidungen):
a) Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik,
b) Vergleich des streitigen Anspruchsgegenstands mit der Offenbarung des nächstliegenden Stands der Technik und Bestimmung des Unterschieds/der Unterschiede zwischen beiden,
c) Ermittlung der technischen Wirkungen oder der Ergebnisse, die durch diesen Unterschied/diese Unterschiede erzielt werden bzw. mit diesen in Zusammenhang stehen,
d) Bestimmung der technischen Aufgabe, deren erfindungsgemäße Lösung diese Wirkungen oder diese Ergebnisse erzielen sollen, und
e) Prüfung der Frage, ob die beanspruchten technischen Merkmale, mit denen die erfindungsgemäßen Ergebnisse erzielt werden, angesichts des Stands der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ für einen Fachmann naheliegend gewesen wären.
25. Die technische Aufgabe muss sich aus Wirkungen ergeben, die unmittelbar und kausal mit den technischen Merkmalen der beanspruchten Erfindung zusammenhängen. Eine Wirkung kann nicht wirksam für die Formulierung der technischen Aufgabe verwendet werden, wenn hinsichtlich dieser Wirkung zusätzliche Informationen benötigt werden, die dem Fachmann selbst bei Berücksichtigung des Inhalts der betreffenden Anmeldung nicht zur Verfügung stehen (siehe CLB, 10. Auflage, I.D.4.1 und die dort genannten Entscheidungen).
26. Der Schritt c ist im Kontext dieser Vorlageentscheidung der relevanteste und erfordert, dass zur Bestimmung der objektiven technischen Aufgabe die technischen Ergebnisse bzw. Wirkungen, die mit der beanspruchten Erfindung gegenüber dem ermittelten nächstliegenden Stand der Technik erzielt werden, beurteilt werden müssen. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe CLB, 10. Auflage, I.D.4.2 und die dort genannten Entscheidungen) ist es Aufgabe des Patentanmelders oder -inhabers, hinreichend nachzuweisen, dass die behaupteten Vorteile der beanspruchten Erfindung erfolgreich erzielt worden sind.
Grundsatz der freien Beweiswürdigung
27. Die erste Vorlagefrage betrifft die Rechtsfrage, ob eine Beschwerdekammer bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit in Bezug auf nachveröffentlichte Beweismittel vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung abweichen muss, wenn diese als einzige Stützung für eine behauptete technische Wirkung vorgelegt werden.
28. Die Struktur der drei Vorlagefragen und ihre wechselseitige Abhängigkeit legen ein spezifisches Verständnis der vorlegenden Kammer vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung nahe. Die Argumentation in Nummer 13.7.3 der Gründe der Vorlageentscheidung scheint darauf zu beruhen, dass der Grundsatz der freien Beweiswürdigung eine direkte Anwendung dessen, was die vorlegende Kammer als Maßstäbe für das Anziehen eines bestimmten Beweismittels für eine behauptete technische Wirkung beschreibt, nicht nur nicht zulässt, sondern im Widerspruch dazu steht. Die vorlegende Kammer erörtert dies nicht weiter, merkt aber Folgendes an:
"Es ist nicht sofort ersichtlich, auf welcher Rechtsgrundlage der Patentinhaber daran gehindert werden dürfte, eine für den Verfahrensausgang relevante Tatsache durch eine bestimmte Art von Beweismittel zu belegen. Ebenso wenig ist ersichtlich, was es einer Kammer verbieten könnte, Beweismittel zu berücksichtigen, die sie für überzeugend und maßgeblich erachtet."
29. Weder das EPÜ noch die Rechtsprechung der Beschwerdekammern stellen formelle Regeln zur Beweiswürdigung auf. In G 1/12 (Nr. 31 der Entscheidungsgründe) hat die Große Beschwerdekammer unter Verweis auf G 3/97 (Nr. 5 der Entscheidungsgründe) und G 4/97 (Nr. 5 der Entscheidungsgründe) darauf hingewiesen, dass für die Verfahren vor dem EPA der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt.
30. Dieser Grundsatz kann abstrakt und allgemein so definiert werden, dass ein Rechtsprechungsorgan wie die Beschwerdekammern - unter Berücksichtigung des gesamten Vorbringens der Beteiligten und gegebenenfalls zulässig eingereichter oder aufgenommener Beweismittel - nach eigenem Ermessen und eigener Überzeugung ohne Beachtung formeller Regeln entscheiden darf und somit auch muss, ob eine streitige Tatsachenbehauptung als wahr oder falsch anzusehen ist.
31. Dies bedeutet nicht, dass die Beweiswürdigung willkürlich sein darf; die Beweismittel sind vielmehr umfassend und strikt zu beurteilen. Der einzig entscheidende Faktor ist, ob der Richter persönlich vom Wahrheitsgehalt der Tatsachenbehauptung überzeugt ist, d. h. für wie glaubhaft er ein Beweismittel einstuft. Dafür muss er alle Argumente für und gegen eine Tatsachenbehauptung im Verhältnis zum geforderten Beweismaß abwägen. Er bleibt dabei an die Gesetze der Logik und die auf Erfahrung beruhende Wahrscheinlichkeit gebunden. Die Gründe, die den Richter von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer angefochtenen Tatsachenbehauptung überzeugt haben, sind in der Entscheidung darzulegen.
32. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung kann nicht dazu herangezogen werden, Beweismittel per se nicht zu berücksichtigen, sofern ein Beteiligter sie in zulässiger Weise vorgelegt hat und sich zur Stützung einer streitigen Schlussfolgerung darauf beruft und sie für die abschließende Entscheidung entscheidend sind. Solche Beweismittel grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen, würde dem Beteiligten, der sie vorlegt und sich darauf beruft, grundlegende verfahrensrechtliche Ansprüche vorenthalten, die in den EPÜ-Vertragsstaaten allgemein anerkannt und in den Artikeln 113 (1) und 117 (1) EPÜ verankert sind (siehe auch T 1110/03, Nr. 2 der Entscheidungsgründe; T 1797/09, Nr. 2.9 der Entscheidungsgründe; T 419/12, Nr. 2.1.3 der Entscheidungsgründe und T 2294/12, Nr. 1.1.3 der Entscheidungsgründe).
33. Diese Definition, die gleichermaßen für Entscheidungen der administrativen Organe des EPA im Patenterteilungsverfahren gilt, steht in Einklang mit der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe CLB, 10. Auflage, III.G.4.1 und die dort genannten Entscheidungen) und wird in Kommentaren zum Patentrecht befürwortet (siehe Unland in: Benkard, EPÜ, Art. 117, Rdnr. 39; Bühler in Singer/Stauder/Luginbühl, EPÜ, Art. 117, Rdnr. 23; Schulte, Patentgesetz, Einführung, Rdnr. 155; Visser's Annotated European Patent Convention, Art. 117, Nr. 2, letzter Absatz; alle mit weiteren Verweisen).
34. Die im EPÜ vorgesehenen Entscheidungsorgane sind befugt und verpflichtet, im Einzelfall zu prüfen, ob die behaupteten Tatsachen hinreichend nachgewiesen sind. Entsprechend dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung trifft das jeweilige Organ seine Entscheidung auf der Grundlage aller im Verfahren verfügbaren relevanten Beweise und aufgrund der freien Überzeugung, zu der es in der Frage gelangt ist, ob eine behauptete Tatsache als wahr und bewiesen anzusehen ist oder nicht. Freie Würdigung von zulässig eingereichten, entscheidungsrelevanten Beweismitteln bedeutet, dass es keine festen Regeln gibt, nach denen bestimmten Beweismitteln eine bestimmte Überzeugungskraft beigemessen oder abgesprochen wird.
Bestehende Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer
35. Die Große Beschwerdekammer hat sich bislang noch in keiner ihrer Entscheidungen oder Stellungnahmen direkt mit dem Grundsatz der freien Würdigung von zur Stützung einer behaupteten technischen Wirkung vorgelegten Beweismitteln befasst. Sie hat den Grundsatz der freien Beweiswürdigung nur in anderen Zusammenhängen behandelt, so im Kontext der Zulässigkeit eines im Auftrag eines Dritten gegen ein europäisches Patent eingelegten Einspruchs (verbundene Entscheidungen G 3/97 und G 4/97) und im Kontext der Zulässigkeit einer Beschwerde, die von einer Person eingelegt wurde, die auf den ersten Blick nicht dazu berechtigt zu sein schien (G 1/12).
36. In den verbundenen Entscheidungen G 3/97 und G 4/97 entschied die Große Beschwerdekammer (Punkte 1a, 1b und 2 der Entscheidungsformel in G 3/97 bzw. Punkte 3a, 3b und 4 der Entscheidungsformel in G 4/97, Hervorhebung durch die Kammer):
"Ein Einspruch ist nicht schon deswegen unzulässig, weil der als Einsprechender gemäß Regel 55 a) EPÜ Genannte im Auftrag eines Dritten handelt.
Ein solcher Einspruch ist aber dann unzulässig, wenn das Auftreten des Einsprechenden als missbräuchliche Gesetzesumgehung anzusehen ist.
Ob eine missbräuchliche Gesetzesumgehung vorliegt, ist unter Anwendung des Prinzips der freien Beweiswürdigung zu prüfen. Die Beweislast trägt, wer die Unzulässigkeit des Einspruchs geltend macht. Das Vorliegen einer missbräuchlichen Gesetzesumgehung muss auf der Grundlage eines klaren und eindeutigen Beweises zur Überzeugung des entscheidenden Organs feststehen."
37. In G 1/12 entschied die Große Beschwerdekammer (Entscheidungsformel, Hervorhebung durch die Kammer):
"Die umformulierte Frage 1 - nämlich ob es in dem Fall, dass eine Beschwerdeschrift entsprechend der Regel 99 (1) a) EPÜ den Namen und die Anschrift des Beschwerdeführers nach Maßgabe der Regel 41 (2) c) EPÜ enthält und behauptet wird, es sei aus Versehen die falsche Identität angegeben worden und die wirkliche Absicht sei es gewesen, die Beschwerde im Namen der juristischen Person einzulegen, die sie hätte einlegen sollen, möglich ist, diesen Fehler nach Regel 101 (2) EPÜ auf einen Antrag hin zu korrigieren, den Namen durch den des wahren Beschwerdeführers zu ersetzen - wird bejaht, sofern die Erfordernisse der Regel 101 (1) EPÜ erfüllt sind.
Im Verfahren vor dem EPA findet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung Anwendung. Dies gilt auch für den Problemkreis in dieser Vorlagesache.
Im Falle einer fehlerhaften Angabe des Namens des Beschwerdeführers greift nach den in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern aufgestellten Bedingungen das allgemeine Verfahren für die Berichtigung von Mängeln nach Regel 139 Satz 1 EPÜ."
Beweiswürdigung vor den Beschwerdekammern
38. Artikel 117 EPÜ regelt die Vorlage von Beweismitteln in den administrativen Verfahren vor der Eingangsstelle, den Prüfungs- und Einspruchsabteilungen und der Rechtsabteilung sowie in den gerichtlichen Verfahren vor den Beschwerdekammern (siehe CLB, 10. Auflage, III.G.1).
39. Die Beschwerdekammern haben sich in ihrer Rechtsprechung mit zahlreichen Fragen der Zulässigkeit von Beweismitteln und der Beweisaufnahme befasst. Sie haben außerdem besondere Grundsätze zur Beweiswürdigung, zur Beweislast und zur Beweislastverteilung entwickelt, die sicherstellen sollen, dass die Verfahren vor dem EPA fair und konsistent durchgeführt werden (siehe CLB, 10. Auflage, III.G.1 und die dort genannten Entscheidungen).
40. In Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung ist jedes wie auch immer geartete Beweismittel zulässig (siehe T 482/89 und T 558/95). Der Beteiligte ist in der Wahl seiner Beweismittel frei, die in Artikel 117 (1) EPÜ aufgeführten Beweismittel sind nur beispielhaft aufgezählt (siehe T 543/95 und T 142/97).
41. Grundlegende verfahrensrechtliche Ansprüche, die in den EPÜ-Vertragsstaaten allgemein anerkannt und in den Artikeln 113 (1) und 117 (1) EPÜ verankert sind, sind das Recht der Beibringung geeigneter Beweise und der Anspruch auf rechtliches Gehör (siehe T 1110/03). Die Entscheidung sollte auf die Tatsachen, Beweismittel und Argumente eingehen, die für die Entscheidung im Einzelnen maßgeblich waren (siehe z. B. T 278/00 sowie CLB, 10. Auflage, III.K.3.4.4 b) und die dort genannten Entscheidungen).
42. Ob eine Tatsache als bewiesen angesehen werden kann, ist vom zuständigen Entscheidungsorgan unter Berücksichtigung aller relevanten Beweismittel zu prüfen (T 474/04 und T 545/08 mit Verweis auf G 3/97, Nr. 5 der Entscheidungsgründe). Die Beweisaufnahme in jeder in Artikel 117 (1) EPÜ aufgeführten Form liegt im Ermessen dieses Organs und wird von ihm nur angeordnet, wenn es dies für notwendig erachtet (T 798/93). Bezieht sich das Beweisangebot zu streitigen und für die Lösung des Falls wesentlichen Tatsachen auf ein entscheidendes Beweismittel, so hat das Organ grundsätzlich seine Berücksichtigung anzuordnen (siehe T 474/04). Geeignete Beweisangebote der Parteien sollten ausgeschöpft werden (siehe T 329/02).
43. Sofern dagegen erachtet wird, dass nachveröffentlichte Beweismittel prima facie nicht relevant oder nicht erforderlich für die Entscheidung in der Sache sind, brauchen sie von der zuständigen Beschwerdekammer nicht berücksichtigt zu werden (z. B. T 122/18 und T 1343/19: Beweismittel prima facie nicht relevant; T 517/16, T 2923/18, T 2029/19, T 2963/19, T 3109/19: Beweismittel nicht erforderlich oder relevant; T 2730/16: behauptete technische Wirkung nicht mehr streitig).
44. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist erst nach Ausschöpfung des Beweisangebots anwendbar und kann nicht zur Rechtfertigung verwendet werden, angebotene Beweise nicht zu berücksichtigen (siehe T 1363/14, T 2238/15).
45. In Ausübung seiner Befugnis, im Einzelfall zu prüfen, ob die behaupteten Tatsachen hinreichend nachgewiesen sind, trifft das zuständige Entscheidungsorgan seine Entscheidung auf der Grundlage aller im Verfahren verfügbaren Beweise und aufgrund der freien Überzeugung, zu der es in der Frage, ob eine behauptete Tatsache sich tatsächlich zugetragen hat oder nicht, gelangt ist (siehe z. B. T 482/89, T 838/92, T 592/98, T 972/02 und weitere Beispiele und Verweise in CLB, 10. Auflage, III.G.4.1).
46. Obwohl sich in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterschiedliche Konzepte zum Beweismaßstab herausgebildet haben, ist diesen gemeinsam, dass die Beurteilung unter Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung erfolgen muss (siehe CLB, 10. Auflage, III.G.4.3 und die dort genannten Entscheidungen).
Grundsatz der freien Beweiswürdigung in den Vertragsstaaten
47. In Artikel 117 (1) EPÜ sind die Beweismittel aufgeführt, und Artikel 117 (2) EPÜ regelt in Verbindung mit den Regeln 4, 117 bis 124 und 150 EPÜ das Verfahren zur Durchführung der Beweisaufnahme. Allerdings enthält das EPÜ keine ausdrücklichen Verfahrensvorschriften zur Beweiswürdigung.
48. Daher sind gemäß Artikel 125 EPÜ die in den Vertragsstaaten des EPÜ im Allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts zu berücksichtigen.
49. Es scheint, dass der Grundsatz der freien Beweiswürdigung in einer Reihe von Vertragsstaaten des kontinentaleuropäischen Rechtskreises bekannt ist und angewandt wird.
Schweiz
50. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist auch in der Schweiz anerkannt. Die Schweizerische Zivilprozessordnung schreibt in Artikel 157 vor, dass sich das Gericht seine Überzeugung nach freier Würdigung der Beweise bildet, was vom Schweizerischen Bundesgericht als Verbot von förmlichen Beweisregeln ausgelegt wurde (siehe Urteil 5A_250/2012 vom 18. Mai 2012, Nr. 7.4.1 der Erwägungen mit weiteren Verweisen). Das Bundespatentgericht der Schweiz richtet sich in seinen Entscheiden nach dem genannten Artikel (siehe Artikel 27 des Patentgerichtsgesetzes).
Deutschland
51. In Deutschland ist der Grundsatz der freien Beweiswürdigung sowohl in § 93 (1) Patentgesetz als auch in § 286 Zivilprozessordnung verankert. Nach § 93 (1) PatG entscheidet das Patentgericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung.
Frankreich
52. In französischen Verfahren gilt grundsätzlich auch der Grundsatz, dass der Richter die ihm von den Beteiligten vorgelegten Beweise frei würdigt ("appréciation souveraine par le juge des éléments de preuve qui lui sont soumis"; siehe J. Passa, Traité de droit de la propriété intellectuelle, Band 2, Brevets d'invention, protections voisines, 2013, Nr. 151, S. 202 f.; J. Schmidt-Szalewski, Fasc. 4260 aus Jurisclasseur Brevets, Absatz 48 "appréciation de la preuve des antériorités"). Was die Neuheit betrifft, müssen allerdings Datum und Inhalt des angeblich die Erfindung offenbarenden Dokuments und seine Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit feststehen.
Niederlande
53. In den Niederlanden regelt Artikel 152 (2) der niederländischen Zivilprozessordnung (Wetboek van Burgerlijke Rechtsvordering) die freie Beweiswürdigung, sofern das Gesetz nichts anderes vorsieht ("De waardering van het bewijs is aan het oordeel van de rechter overgelaten, tenzij de wet anders bepaalt."). Diese Ausnahme betrifft Regeln zur Beweiskraft von Beweismitteln. Das Gericht ist verpflichtet, bestimmte Arten von Beweismitteln als wahr zu akzeptieren, wobei diese ihrerseits durch Beweismittel widerlegt werden können. Die niederländische Rechtsordnung bietet Richtern keine methodischen Leitlinien zur freien Beweiswürdigung; die Definition von C. H. van Rhee scheint aber eine akzeptierte allgemeingültige Definition des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung im niederländischen Zivilverfahrensrecht zu sein, wonach der Richter gemäß seiner "persönlichen Überzeugung", aber innerhalb der von den Beteiligten in ihren Tatsachenfeststellungen gesetzten Grenzen über Beweise entscheidet.
Vereinigtes Königreich (England und Wales)
54. Im Common-Law-System des Vereinigten Königreichs gibt es keinen allgemeinen Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Beweismittel in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit (das Naheliegen) gelten als "Tatfrage" (jury-type question), die nach Sachlage im Einzelfall zu entscheiden ist (siehe Terrel on the Law of Patents by C. Birss et al., 19. Auflage, 2020, S. 390 - 400 unter [12-177] - [12-212], mit vielen Beispielen und Verweisen). Der Court of Appeal hat in der Sache Mölnlycke vs. Procter & Gamble [1994] R.P.C. 49 unter [112] zwei Arten von Beweismitteln definiert und unterschieden: den primären Beweis (Sachverständigenbeweis) und den sekundären Beweis (alle sonstigen Beweismittel), wobei in Bezug auf das Naheliegen, für das ein objektiver Test angewendet wird, der primäre Beweis der relevanteste zu sein scheint, auch wenn der sekundäre Beweis ebenfalls als "entscheidend in einem konkreten Fall" behandelt werden kann (Accord vs. Medac [2016] EWHC 24 (Pat) unter [116]; siehe auch Schlumberger vs. EGMS [2010] EWCA Civ 819 unter [84] - [85]; Hospira UK Ltd vs. Cubist Pharmaceuticals Ltd [2016] EWHC 1285 (Pat); Positec Power Tools Europe Ltd vs. Husqvarna AB [2016] EWHC 1061 (Pat); Cantel Medical (UK) Ltd vs. Arc Medical Design Ltd [2018] EWHC 345 (Pat)).
Zwischenergebnis
55. Die Große Beschwerdekammer schließt aus diesen Überlegungen, dass der Grundsatz der freien Beweiswürdigung ein universell anwendbarer Grundsatz für die Bewertung von Beweismitteln durch eine Beschwerdekammer ist.
56. Beweismittel, die von einem Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis einer technischen Wirkung vorgelegt werden, auf die er sich für die Anerkennung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands beruft, dürfen daher nicht allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben, dass diese Beweismittel, auf denen die Wirkung beruht, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden.
57. Dies führt aber nicht unmittelbar zu einer Verneinung der Vorlagefrage 1, ohne die Vorlagefragen 2 und 3 beantworten zu müssen, die von einer Bejahung der Vorlagefrage 1 abhängen. Ungeachtet der konkreten Formulierung der Vorlagefragen erkennt die Große Beschwerdekammer an, dass der Kern dieser Vorlageentscheidung über den Wortlaut der Frage 1 hinausgeht.
58. Nach Meinung der Großen Beschwerdekammer ist das begriffliche Konzept, das dem oft als generisches Schlagwort verwendeten Begriff "Plausibilität" zugrunde liegt, keine gesonderte Voraussetzung für die Patentierbarkeit oder die Gültigkeit von Patenten, sondern ein Kriterium für die Stützung auf eine behauptete technische Wirkung. In diesem Sinne handelt es sich nicht um eine spezielle Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung, sondern eher um eine Tatsachenbehauptung und etwas, das ein Patentanmelder oder -inhaber nachweisen muss, damit er sich wirksam auf eine behauptete, aber streitige technische Wirkung berufen kann. Die Große Beschwerdekammer hat den Eindruck, dass die Beteiligten, der Präsident des EPA und die Mehrheit der Dritten dies ähnlich sehen.
59. Die Große Beschwerdekammer erkennt an, dass es - wie von den Beteiligten und vom Präsidenten des EPA angeregt - notwendig ist, Leitlinien für die Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung in Bezug auf nachveröffentlichte Beweismittel zu formulieren, auf die eine behauptete, aber streitige technische Wirkung gestützt wird.
Rechtsprechung betreffend die Stützung auf eine technische Wirkung zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit
Allgemeine Überlegungen
60. Vor Erörterung der Rechtsprechung der Beschwerdekammern verweist die Große Beschwerdekammer auf T 578/06, Nummer 13 der Entscheidungsgründe, in der die dortige Kammer darauf hinwies, dass das EPÜ keinen experimentellen Nachweis der Patentierbarkeit verlange; eine Offenbarung von Versuchsdaten oder -ergebnissen in der eingereichten Anmeldung und/oder in nachveröffentlichten Beweismitteln sei nicht immer erforderlich, damit als gesichert gelte, dass der beanspruchte Gegenstand die objektive technische Aufgabe löse. Die Beschwerdekammer verwies zwar auf T 893/02 und T 1329/04, betonte jedoch in Nummer 15 der Entscheidungsgründe, dass es nach dieser Rechtsprechung im Rahmen der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit nur dann darauf ankomme, eine glaubhafte Stützung auf eine behauptete technische Wirkung festzustellen, "wenn im betreffenden Fall begründete Zweifel daran bestehen können, dass die beanspruchte Erfindung geeignet ist, die gestellte technische Aufgabe zu lösen, und es daher keineswegs offensichtlich ist, dass die beanspruchte Erfindung die gestellte Aufgabe löst. Noch deutlicher ist dies bei Erfindungen, in denen die erfinderische Tätigkeit verneint wurde, weil die gestellte Aufgabe nicht als gelöst angesehen wurde."
61. In mehreren Entscheidungen haben die Beschwerdekammern nachveröffentlichte Beweismittel von der Berücksichtigung ausgeschlossen, weil ihr Inhalt dem Fachmann am maßgeblichen Datum nicht zur Verfügung stand (T 1791/11: als einzige Grundlage für den Nachweis, dass die Anmeldung die angeblich gelöste Aufgabe tatsächlich löst; T 125/12: zur Stützung einer Wirkung, die ausgehend von der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht plausibel war; T 1285/13: die erfinderische Tätigkeit ist zu dem für das Patent maßgebenden Stichtag anhand der im Patent enthaltenen Informationen in Verbindung mit dem zu diesem Zeitpunkt verfügbaren allgemeinen Fachwissen zu beurteilen; nachveröffentlichte Beweismittel dafür, dass der beanspruchte Gegenstand die zu lösende technische Aufgabe löst, werden berücksichtigt, wenn es ausgehend von der im Patent enthaltenen Offenbarung bereits glaubhaft erscheint, dass die Aufgabe tatsächlich gelöst wird; T 2348/13: die nachveröffentlichten Artikel D42 und D43 illustrieren nicht das allgemeine Fachwissen; T 488/16: da die nachveröffentlichten Dokumente als Erste offenbarten, dass die behauptete technische Aufgabe tatsächlich gelöst wurde, wurden diese Dokumente bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht berücksichtigt; T 1099/19: die behauptete technische Wirkung war an dem für das Patent maßgebenden Stichtag nicht glaubhaft gemacht, und die nachveröffentlichten Dokumente wurden nicht berücksichtigt, weil sie die erste über bloße Spekulation hinausgehende Offenbarung darstellten).
62. Es gibt auch Entscheidungen, in denen die zuständige Beschwerdekammer nachveröffentlichte Beweismittel berücksichtigt hat, die im Zusammenhang mit der Beurteilung einer beanspruchten technischen Wirkung eingereicht wurden, ohne jedoch zu einem anderen Ergebnis bei der Frage der erfinderischen Tätigkeit zu gelangen (T 179/16, T 978/16, T 1499/16, T 229/17, T 334/18, T 1306/18).
63. In T 108/09 wurden nachveröffentlichte Beweismittel berücksichtigt, weil diese nach Auffassung der Beschwerdekammer nicht die einzige Informationsquelle in Bezug auf die beanspruchte technische Wirkung waren, sodass die darin enthaltenen Daten bei der Beurteilung, ob die der Erfindung zugrunde liegende Aufgabe glaubhaft gelöst wurde oder nicht, verwendet werden konnten.
Analyse der Rechtsprechung
64. Die Große Beschwerdekammer ist sich der Rechtsprechung bewusst, die von der vorlegenden Kammer als Beispiel für verschiedene Ansätze angeführt wurde, wenn es darum geht, die Stützung auf eine behauptete technische Wirkung durch einen Patentanmelder oder -inhaber zu akzeptieren (siehe die vorstehenden Nrn. VI (6) bis (8) sowie die Nrn. 13.4 bis 13.6 der Gründe der Vorlageentscheidung). Da die Zahl der Entscheidungen über die Relevanz von nachveröffentlichten Beweismitteln wie Versuchsdaten für den Nachweis einer behaupteten technischen Wirkung für die Anerkennung der erfinderischen Tätigkeit im Kontext des Artikels 56 EPÜ zu groß ist, um sie im Detail zu erörtern, konzentriert sich die Große Beschwerdekammer auf eine Auswahl insbesondere neuerer Entscheidungen, in denen die Entwicklung der früheren Rechtsprechung ihren Höhepunkt zu finden scheint.
65. In T 31/18, Nr. 2.5.2 der Entscheidungsgründe, die von der vorlegenden Kammer als Rechtsprechung des Typs III (dritte Rechtsprechungslinie) kategorisiert wurde (siehe Nr. 13.6 der Gründe der Vorlageentscheidung, mit Verweis auf T 2371/13, Nr. 6.1.2 der Entscheidungsgründe), befand die Beschwerdekammer, dass die technische Wirkung, die gemäß dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz für die erfinderische Tätigkeit herangezogen wird, entweder explizit in der ursprünglich eingereichten Anmeldung erwähnt oder zumindest daraus ableitbar sein muss, aber nicht notwendigerweise von vornherein durch experimentelle Nachweise gestützt sein muss. Von einem Patentanmelder kann nicht erwartet werden, dass er eine Vielzahl experimenteller Nachweise für alle technischen Merkmale beifügt, die möglicherweise in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung beansprucht sein und in der Zukunft zu einem Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik werden könnten, weil dieser nächstliegende Stand der Technik und seine technische Offenbarung dem Patentanmelder am Anmeldetag vielleicht noch gar nicht bekannt sind.
Als Rechtsprechung des Typs I bezeichnete Entscheidungen
66. Die Entscheidung T 1329/04 wird von der vorlegenden Kammer als wichtiges Beispiel für das der Vorlagefrage 2 zugrunde liegende begriffliche Konzept (Typ I, siehe Nr. 13.4 der Gründe der Vorlageentscheidung) genannt. Die Beschwerdekammer in T 1329/04 hat nachveröffentlichte Beweismittel nicht berücksichtigt und letztlich die erfinderische Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands verneint, weil die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keine ausreichenden Beweise enthielt, um zumindest glaubhaft zu machen, dass für die angeblich gelöste Aufgabe auch tatsächlich eine Lösung gefunden worden war. Die entsprechende Begründung ist in den Nummern 10 und 11 der Entscheidungsgründe zu finden (Hervorhebung durch die Kammer):
"[...] wird in der Anmeldung [...] eingeräumt, dass "[...], die GDF-9-Sequenz deutlich von den Sequenzen anderer Familienmitglieder abweicht". Trotzdem werden Funktionen von Mitgliedern der TGF-Beta-Superfamilie, die zuvor aus ovarieller Follikelflüssigkeit isoliert wurden (Inhibine) oder nachweislich Ovarialkarzinome hemmen (MIS), genannt sowie vorläufig und präsumtiv GDF-9 zugeschrieben. Für GDF-9 werden noch weitere mutmaßliche Aufgaben vorgeschlagen, die einige der bei TGF-Beta beobachteten Wirkungen umfassen [...] Hier stellt sich also eher die Frage, wie viel Gewicht im Rahmen der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit etwaigen in der Anmeldung enthaltenen Spekulationen beigemessen werden kann, wobei es diese Beurteilung erfordert, dass vor Beginn der entsprechenden Argumentation der Sachverhalt festgestellt wird. Nach Meinung der Kammer ist das Aufzählen sämtlicher mutmaßlichen Funktionen einer bestimmten Verbindung nicht dasselbe wie der technische Nachweis einer konkreten Funktion.
Da ein wichtiges strukturelles Merkmal von TGF-9 und den Mitgliedern der TGF-Beta-Superfamilie nicht identisch ist und die Anmeldung keine funktionelle Charakterisierung von TGF-9 enthält, kommt die Kammer zu dem Schluss, dass die Anmeldung diesen Faktor nicht in ausreichendem Maße als Mitglied der betreffenden Familie identifiziert, d. h. keine ausreichenden Beweise enthält, um zumindest glaubhaft zu machen, dass für die angeblich gelöste Aufgabe auch tatsächlich eine Lösung gefunden wurde."
67. Gemäß T 235/13, T 787/14, T 488/16, T 2200/17, T 377/18, T 391/18 und T 1442/18 können nachveröffentlichte Beweismittel zur Stützung einer technischen Wirkung berücksichtigt werden, die von der zuständigen Beschwerdekammer bereits ausgehend von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung für plausibel erachtet wurde. Die folgenden Auszüge aus den genannten Entscheidungen scheinen für die jeweiligen Kammern bei ihren eigenen Feststellungen entscheidend gewesen zu sein:
T 235/13, Nummer 2.6 der Entscheidungsgründe:
"[...] die vorliegende Anmeldung, in der weder in der Offenbarung der Erfindung noch in der Würdigung des Stands der Technik auf eine Verbesserung einer Therapie hingewiesen wird, geschweige denn auf eine verbesserte Bioverfügbarkeit des therapeutischen Mittels. Daher verändert diese weitere Wirkung das Wesen der Erfindung und kann folglich nicht berücksichtigt werden."
T 787/14, Nummern 19 bis 21 und 23 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Somit kann der Fachmann den im Patent enthaltenen Informationen zur klinischen Studie V59P2 nicht entnehmen, dass die Patienten mindestens sechs Monate vorher und innerhalb eines Jahres nach ihrer Geburt mit einem Konjugat eines kapsulären Saccharids eines von N.meningitidis verschiedenen Organismus und eines Diphterietoxoids oder CRM197 vorimmunisiert wurden [...].
Dementsprechend kann eine etwaige aus der klinischen Studie V59P2 ableitbare vorteilhafte Wirkung der Zusammensetzung bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht berücksichtigt werden. Die Beschwerdeführerin kann sich auch nicht auf die nachveröffentlichten Dokumente [...] berufen: Die erfinderische Tätigkeit ist zu dem für das Patent maßgebenden Stichtag ausgehend von den darin enthaltenen Angaben in Verbindung mit dem zu diesem Zeitpunkt verfügbaren allgemeinen Fachwissen zu beurteilen. Ob die beanspruchte Lösung die Aufgabe tatsächlich löst, d. h. ob der beanspruchte Gegenstand tatsächlich die gewünschte Wirkung erzielt, ist auf der Grundlage der Daten in der Anmeldung zu prüfen, um zu vermeiden, dass eine Erfindung auf Wissen gestützt wird, das erst nach dem maßgebenden Stichtag verfügbar war. Nachveröffentlichte Beweismittel dafür, dass der beanspruchte Gegenstand die zugrunde liegende technische Aufgabe löst, können nur berücksichtigt werden, wenn ausgehend von der im Patent enthaltenen Offenbarung bereits glaubhaft erscheint, dass die Aufgabe tatsächlich gelöst wird [...].
Aus der vorstehenden Analyse schließt die Kammer, dass die zu lösende Aufgabe nicht wie vom Beschwerdeführer vorgebracht definiert werden kann, d. h. als Bereitstellung einer verbesserten Zusammensetzung, die eine bessere Immunantwort auf jede der Serogruppen auslöst. [...]
Dessen ungeachtet hätte der Fachmann nach Meinung der Kammer keinen Grund zu bezweifeln, dass die beanspruchte Zusammensetzung bei diesen Patienten auch eine steigerbare Immunantwort induziert, da es in der Fachwelt kein Vorurteil gab, dass die Vorimmunisierung mit Diphterietoxoid oder CRM197 zu einer Trägersuppression führen würde [...]."
T 488/16, Nummern 4.5, 4.9 und 4.19 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Nach Auffassung der Kammer genügt eine bloße Aussage, dass "sich die Verbindungen als wirksam erwiesen haben", ohne nachprüfbare technische Beweise nicht, um glaubhaft zu machen, dass die technische Aufgabe, deren Lösung die Anmeldung in Anspruch nimmt, [...] tatsächlich gelöst wurde, insbesondere im vorliegenden Fall, in dem die Erfindung auf eine sehr breit definierte Klasse von Verbindungen gerichtet ist, die Millionen strukturell sehr unterschiedlicher Kandidaten mit unbekannten Eigenschaften umfasst, bei der selbst die Beispiele eine breite strukturelle Variation aufweisen und es für jeden Fachmann von vornherein unwahrscheinlich ist, dass alle erfindungsgemäßen Verbindungen oder zumindest ein wesentlicher Teil von ihnen die behauptete PTK-hemmende Aktivität aufweisen. Im vorliegenden Fall gibt es auch keinen aktenkundigen Beweis dafür, dass der Fachmann am Anmeldetag über allgemeines Fachwissen verfügte, das es auch ohne entsprechende Daten glaubhaft machte, dass von den erfindungsgemäßen Verbindungen, insbesondere von Dasatinib, eine PTK-hemmende Aktivität erwartet werden konnte. Das Argument der Beschwerdeführerin, dass eine Reihe strukturell unterschiedlicher Verbindungen als PTK-Hemmer bekannt seien und sich in klinischen Studien befänden oder kurz vor der klinischen Entwicklung stünden [...], ist in diesem Zusammenhang nicht stichhaltig, da mangels Korrelation zwischen den strukturellen Merkmalen und der Funktion aus diesem Wissen keine Schlussfolgerung in Bezug auf die PTK-hemmende Aktivität von Dasatinib gezogen werden kann. [...]
Das nachveröffentlichte Dokument (9) [...] bestätigt [...] nicht nur die technische Wirkung, sondern offenbart auch ein spezifisches PTK-Profil, das Dasatinib als Inhibitor mit starker Anti-Tumor-Aktivität identifiziert [...]. Eine solche Offenbarung ist in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht enthalten. [...]
[D]ie nachveröffentlichten Dokumente (9) und (10) [sind] die ersten Offenbarungen [...], die belegen, dass die angebliche technische Aufgabe zumindest für bestimmte Thiazole, insbesondere Dasatinib, tatsächlich gelöst worden ist. Im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung werden diese Dokumente daher bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht berücksichtigt."
T 2200/17, Nummer 9.6 der Entscheidungsgründe:
"Im Zusammenhang mit der Frage, ob sich die Beschwerdegegnerin auf nachveröffentlichte Beweismittel [...] berufen darf oder nicht, bestritt die Beschwerdeführerin 1 in der mündlichen Verhandlung, dass die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung glaubhaft gemacht habe, dass die beanspruchte Verbindung zu einer gegenüber D4 verbesserten Anreicherung des Ausgangswirkstoffs führe. Hier geht es aber um eine verbesserte Anreicherung des Ausgangswirkstoffs gegenüber TD und TDF und nicht gegenüber D4. Zudem enthält die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung dieselben Beispiele 9 bis 11, die auch im Patent enthalten sind. Die vorstehende Schlussfolgerung, dass das Patent zeigt und damit glaubhaft macht, dass die beanspruchte Verbindung zu einer verbesserten Wirksamkeit und Anreicherung des Ausgangswirkstoffs gegenüber TD und TDF führt, gilt somit auch für die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung. Das Argument der Beschwerdeführerin 1 greift also nicht."
T 377/18, Nummer 3.3.1 der Entscheidungsgründe:
"Das Dokument (14) wird daher als nachveröffentlichtes Dokument behandelt. Laut der Beschwerdegegnerin zeigt dieses Dokument, dass "Regorafenib sogar bei Patienten wirksam war, die eine unzureichende Reaktion auf die Behandlung mit Sorafenib zeigten" (Eintrag 42 des Dokuments (5)). Die Beschwerdeführerin erklärte, dass das Dokument (14) keine Überlegenheit von Regorafenib gegenüber Sorafenib zeige. [...] Da die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung jedoch keinen Hinweis darauf enthält, dass Regorafenib bei Versagen der Behandlung mit anderen Wirkstoffen derselben chemischen Klasse, also den im Abschnitt "Hintergrund" mit Bezug auf Dokument (5) erörterten Diarylharnstoffen, eingesetzt werden könnte, können diese nachveröffentlichten Beweismittel bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht berücksichtigt werden."
T 391/18, Nummern 8.3 und 8.4 der Entscheidungsgründe:
"[D26] offenbarte die Ergebnisse einer klinischen Prüfung der Phase III mit der Bezeichnung C209 [...], in der zwei Behandlungen von HIV-Infektionen verglichen wurden, die einmal täglich erfolgten. [...] Kurz gesagt zeigte D26, dass eine Behandlung nach Anspruch 1, bei der der NNRTI (E-TMC278) in einer Dosis von 25 mg verabreicht wird, hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit einer Behandlung, wie sie in D15 offenbart ist, gleichzusetzen ist, bei der der NNRTI (Efavirenz) in einer Dosis von 600 mg verabreicht wird. Damit ist offensichtlich, dass die Tablettenlast bei der Behandlung nach Anspruch 1 eine wesentlich geringere ist als bei der des nächstliegenden Stands der Technik. [...] D26 belegt, dass eine Kombination von TMC278, Emtricitabin und Tenofovirdisoproxilfumarat gegenüber einer therapeutisch äquivalenten Kombination von Efavirenz, Emtricitabin und Tenofovirdisoproxilfumarat eine deutlich reduzierte Tablettenlast aufweist. [...]
Aufgrund der vorstehenden Ausführungen kommt die Kammer in Einklang mit den Angaben in den Absätzen [0003], [0009] und [0012] der Patentschrift zu dem Schluss, dass die objektive technische Aufgabe darin besteht, eine wirksame und sichere Behandlung von HIV-Infektionen mittels einmal täglicher Verabreichung bereitzustellen, wobei die Behandlung eine reduzierte Tablettenlast aufweist. Für die Kammer steht fest, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 diese Aufgabe löst."
T 1442/18, Nummer 7.1 der Entscheidungsgründe:
"Entgegen dem Vorbringen der Beschwerdeführerin hält es die Kammer daher für plausibel, dass eine sich auf eine oder mehrere dieser Eigenschaften stützende Erfindung schon am Anmeldetag des Streitpatents gemacht worden war. In diesem Zusammenhang eingereichte nachveröffentlichte Dokumente der Beschwerdegegnerinnen sind daher vorliegend bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu berücksichtigen."
68. Es gibt auch Entscheidungen, in denen nachveröffentlichte Beweismittel nicht berücksichtigt wurden, weil sie als einzige Grundlage für den Nachweis erachtet wurden, dass die technische Aufgabe tatsächlich gelöst worden ist. Diesen Entscheidungen zufolge können nachveröffentlichte Beweismittel, die zur Stützung des Arguments eingereicht werden, dass der beanspruchte Gegenstand die zu lösende Aufgabe löst, nur dann berücksichtigt werden, wenn dies bereits ausgehend von der im Patent enthaltenen Offenbarung glaubhaft erscheint:
T 415/11, Nummern 51 und 54 der Entscheidungsgründe:
"Der vorliegende Sachverhalt besteht darin, dass i) es weder im Patent noch im Stand der Technik Hinweise darauf gibt, dass die Stabilität einer MenC-Polysaccharid enthaltenden Formulierung durch Saccharose und einen amorphen organischen Puffer verbessert wird, und dass ii) laut Patent Stabilitätsprobleme durch Proteine verursacht werden. [...]
Abgesehen von dem Argument, dass die technische Aufgabe nicht gelöst ist, brachten die Beteiligten keine weiteren Argumente vor, beispielsweise zur Neuformulierung der technischen Aufgabe oder dazu, ob eine neuformulierte, gelöste Aufgabe angesichts des Stands der Technik als ebenso naheliegend angesehen werden könnte."
T 1791/11, Nummern 3.2.6 und 7 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"[...] Das Patent enthält [...] keine Versuchsdaten betreffend die beanspruchten Varianten (oder irgendwelche der vielen aufgeführten Varianten), sodass bei der Formulierung der technischen Aufgabe keine funktionelle Charakterisierung der Varianten durch einen behaupteten Vorteil berücksichtigt werden sollte. Würde die technische Aufgabe so formuliert, dass sie einen solchen Vorteil beinhaltet, wäre es andernfalls mangels jedweder Versuchsdaten in der Patentanmeldung nicht möglich zu schließen, dass diese Aufgabe glaubhaft gelöst wurde: dies würde also eine weniger anspruchsvolle Neuformulierung der technischen Aufgabe erfordern, was zu der Aufgabe führen würde, die die Kammer formuliert hat.
Die nachveröffentlichten Versuchsdaten aus D10, die tatsächlich zeigen, dass die beanspruchten Varianten eine bessere Waschleistung aufweisen als parentales BLSAVI (Tabelle 2), könnten nur dann berücksichtigt werden, wenn sie lediglich der Bestätigung dessen dienten, was durch die Patentanmeldung glaubhaft gemacht worden ist. Wie vorstehend erörtert [...], ist aus der Patentanmeldung selbst ersichtlich, dass noch nicht bekannt war, welche Varianten die Aufgabe lösen, und dass noch ein Versuch durchgeführt werden musste, um den behaupteten Vorteil zu bestätigen. Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass das Patent es nicht plausibel macht, dass der beanspruchte Gegenstand die von der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) formulierte technische Aufgabe löst, und dass die experimentellen nachveröffentlichten Beweismittel aus D10 tatsächlich die einzige Grundlage für den Schluss sind, dass die betreffende Aufgabe plausibel gelöst wurde."
T 1322/17, Nummer 4.4.7 der Entscheidungsgründe:
"Da eine technische Wirkung in Form einer stärkeren Reduktion von Knochenbrüchen für die in einem beliebigen Dosierungsintervall verabreichte spezifische Dosis von 150 mg Ibandronsäure in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht glaubhaft gemacht wurde, können nachveröffentlichte Beweismittel, im vorliegenden Fall das Dokument (22), nicht berücksichtigt werden. [...] Die nachveröffentlichten Daten bestätigen also nicht eine in der Beschreibung gemachte Aussage, sondern beziehen sich auf technische Wirkungen, die zumindest teilweise auf technischen Merkmalen beruhen, die nicht als mit der betreffenden Wirkung in Zusammenhang stehend offenbart wurden."
Als Rechtsprechung des Typs II bezeichnete Entscheidungen
69. Beispiele für Entscheidungen, bei denen nachveröffentlichte Beweismittel nur dann berücksichtigt wurden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der streitigen Patentanmeldung keinen Grund gesehen hätte, die Wirkung für unplausibel zu erachten, wie es der Vorlagefrage 3 zugrunde liegt (Typ II, siehe Nr. 13.4 der Gründe der Vorlageentscheidung), sind T 536/07, T 1642/07, T 1677/11, T 919/15, T 2097/15, T 184/16 und T 2015/20.
T 536/07, Nummern 9 und 11 der Entscheidungsgründe:
"Obwohl das Streitpatent keine Ausführungsbeispiele für den beanspruchten Gegenstand enthält und dieser nicht als bevorzugte Ausführungsart offenbart ist, hat der Fachmann a priori keinen Grund, ihn nicht als plausible Lösung der vorstehend genannten technischen Aufgabe zu betrachten. Zudem gibt es in der Akte nachveröffentlichte Beweismittel, die die Ausführbarkeit der vorgeschlagenen Lösung belegen (vgl. Dokumente D21 und D22).
Diese Situation unterscheidet sich von der der Entscheidung T 1329/04 vom 28. Juni 2005 zugrunde liegenden, wo die zuständige Kammer entschied, dass der beanspruchte Gegenstand keine plausible Lösung der ermittelten technischen Aufgabe bietet. [...] Im vorliegenden Fall enthält die Akte keinerlei Hinweis auf ein mögliches Vorurteil im Stand der Technik oder auf zu erwartende Schwierigkeiten bei der Ausführung der vorgeschlagenen Lösung. Auch wenn der beanspruchte Gegenstand im Streitpatent nicht als bevorzugte Ausführungsart offenbart ist, sind in den nachveröffentlichten Beweismitteln keine anderen Informationen zu finden, die dem Fachmann nicht bereits im Streitpatent zur Verfügung standen [...]."
T 1642/07, Nrn. 18, 21 und 22 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"[...] Allerdings stellt die Kammer fest, dass das EPÜ und vor allem Artikel 56 EPÜ kein Erfordernis enthalten, wonach eine Patentanmeldung Versuchsergebnisse zur Stützung der Patentierbarkeit oder einer beanspruchten technischen Wirkung umfassen muss. Daher steht die Tatsache an sich, dass die Offenbarung in einer Patentanmeldung lediglich theoretischer Natur ist und nicht durch Versuchsdaten gestützt wird, der Patentierbarkeit oder der Anerkennung einer technischen Wirkung nicht entgegen.
Entstanden ist diese Dichotomie, darauf weist die Kammer hin, zwischen einerseits der Offenbarung in der der Entscheidung T 1329/04 zugrunde liegenden Patentanmeldung (Fehlen der für die Zugehörigkeit zur TGF-Beta-Superfamilie erforderlichen sieben Cysteinreste mit ihrem besonderen Abstand bei einem Protein (in diesem Fall GDF-9) und Fehlen einer funktionalen Charakterisierung von GDF-9; siehe T 1329/04, Nr. 7 bzw. 9 der Entscheidungsgründe) und andererseits der Lehre im nachveröffentlichten Dokument (4), dass GDF-9 tatsächlich ein Wachstumsdifferenzierungsfaktor ist (siehe T 1329/04, Nr. 12 der Entscheidungsgründe). Folglich schlussfolgerte die damals zuständige Kammer, dass die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keine ausreichenden Beweise enthielt, um zumindest glaubhaft zu machen, dass für die angeblich gelöste Aufgabe auch tatsächlich eine Lösung gefunden worden war.
Alles in allem treffen die negativen Argumente der Prüfungsabteilung auf die vorstehend in Nummer 13 dargelegte weniger anspruchsvolle Aufgabe nicht mehr zu. Die Kammer sieht auch keinen Grund zu bezweifeln, dass die kombinierte Verabreichung von HSV und einem chemotherapeutischen Wirkstoff, der eine DNA-Schädigung induziert, die Zellabtötung über das Maß hinaus erhöhen kann, das bei einer Behandlungsmodalität allein beobachtet wird. Unter diesen Umständen können die nachveröffentlichten Dokumente [...] berücksichtigt werden."
T 1677/11, Nummer 9.5 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Der Sachverhalt im vorliegenden Fall unterscheidet sich jedoch wesentlich von dem der Entscheidung T 1329/04 zugrunde liegenden. [...] Im vorliegenden Fall stimmt die Struktur des beanspruchten Natriumsalzes von (-)-Omeprazol vollständig mit derjenigen der bekannten Klasse von Magensäureblockern überein. Damit ist die Lage eine ganz andere als in T 1329/04, wo festgestellt wurde, dass die strukturellen Merkmale des Polypeptids mit den von der Superfamilie erwarteten nicht übereinstimmten. [...] Aufgrund dieser Informationen sieht die Kammer a priori keinen Grund, warum der Fachmann dies als nicht plausibel erachten sollte, und es wurden auch keine diesbezüglichen Argumente vorgebracht. [...] Das Streitpatent enthält eine konsistente und nachprüfbare Offenbarung der wesentlichen Elemente einer bestimmten Struktur und des entsprechenden therapeutischen Nutzens. Unter diesen Umständen hält die Kammer es für angebracht, die eingereichten nachveröffentlichten Beweismittel bei der Beurteilung zu berücksichtigen, ob die ermittelte Wirkung tatsächlich zu beobachten ist."
T 919/15, Nummer 5.6 der Entscheidungsgründe:
"Der Kammer ist daher nicht ersichtlich, weshalb es dem Fachmann nach dem Studium der ursprünglichen Anmeldung nicht plausibel sein sollte, dass zwischen den in Anspruch 1 genannten Herbiziden (A) und (B) ein Synergismus auftreten kann. Argumente in dieser Hinsicht hat die Einsprechende 3 auch nicht vorgebracht. [...] Ohne gegenteilige Anhaltspunkte im allgemeinen Fachwissen kann somit für das Herbizid (A) enthaltende Herbizidkombinationen gerade nicht davon ausgegangen werden, dass ein Synergismus zwischen den in der ursprünglichen Anmeldung nicht getesteten Kombinationen per se unplausibel wäre. [...] Aus den oben genannten Gründen erkennt die Kammer im vorliegenden Fall an, dass ein Synergismus plausibel erscheint. Daher werden die nachveröffentlichten Dokumente [...] von der Kammer bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt."
T 2097/15, Nummern 2.2 und 2.2.2 der Entscheidungsgründe:
"In der ursprünglichen Anmeldung und in den Versuchsberichten D19 und D20 hat die Patentinhaberin gezeigt, dass die Kombination von Glufosinate-Ammonium, d. h. einem Herbizid (A) gemäß Anspruch 1, mit jedem der in Anspruch 1 genannten Herbizide (B) unter definierten Bedingungen synergistisch wirkt. [...]
In Analogie zu T 919/15 kann daher ohne gegenteilige Anhaltspunkte im allgemeinen Fachwissen für das Herbizid (A) enthaltende Herbizidkombinationen nicht davon ausgegangen werden, dass ein Synergismus zwischen den in der ursprünglichen Anmeldung nicht getesteten Kombinationen per se unplausibel wäre. Aus den oben genannten Gründen erscheint ein Synergismus plausibel. Die nachveröffentlichten Dokumente [...] werden daher bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt."
T 184/16, Nummern 2.5 bis 2.9 der Entscheidungsgründe:
"Im vorliegenden Fall enthält die Anmeldung in der eingereichten Fassung keine Versuchsergebnisse zur streitigen Plausibilität, d. h. zur Plausibilität, dass es sich bei den beanspruchten Verbindungen um SGLT2-Inhibitoren handelt. Es ist daher notwendig festzustellen, ob die Plausibilität vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens und des Stands der Technik trotzdem anerkannt werden kann.
Der Kammer liegt kein Hinweis vor, dass prima facie ernsthafte Zweifel bestehen, dass die beanspruchte therapeutische Wirkung erzielt werden kann, und die Beschwerdeführerin hat auch nicht vorgebracht, dass es derartige Hinweise gibt. Zudem gibt es keinen A-priori-Grund oder irgendeinen Hinweis im allgemeinen Fachwissen, dass die beanspruchte therapeutische Wirkung nicht erzielt werden kann.
[...] Angesichts des Vorstehenden hält die Kammer es für plausibel, dass die in Anspruch 12 definierte therapeutische Wirkung tatsächlich erzielt wird.
Der vorliegende Fall unterscheidet sich von T 1329/04 (Nrn. 11 bis 12 der Entscheidungsgründe), wo die Plausibilität nicht akzeptiert wurde. [...] Die Plausibilität wurde also verneint, und die nachveröffentlichten Beweismittel wurden nicht berücksichtigt. [...]
Daher kann das nachveröffentlichte Beweismittel D4 zur Stützung der Offenbarung in der Patentanmeldung berücksichtigt werden."
T 2015/20, Nummern 2.6, 2.7 und 5 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Abschnitt II.C.7.2 der Rechtsprechung der Beschwerdekammern [...] behandelt die in T 609/02 dargelegten Erwägungen sowie die Rechtsprechung im Anschluss an diese Entscheidung. [...] Insbesondere lässt weder T 609/02 noch die darauf beruhende Rechtsprechung eine Abweichung von der ständigen Rechtsprechung oder eine von den Richtlinien abweichende Auslegung erkennen, insbesondere was die ernsthaften Zweifel betrifft, die die Voraussetzung für einen überzeugenden Einwand mangelnder Offenbarung sind.
[...] In diesem Zusammenhang erachtet die Kammer die Aussage in der Anmeldung, dass die Behandlung von Atemwegserkrankungen, insbesondere Asthma und COPD, mit Aclidinium bei Verabreichung durch Inhalation in einer Nenndosis von etwa 400 µg am wirksamsten ist [...], als bedeutsame technische Lehre, die alles andere als eine Aufforderung zur Durchführung eines Forschungsprogramms ist und der es prima facie nicht an Plausibilität mangelt. Diese Lehre ist als solche falsifizierbar in dem Sinne, dass sie angefochten werden kann, und wird daher als Information in Form eines spezifischen technischen Beitrags angesehen, der über eine unzureichende verbale Erklärung hinausgeht. In Einklang mit der vorstehend [...] erörterten ständigen Rechtsprechung kann der beanspruchten Erfindung die hinreichende Offenbarung daher nicht abgesprochen werden, nachdem die Kammer zu dem vorstehend dargelegten Schluss gelangt ist, dass keine ernsthaften Zweifel an der angegebenen Eignung bestehen.
Die in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA entwickelten Ansätze zur Beurteilung der ausreichenden Offenbarung und erfinderischen Tätigkeit berücksichtigen [...] insbesondere den tatsächlich in einer Patentanmeldung offenbarten technischen Beitrag, um einen Patentschutz zu vermeiden, der sich aus unvernünftigen Spekulationen auf der Grundlage von Thesen ergibt, die prima facie nicht plausibel sind."
Zwischenergebnis
70. Die Große Beschwerdekammer nimmt Kenntnis von der durch die vorlegende Kammer vorgenommenen Klassifizierung der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zur Relevanz nachveröffentlichter Beweismittel, die zum Nachweis einer behaupteten technischen Wirkung für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit vorgelegt werden (siehe Nrn. 13.4 bis 13.6 der Gründe der Vorlageentscheidung).
71. Bei einer eingehenderen Analyse der Rechtsprechung und ungeachtet der terminologischen Konzepte für das, was die vorlegende Kammer in den Fragen 2 und 3 als zwei gesonderte Plausibilitätsansätze bezeichnet, entnimmt die Große Beschwerdekammer der Rechtsprechung der Beschwerdekammern jedoch als gemeinsame Basis, dass es im Kern um die Frage geht, was der Fachmann - ausgehend vom allgemeinen Fachwissen am Anmeldetag der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung - als technische Lehre der beanspruchten Erfindung versteht.
72. Diese Auffassung hat die Große Beschwerdekammer auf die genannten Entscheidungen angewandt - nicht um die Entscheidungen zu überprüfen, sondern um ihre Auffassung zu verifizieren - und ist zu der Überzeugung gelangt, dass das Ergebnis in keinem einzigen Fall anders ausgefallen wäre als die tatsächliche Feststellung der jeweiligen Beschwerdekammer. Unabhängig von der Verwendung des terminologischen Konzepts der Plausibilität scheinen die angeführten Entscheidungen zu zeigen, dass sich die einzelnen Beschwerdekammern jeweils auf die Frage konzentriert haben, ob die vom Patentanmelder oder -inhaber geltend gemachte technische Wirkung für den Fachmann aus der technischen Lehre der Anmeldungsunterlagen erkennbar war oder nicht.
Überlegungen betreffend die Rechtsprechung zur ausreichenden Offenbarung
73. Wie unter den vorstehenden Nummern 11 und 12 festgestellt, erfordern die Vorlagefragen keine Antwort betreffend die ausreichende Offenbarung und Artikel 83 EPÜ. Da jedoch das von der vorlegenden Kammer in den Fragen 2 und 3 herangezogene terminologische Konzept der Plausibilität und die Gründe dafür in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Patentierbarkeitserfordernis der ausreichenden Offenbarung zu finden sind, erkennt die Große Beschwerdekammer an, dass in dieser Hinsicht eine vergleichende Analyse und vergleichende Überlegungen angebracht sind.
74. Während die Fragen der ausreichenden Offenbarung (Artikel 83 EPÜ) und der erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ) sowie deren Beurteilung - wie von der vorlegenden Kammer in Nummer 13.3.1 der Gründe der Vorlageentscheidung richtig festgestellt - eindeutig getrennt und für sich allein zu behandeln sind, ist sich die Große Beschwerdekammer auch der Rechtsprechung insbesondere zu Ansprüchen auf eine zweite medizinische Verwendung bewusst, in denen das Konzept der "Plausibilität" angewendet wurde. Bei diesen Ansprüchen stellt sich die Frage der Stützung einer behaupteten technischen Wirkung durch nachveröffentlichte Beweismittel insbesondere im Kontext der ausreichenden Offenbarung.
Tatsächlich ist eine technische Wirkung (bei einem Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung z. B. in der Regel eine therapeutische Wirkung) ein Anspruchsmerkmal, sodass es eine Frage der ausreichenden Offenbarung nach Artikel 83 EPÜ ist, ob nachgewiesen worden ist, dass diese Wirkung erzielt wird.
Da sich der Gegenstand von Ansprüchen auf eine zweite medizinische Verwendung in der Regel auf ein bekanntes therapeutisches Mittel zur Verwendung in einer neuen therapeutischen Anwendung beschränkt, muss das Patent an seinem Anmeldetag plausibel machen, dass das bekannte therapeutische Mittel, d. h. das Erzeugnis, für die beanspruchte therapeutische Anwendung geeignet ist. In ihrer Entscheidung G 2/08 hat die Große Beschwerdekammer die rechtlichen und geschichtlichen Zusammenhänge betreffend die Patentierbarkeit von weiteren medizinischen Verwendungen erläutert.
75. In der von der vorlegenden Kammer angeführten Entscheidung T 609/02 (Nrn. 5 bis 9 der Entscheidungsgründe, Hervorhebung durch die Kammer) und in einigen im Kontext der erfinderischen Tätigkeit erörterten Entscheidungen hat die Beschwerdekammer ihre Feststellung betreffend unzureichende Offenbarung begründet:
"Die Patentschrift liefert keinerlei Nachweis für die Erfindung in Anspruch 6 [...]
Der Anmelder lieferte nachveröffentlichte Beweismittel, die belegten, dass Steroidhormone, wie sie für die Verwendung in dem Verfahren nach Anspruch 6 benötigt werden, später strukturell identifiziert wurden und tatsächlich eine Wirkung auf die AP1-stimulierte Transkription haben. [...]
Ausgehend vom Offenbarungsgehalt dieser nachveröffentlichten Dokumente argumentierte die Beschwerdeführerin, dass man durch die Ausführung der beanspruchten Erfindung zwangsläufig pharmazeutische Zusammensetzungen erhalte, denn die nachveröffentlichten Ergebnisse seien durch Nacharbeiten der Lehren des Streitpatents gewonnen worden. Ihrer Auffassung nach müsse die Offenbarung daher als ausreichend anerkannt werden. Dem kann sich die Kammer nicht anschließen. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung muss zu dem für das Patent maßgeblichen Stichtag erfüllt sein, d. h. auf der Grundlage der in der Patentanmeldung enthaltenen Informationen in Verbindung mit dem zu diesem Zeitpunkt verfügbaren allgemeinen Fachwissen bzw. auf der Grundlage dieses Fachwissens. Eine Offenbarung auf der Grundlage von erst nach diesem Tag veröffentlichten relevanten technischen Informationen als ausreichend anzuerkennen, würde zur Erteilung eines Patents für eine technische Lehre führen, die erst nach dem für das Patent maßgeblichen Stichtag verwirklicht wurde und somit für eine erst nach diesem maßgeblichen Stichtag gemachte Erfindung. Es gilt, den allgemeinen Grundsatz zu beachten, wonach der Umfang des durch ein Patent verliehenen Monopolrechts dem technischen Beitrag zum Stand der Technik entsprechen und durch diesen begründet sein soll.
[...] Das Patent muss gewisse Informationen, etwa in Form experimenteller Untersuchungen, enthalten, aus denen hervorgeht, dass sich die beanspruchte Verbindung unmittelbar auf einen Stoffwechselvorgang auswirkt, der speziell an der betreffenden Krankheit beteiligt ist, wobei dieser Vorgang entweder aus dem Stand der Technik bekannt ist oder in der Anmeldung an sich dargestellt wird. [...] Ist dieser Nachweis der Patentanmeldung zu entnehmen, so kann ein nachträglich veröffentlichtes (sogenanntes) Sachverständigengutachten (falls ein solches vorliegt) berücksichtigt werden, allerdings nur, um die Ergebnisse in der Patentanmeldung hinsichtlich der Verwendung des Stoffs als Arzneimittel zu untermauern, und nicht, um die ausreichende Offenbarung an sich nachzuweisen."
76. Weitere Beispiele für Entscheidungen im Einklang mit T 609/02 sind in folgenden Fällen zu finden:
T 1599/06, Nummern 6, 7.1, 7.2 und 8 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Damit eine therapeutische Anwendung als hinreichend offenbart akzeptiert wird, müssen die Anmeldung bzw. das Patent und/oder das allgemeine Fachwissen [...] Informationen enthalten, die dem Fachmann technisch plausibel darlegen, dass die beanspruchten Verbindungen für die beanspruchte therapeutische Verwendung geeignet sind (T 219/01 vom 15. Dezember 2004; T 609/02 vom 27. Oktober 2004). [...]
In der angefochtenen Entscheidung befand die Prüfungsabteilung, dass aus Daten in der Anmeldung, die eine immunschützende Wirkung für das 30-kDa-Protein oder das 32A?kDa-Protein belegen, keine Schlussfolgerung gezogen werden könne. Dabei stützte sie sich auf Beweise in Dokument D1, in dem unterschiedliche immunologische Eigenschaften der 30-kDa- und der 32A-kDa-Proteine bei einem Hauttest zur Untersuchung der Induktion von Überempfindlichkeitsreaktionen verzögerten Typs beschrieben sind. [...]
Die Verfasser des Dokuments D1 sehen einen möglichen Grund für diesen Unterschied jedoch in der Tatsache, dass das 32A-kDa-Protein "effizienter aus den Bakterien freigesetzt wird und die Dosis dieses Antigens daher durch die Verwendung abgetöteter Zellen zur Sensibilisierung deutlich reduziert werden kann" (S. 381, linke Spalte). Das Ausbleiben einer Reaktion ist also nicht unbedingt den immunologischen Fähigkeiten des Proteins zuzuschreiben, sondern den geringen Mengen, die in den zur Sensibilisierung verwendeten abgetöteten Bakterien vorhanden sind. Daher sind die Ergebnisse in Dokument D1, auf die die Prüfungsabteilung hingewiesen hat, nach Meinung der Kammer keine schlüssigen Beweise für einen Unterschied in der immunologischen Reaktivität der beiden Proteine. Folglich kann die Extrapolierbarkeit von in der Anmeldung enthaltenen Daten zur immunschützenden Wirkung des 30-kDa-Proteins auf das 32A-kDa-Protein durch die Offenbarung in Dokument D1 nicht infrage gestellt werden."
T 754/11, Nummer 25 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Wie von der Einspruchsabteilung festgestellt [...], ist es nicht erforderlich, experimentelle Nachweise für die beanspruchten medizinischen Verwendungen bereitzustellen, solange die zugrunde liegenden physiologischen Mechanismen eine solche Verwendung glaubhaft machen (vgl. u. a. T 609/02 vom 27. Oktober 2004, Nr. 9 der Entscheidungsgründe). Der zielspezifische RNA-Abbau ist in den Beispielen 1 bis 3 der Patentanmeldung ausreichend offenbart, sodass auch der in den Ansprüchen 13 bis 16 beanspruchte zielspezifische Abbau der mit der Erkrankung assoziierten RNA glaubhaft erscheint. Seite 8, Zeile 30 bis Seite 9, Zeile 26 enthält zudem Hinweise für die Herstellung einer Zusammensetzung für therapeutische Anwendungen. Schließlich enthält die Akte auch umfassende nachveröffentlichte Beweismittel, die diese Schlussfolgerung bestätigen (vgl. u. a. Dokument D36, S. 159, Tabelle 1). Diese Beweismittel können berücksichtigt werden, weil sie die Feststellungen und die Offenbarung des Patents lediglich bestätigen (vgl. vorstehend T 609/02)."
T 760/12, Nummern 3.3, 3.10 und 3.15 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Da diese Ansprüche [die Ansprüche 6 und 7] auf eine zweite medizinische Verwendung gerichtet sind, wird die technische Wirkung, d. h. die therapeutische Wirkung, im Anspruch definiert. Wird die technische Wirkung im Anspruch definiert, ist es eine Frage der ausreichenden Offenbarung, ob diese Wirkung im gesamten beanspruchten Bereich tatsächlich erzielt wird (G 1/03, ABl. 2004, 413, Nr. 2.5.2 der Entscheidungsgründe). Folglich muss die Anmeldung nach Artikel 83 EPÜ offenbaren, dass sich das herzustellende Erzeugnis für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet, es sei denn, dies ist dem Fachmann am Prioritätstag bereits bekannt (T 609/02, Nr. 9 der Entscheidungsgründe). Um festzustellen, ob das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung erfüllt ist, ist folglich zu prüfen, ob in der Anmeldung offenbart ist, dass sich der anspruchsgemäße Stoff potenziell dazu eignet, eine therapeutische Wirkung auf einen Tumor oder eine durch Angiogenese bedingte Erkrankung auszuüben, der bzw. die mit der Aktivierung von c-met assoziiert ist. [...]
Somit lehrt das Patent im Wesentlichen, die Beta-Kette zu antagonisieren, um die c-met-Aktivierung zu stören, doch war diese Lehre bereits aus dem Stand der Technik ableitbar, darunter D5, wo offenbart ist, dass die Beta-Untereinheit von HGF "für die durch HGF/SF induzierte optimale Aktivierung des met-Rezeptors entscheidend" ist (D5, S. 7446, rechte Spalte, Zeilen 11 bis 13). Das Patent belegt allerdings nicht, dass ein monoklonaler Antikörper mit den im Anspruch definierten funktionellen Merkmalen (Bindung an die aktivierte HGF-Beta-Kette und Hemmung der Bindung dieser aktivierten HGF-Beta-Kette an c-met) die c-met-Aktivierung hemmen würde. Der Fachmann müsste daher eine Forschungsreihe durchführen, ohne der Anmeldung eine Lehre darüber entnehmen zu können, wie sich die gewünschte Wirkung erzielen lässt, die c-met-Aktivierung mit einem einzelnen monoklonalen Antikörper zu hemmen (T 1466/05, Nr. 16 der Entscheidungsgründe). Daraus schließt die Kammer, dass im Patent nicht hinreichend offenbart ist, dass ein einzelner anspruchsgemäßer monoklonaler Antikörper potenziell die beanspruchte therapeutische Wirkung haben kann. [...]
Bei D30 und D41 handelt es sich um nachveröffentlichte Dokumente, die dem Fachmann zu dem für das Patent maßgebenden Stichtag nicht zur Verfügung standen. Zudem belegen sie nicht, dass die Lehre des Patents die Herstellung von Antikörpern mit den beanspruchten funktionellen Merkmalen und insbesondere mit der beanspruchten therapeutischen Wirkung ermöglicht, weil die dort offenbarten Antikörper nicht gegen die aktivierte Beta-Kette gerichtet sind."
T 895/13, Nummern 15 bis 18 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Allerdings ist der beanspruchte Impfstoff mit Tetanustoxoid als Träger im Patent nicht durch Beispiele belegt. Im Patent sind keine Daten für Meningokokken-Konjugate aufgeführt, die Tetanustoxoid als Träger verwenden.
Angesichts des wohlbekannten Phänomens der Trägersuppression, insbesondere im Zusammenhang mit Tetanustoxoid [...], und der bekannten Unvorhersehbarkeit der Trägersuppression im Zusammenhang mit Konjugatimpfstoffen [...] machen es die im Patent mit CRM197 als Träger erzielten Ergebnisse nicht glaubhaft, dass Meningokokken-Konjugate mit Tetanustoxoid als Träger für die erfolgreiche Immunisierung von Patienten geeignet sind, die mit Tetanustoxoid vorimmunisiert worden sind.
Unter diesen Umständen können nachveröffentlichte Beweismittel nicht für den Nachweis der ausreichenden Offenbarung berücksichtigt werden [...].
Angesichts dieser Überlegungen und im Lichte der Entscheidung T 609/02 erfüllt der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ, und der Antrag ist daher nicht gewährbar."
T 1045/13, Nummern 3.2 und 3.3 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Beschwerdeführerin sich einzig auf Versuchsergebnisse zur Stützung der therapeutischen Behandlung gemäß Anspruch 1 beruft. Die aktenkundigen experimentellen Nachweise belegen die beanspruchten Wirkungen jedoch nicht. Die Beispiele decken nicht den gesamten Schutzumfang des Anspruchs ab und enthalten keine Nachweise für eine therapeutische Wirksamkeit, die wissenschaftlichen Standards entsprechen (statistisch signifikante Zahl von Patienten, Kontrollgruppe). Eine wirksame Behandlung der betreffenden Krankheitsbilder wurde somit nicht nachgewiesen.
Daher kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht ausreichend offenbart ist (Artikel 83 EPÜ)."
T 2059/13, Nummern 4.5.3 und 4.6 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Die Akte enthält also keine Beweise dafür, dass der Fachmann am Anmeldetag des Streitpatents über das allgemeine Fachwissen verfügte, das ihn in Verbindung mit der Offenbarung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zu der direkten und eindeutigen Schlussfolgerung geführt hätte, dass 5-HT1A-Agonisten im Allgemeinen oder Verbindungen der Formel (1) im Besonderen für die Behandlung jeglicher Art von bipolarer Störung nützlich seien.
Somit offenbarte die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen am Anmeldetag nicht die Eignung von Verbindungen der Formel (1) für die Behandlung jeglicher Art von bipolarer Störung. Folglich sind die in T 609/02 dargelegten Mindestanforderungen für die Berücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel nicht erfüllt."
T 887/14, Nummern 3.6.11 bis 3.6.13 der Entscheidungsgründe:
"Zur Frage, ob es glaubhaft ist, dass andere makrozyklische Laktone derselben, in Anspruch 1 genannten Klasse ebenfalls eine Synergie mit Spinosad aufweisen würden, stellt die Kammer fest, dass das Patent selbst eine plausible mechanistische Erklärung liefert, warum dies der Fall wäre [...]. Mangels eines Gegenbeweises sieht die Kammer keinen Grund, dies nicht als vernünftige Annahme zu akzeptieren. Auch sieht sie keinen Grund, die betreffende Erklärung - wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht - wegen fehlender In-vivo-Daten im Patent zurückzuweisen, denn der In-vitro-Test nach Beispiel 2 kann, wie vorstehend erwähnt, als in vivo betrachtet werden, zumindest was die Flöhe betrifft.
In Anbetracht des Vorstehenden zeigen die Versuche in Beispiel 2 des Patents, D12, D13, D14, D15 und D26 glaubhaft, dass bei den meisten getesteten Verhältnissen Synergien vorliegen; die einzige konkrete Ausnahme bildet das in D12 (unter "Schlussfolgerungen") beschriebene Verhältnis von 1:1, das angeblich "eine rein additive Wechselwirkung widerspiegelt" (zwischen Spinosad und Milbemycin).
Infolgedessen hat die Kammer keine Zweifel, dass der Fachmann routinemäßig in der Lage wäre, ohne unzumutbaren Aufwand geeignete synergistische Verhältnisse von Spinosad zu dem konkreten, in Anspruch 1 genannten Makrolakton zu ermitteln."
T 321/15, Nummern 3.2.5 und 3.3 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"In Anbetracht all dieser Fakten erkennt die Kammer an, dass am Prioritätstag des Streitpatents die Verabreichung der beanspruchten Ernährungszusammensetzung an Säuglinge, bei denen das Risiko besteht, später im Leben Fettleibigkeit zu entwickeln, plausibel/glaubhaft die beanspruchten therapeutischen Wirkungen erzielen könnte. Die Nachveröffentlichungen D15 und D16 müssen bei der Beurteilung der ausreichenden Offenbarung nicht berücksichtigt werden, insbesondere nicht für die Eignung der beanspruchten Ernährungszusammensetzungen zur Erzielung der beanspruchten therapeutischen Wirkungen. Gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA können solche nachveröffentlichten Dokumente die Erwartungen des Fachmanns, der das Streitpatent liest und die Dokumente des Stands der Technik D1 und D2 kennt, nur bestätigen (T 609/02, Nrn. 9 und 13 der Entscheidungsgründe). Ob diese Dokumente tatsächlich die berechtigten Erwartungen des Fachmanns bestätigen, kann unbeantwortet bleiben, da die Kammer bereits, wie vorstehend erklärt, von der geltend gemachten Plausibilität überzeugt ist."
T 1680/17, Nummer 3 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Folglich machen es die mit der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung vorgelegten und im veröffentlichten Patent dargestellten Daten glaubhaft, dass die beanspruchte Zusammensetzung zur Behandlung von Brustkrebs geeignet ist. Zur Bestätigung wurde das Dokument (35), ein nachveröffentlichtes Beweismittel, eingereicht. Somit ist die anspruchsgemäße Erfindung im Patent ausreichend offenbart, und der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ steht der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegen."
T 1571/19, Nummern 1.2 und 1.16 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer):
"Die Erzielung der beanspruchten therapeutischen Wirkung ist ein funktionelles technisches Merkmal, das Anspruch 1 charakterisiert. Damit das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung erfüllt ist, muss das Patent also glaubhaft machen, dass die beanspruchte Futterzusammensetzung für die Behandlung der im Anspruch genannten Krankheiten geeignet ist [...]
Aus diesen Gründen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Gehalt an n-3-Fettsäuren und insbesondere EPA, in der CMS-Diät wesentlich höher war als in der Referenzdiät, ist es glaubhaft, dass - wie in den Absätzen [0009], [0010], [0011] und [0061] des angefochtenen Patents behauptet - Zusammensetzungen, die n-3-Fettsäuren in den beanspruchten Anteilen enthalten, für die Behandlung und Vorbeugung der betreffenden Erkrankungen geeignet sind. [...] Keinen Beleg gibt es hingegen dafür, dass der Fachmann ausgehend von den im Streitpatent enthaltenen Angaben und vom allgemeinen Fachwissen nicht in der Lage gewesen wäre, eine Zusammensetzung wie die in Anspruch 1 beschriebene herzustellen, die für die Behandlung der betreffenden Erkrankungen geeignet ist. Deshalb kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass die beanspruchte Erfindung ausreichend offenbart ist (Artikel 83 EPÜ)."
Zwischenergebnis
77. Die begründeten Feststellungen der Beschwerdekammern in den vorstehenden Entscheidungen machen deutlich, dass der Umfang, in dem nachveröffentlichte Beweismittel angezogen werden können, im Fall der ausreichenden Offenbarung (Artikel 83 EPÜ) wesentlich enger ist als in dem der erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ). Zur Erfüllung des Erfordernisses, dass die Offenbarung der Erfindung so deutlich und vollständig sein muss, dass ein Fachmann sie ausführen kann, muss der Nachweis einer beanspruchten therapeutischen Wirkung in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung erbracht werden, insbesondere dann, wenn die Erzielung dieser therapeutischen Wirkung ohne Versuchsdaten in der ursprünglich eingereichten Anmeldung für den Fachmann nicht glaubhaft wäre. Ein diesbezüglicher Mangel kann nicht durch nachveröffentlichte Beweismittel behoben werden.
Nationaler Rechtsrahmen und nationale Rechtsprechung betreffend die Stützung auf eine technische Wirkung zum Nachweis erfinderischer Tätigkeit
78. Gemäß der AIPPI-Studie von 2019 zur Plausibilität enthält keine der im Folgenden betrachteten Rechtsordnungen von EPÜ-Vertragsstaaten ein ausdrückliches Patentierbarkeitserfordernis in Bezug auf das, was in den Fragen 2 und 3 der Vorlageentscheidung als Plausibilitätskonzepte bezeichnet wird (siehe die Gruppenberichte für die Schweiz, Deutschland, Frankreich, das Vereinigte Königreich (England und Wales) und die Niederlande), dennoch ist sich die Große Beschwerdekammer der jeweiligen nationalen Rechtsprechung und Literatur bewusst. Nachstehend werden die verschiedenen Ansätze betreffend die Stützung der erfinderischen Tätigkeit durch eine behauptete technische Wirkung und die Relevanz nachveröffentlichter Beweismittel anhand von Beispielen aufgezeigt.
Schweiz
79. Die Gerichte in der Schweiz scheinen in dieser Hinsicht kein spezifisches Kriterium entwickelt zu haben, wie in der AIPPI-"Study Question" 2019 zur Plausibilität bestätigt wurde.
Die Große Beschwerdekammer nimmt Kenntnis vom jüngst ergangenen Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (4A_149/2021) in einer Beschwerde gegen einen Entscheid des Schweizerischen Bundespatentgerichts. Darin wird auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern verwiesen, wonach Vorteile bei der Formulierung der zu lösenden Aufgabe nur zu berücksichtigen sind, wenn der Fachmann die behauptete Wirkung aus den ursprünglich eingereichten Unterlagen vor dem Hintergrund des nächstliegenden Stands der Technik ableiten kann bzw. wenn diese Wirkung in den ursprünglich eingereichten Unterlagen angedeutet ist. Ohne eine solche Andeutung dürfen Gerichte davon ausgehen, dass die Erfindung lediglich eine Alternative und nicht eine Verbesserung gegenüber dem Stand der Technik darstellt und dass jeder nachfolgende Versuch des Patentinhabers, die Originalität der Erfindung nachzuweisen, irrelevant ist.
Deutschland
80. In der Literatur zum deutschen Patentrecht wird die Meinung vertreten (siehe Ackermann GRUR 2021, 3), dass die deutsche Rechtsprechung eine Stützung auf nachveröffentlichte Beweismittel nicht zulässt, wenn die darin dargestellten Vorteile einen wesentlichen Beitrag zur Erfindung leisten oder sogar deren Kern bilden. Die objektive Aufgabe, der sich der Fachmann gegenübersieht, kann nicht durch eine technische Lehre beeinflusst werden, die über die ursprüngliche Offenbarung hinausgeht.
In einem anderen Aufsatz (T. Exner/A. Hüttermann, GRUR 2018, 97) wurde die Rechtsprechung der Beschwerdekammern seit der Entscheidung T 1329/04 untersucht und festgestellt, dass die Forderung, dass eine behauptete Wirkung plausibel sein muss, dem klassischen deutschen Verständnis eher fremd ist.
81. Die Große Beschwerdekammer entnimmt dem Urteil "Erlotinib-Hydrochlorid" (3 Ni 20/15, Nr. II.3.c.5 der Entscheidungsgründe) des deutschen Bundespatentgerichts, in der auf eine Entscheidung der Beschwerdekammern (T 390/88) und zwei Beschlüsse des deutschen Bundesgerichtshofs (X ZB 3/69 - Anthradipyrazol; X ZB 2/71 - Imidazoline) verwiesen wird, dass nachveröffentlichte Beweismittel für eine behauptete technische Wirkung berücksichtigt werden können. Das Gericht hielt es für ausreichend, dass der beanspruchte Erfindungsgegenstand tatsächlich eine Verbesserung im Sinne eines therapeutischen Fortschritts erzielte bzw. ein bisher unerfülltes Bedürfnis der Öffentlichkeit am maßgeblichen Tag erfüllt wurde. Die behauptete Verbesserung musste nicht am Anmeldetag belegt sein; vielmehr konnten Belege zum Nachweis dieser Verbesserung nachgebracht werden.
Frankreich
82. Die einschlägige Rechtsprechungslinie in Frankreich scheint insbesondere im Zusammenhang mit der ausreichenden Offenbarung als Patentierbarkeitserfordernis und auf dem Gebiet der Chemie, genauer der Arzneimittel, Beachtung zu finden (z. B. Cour de cassation, 15-19726 - Merck vs. Teva; Tribunal de Grande Instance de Paris 07/16446 - Teva vs. Sepracor und 16/01225 - Ethypharm vs. MSD; siehe auch AIPPI-"Study Question" 2019 zur Plausibilität, Gruppenbericht für Frankreich). Nachveröffentlichte Beweismittel werden manchmal berücksichtigt, allerdings ohne dass explizit spezielle Kriterien aufgestellt worden wären. Entsprechende Dokumente werden insbesondere dann für relevant erachtet, wenn sie zur Stützung der Feststellungen in der Patentanmeldung angezogen werden, und weniger als Ausgleich für einen inhärenten Mangel. Die französische Rechtsprechung enthält größtenteils keine ausdrückliche Erörterung von Kriterien, die die Zulässigkeit nachveröffentlichter Dokumente mit dem Begriff der Plausibilität verknüpfen.
Niederlande
83. Auch die Gerichte in den Niederlanden scheinen den Begriff der Plausibilität nicht als gesondertes Konzept anzuwenden, sondern behandeln ihn gegebenenfalls als ein Element der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands oder der ausreichenden Offenbarung. Das Berufungsgericht (Gerechtshof) Den Haag stellte in seiner Entscheidung in der Sache Leo Pharma vs. Sandoz (200.195.459/01) fest, dass der Beitrag zum Stand der Technik aus der Perspektive des Durchschnittsfachmanns am Anmeldetag zu beurteilen ist und alle Wirkungen, die dieser am Anmeldetag nicht für plausibel erachtet hätte, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit unberücksichtigt bleiben müssen. Das Gericht erklärte, dass es keinen allgemeinen Plausibilitätsstandard gebe und der Patentinhaber die behauptete Wirkung in der Anmeldung nicht vollständig nachweisen müsse. Allerdings dürften die Feststellungen zur Wirkung nicht rein spekulativ sein. Wenn die Wirkung für eine Person mit durchschnittlichen Fachkenntnissen unter Berücksichtigung ihres Allgemeinwissens beim Lesen des Patents offensichtlich sei, sei es nicht erforderlich, die technische Wirkung in der Anmeldung zu offenbaren und zu belegen. Sei die Wirkung für die Person mit durchschnittlichem Fachwissen dagegen nicht offensichtlich, so sei die Schwelle für die Offenbarung der Wirkung höher. Eine spätere Entscheidung des Berufungsgerichts Den Haag in der Sache AstraZeneca vs. Sandoz (200.237.828/01), in der es befand, dass das Streitpatent die behaupteten Wirkungen plausibel mache, weicht nicht von diesem Ansatz ab. In der jüngeren Sache Bristol-Myers Squibb vs. Sandoz dagegen scheint sich das Bezirksgericht (Rechtbank) Den Haag (C/09/627925 / KG ZA 22-326 - Bristol-Myers Squibb Holdings Ireland vs. Sandoz) auf das zu berufen, was die vorlegende Kammer als "Typ-II-Plausibilität" erachtet; davon war jedoch das Berufungsgericht Den Haag mit Blick auf die Patentanmeldung nicht überzeugt.
Vereinigtes Königreich (England und Wales)
84. Die Entscheidung des High Court in Sandoz Ltd and another vs. Bristol-Myers Squibb Holdings Ireland Unlimited Co and another [2022] EWHC 822 (Pat) enthält eine Zusammenfassung der Rechtsprechung der nationalen Gerichte (Warner-Lambert vs. Generics [2018] UKSC 56, Fibrogen vs. Akebia [2021] EWCA Civ 1279) sowie der Beschwerdekammern (u. a. T 609/02) dazu, was die vorlegende Kammer unter dem konzeptionellen Begriff der Plausibilität erörtert. Der in Warner-Lambert vs. Generics [2018] verfolgte Ansatz wurde im Wesentlichen in den Entscheidungen des Court of Appeal Illumina Cambridge Ltd vs. Latvia MGI Tech SIA and others ([2021] EWCA Civ 1924) und FibroGen Inc. vs. Akebia Therapeutics Inc. and another; Astellas Pharma Inc. vs. Akebia Therapeutics Inc. and other companies ([2021] EWCA Civ 1279) bestätigt.
85. Nachveröffentlichte Beweismittel dürfen nur zur Bestätigung des Vorliegens einer technischen Wirkung angezogen werden, die im Lichte der Patentschrift und des allgemeinen Fachwissens des Fachmanns plausibel ist, und nicht zum erstmaligen Nachweis einer technischen Wirkung (siehe C. Floyd, GRUR 2021, 185; P. Johnson, GRUR 2019, 524; A. Slade, Intellectual Property Law Quarterly 2020, 180; A. J. K. Wells, Journal of intellectual property law & practice 2019, Band 14 Ausgabe 10, 784; siehe auch aus einer kritischeren Perspektive R. Jacob, Bio-Science Law Review 2020, 17(6), 223; alle mit zahlreichen weiteren Verweisen). Ein Beispiel für die Berücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel (Daten) ist die Entscheidung des Supreme Court in Warner-Lambert Company LLC vs. Generics (UK) Ltd (t/a Mylan) and another ([2018] UKSC 56), in der es jedoch um die Frage der ausreichenden Offenbarung ging. In dieser Entscheidung (Nr. 184 der Entscheidung) befand Lord Hodge, dass die Plausibilitätsprüfung im Kontext der ausreichenden Offenbarung es dem Gericht ermögliche, solche späteren Beweise zu berücksichtigen, um die Prognose zu rechtfertigen, wenn es im Patent eine Grundlage für die Prognose gebe. Er stimmte Lord Justice Floyd im Leiturteil des Court of Appeal (Warner-Lambert Company LLC vs. Generics (UK) Ltd, [2016] EWCA Civ 1006, Nr. 133 und auch Nr. 39) zu und betrachtete den Ausgang dieser Tests als Bestätigung der Schlussfolgerung des Richters, dass das Patent eine plausible Prognose enthalten habe. Lord Sumption (Nr. 41 der Entscheidung) und zwei weitere Richter befanden, dass solche später erlangten Beweise nur zulässig seien, um Ergebnisse zu bestätigen, die in der Patentschrift glaubhaft gemacht worden seien. Dieser Ansatz findet sich auch in den Entscheidungen des Patents Court in Actavis Group PTC EHF & Anr vs. Eli Lilly & Co ([2015] EWHC 3294 (Pat), Nr. 181 der Entscheidung) und in Saint-Gobain Adfors SAS vs. 3M Innovative Properties Co ([2022] EWHC 1018 (Pat)). Es gibt aber auch Beispiele für Entscheidungen, in denen solche nachveröffentlichten Beweismittel (Daten) nicht berücksichtigt wurden, so z. B. die Entscheidungen des Patent Court in Eli Lilly and Co and other companies vs. Genentech, Inc ([2019] EWHC 387 (Pat), Nr. 578) und in Generics (UK) Ltd (trading as Mylan) and another vs. Yeda Research and Development Company ([2017] EWHC 2629 (Pat), Nrn. 197 und 200).
Zwischenergebnis
86. Wie das EPÜ sehen auch die Rechtsordnungen der EPÜ-Vertragsstaaten kein explizites Patentierbarkeitserfordernis für das vor, was in der Vorlageentscheidung erörtert und in den Fragen 2 und 3 unter dem Begriff "Plausibilität" behandelt wird.
87. Ungeachtet der Tatsache, dass die vorgenannten Entscheidungen gestützt auf den jeweiligen maßgebenden Sachverhalt und die konkreten Vorbringen der Verfahrensbeteiligten erlassen wurden, erkennt die Große Beschwerdekammer insofern ein gewisses Maß an Gemeinsamkeit, als die Gerichte der EPÜ-Vertragsstaaten, die bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit eine behauptete technische Wirkung prüfen müssen und sich mit der Frage konfrontiert sehen, ob sich ein Patentinhaber zur Bestätigung dieser technischen Wirkung auf nachveröffentlichte Beweismittel berufen darf, sich mit der technischen Lehre des beanspruchten Gegenstands befassen, die der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen aus der Patentanmeldung ableitet.
Abschließende Überlegungen
88. Wie bereits vorstehend in den Nummern 55 bis 59 festgestellt, gilt in Verfahren nach dem EPÜ der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, der auch in zahlreichen EPÜ-Vertragsstaaten des kontinentaleuropäischen Rechtskreises bekannt ist.
89. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung beschreibt einen universell anwendbaren Grundsatz sowohl des Verfahrens- als auch des materiellen Rechts, etwaige Beweismittel zu prüfen, die von einem Beteiligten an einem Verfahren nach dem EPÜ vorgelegt werden, unabhängig davon, ob es sich um ein administratives Organ des EPA oder eine Beschwerdekammer handelt, die als zuständige Gerichtsinstanz Entscheidungen der administrativen Organe nach Artikel 106 (1) EPÜ überprüft.
90. Da der Grundsatz der freien Beweiswürdigung in dem Recht aller an Verfahren nach dem EPÜ Beteiligten verankert ist, gemäß den Artikeln 113 (1) und 117 (1) EPÜ geeignete Beweise zu erbringen, kann er nicht dazu herangezogen werden, Beweismittel per se nicht zu berücksichtigen, sofern ein Beteiligter sie zur Stützung einer Schlussfolgerung, deren Plausibilität infrage gestellt wird, vorgelegt hat und sich darauf beruft und sie für die abschließende Entscheidung entscheidend sind.
91. Beweismittel, die von einem Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis einer behaupteten technischen Wirkung vorgelegt werden und auf die er sich für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands beruft, dürfen daher nicht allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben, dass diese Beweismittel, auf denen die Wirkung beruht, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden.
92. Der Begriff "Plausibilität", der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu finden ist und auf den sich die vorlegende Kammer in den Fragen 2 und 3 der Vorlageentscheidung und in deren Entscheidungsgründen beruft, ist kein eigener Rechtsbegriff und kein spezifisches Patentrechtserfordernis nach dem EPÜ, insbesondere nicht nach Artikel 56 und 83 EPÜ. Er beschreibt vielmehr ein generisches Schlagwort, das in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, von einigen nationalen Gerichten und von Nutzern des europäischen Patentsystems verwendet wird.
93. Der maßgebliche Standard für die Stützung auf eine behauptete technische Wirkung bei der Beurteilung, ob der beanspruchte Gegenstand eine erfinderische Tätigkeit aufweist, ist die Frage, was der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen am Anmeldetag der ursprünglich eingereichten Anmeldung als technische Lehre der beanspruchten Erfindung verstehen würde. Die - auch zu einem späteren Zeitpunkt - geltend gemachte technische Wirkung muss von dieser technischen Lehre umfasst sein und dieselbe Erfindung verkörpern, denn eine solche Wirkung ändert nicht die Art der beanspruchten Erfindung.
94. Ein Patentanmelder oder -inhaber kann sich daher zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit auf eine technische Wirkung berufen, wenn der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen und auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung schlussfolgern würde, dass diese Wirkung von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wird.
95. Die Große Beschwerdekammer ist sich der Abstraktheit einiger der genannten Kriterien bewusst. Abgesehen davon, dass es im Rahmen der ihr in Artikel 112 (1) EPÜ übertragenen Zuständigkeiten nicht ihre Aufgabe ist, im Einzelfall zu entscheiden, bilden gerade die konkreten Umstände des Einzelfalls die Grundlage, auf der sich eine Beschwerdekammer oder ein anderes Entscheidungsorgan ein Urteil bilden muss, und das tatsächliche Ergebnis kann durchaus in einem gewissen Grad durch das technische Gebiet der beanspruchten Erfindung beeinflusst werden. Unabhängig von den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls dürften es die vorstehend dargelegten Leitlinien der zuständigen Beschwerdekammer oder einem anderen Entscheidungsorgan ermöglichen, eine Entscheidung zu treffen, ob bei der Beurteilung, ob der beanspruchte Gegenstand erfinderisch ist, nachveröffentlichte Beweismittel zur Stützung einer behaupteten technischen Wirkung herangezogen werden dürfen oder nicht.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden, dass die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen wie folgt zu beantworten sind:
1. Beweismittel, die von einem Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis einer technischen Wirkung vorgelegt werden und auf die er sich für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands beruft, dürfen nicht allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben, dass diese Beweismittel, auf denen die Wirkung beruht, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden.
2. Ein Patentanmelder oder -inhaber kann sich zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit auf eine technische Wirkung berufen, wenn der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen und auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung schlussfolgern würde, dass diese Wirkung von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wird.