T 1308/20 (Zeit-Sync-Master/SIEMENS) 20-04-2023
Download und weitere Informationen:
Verfahren zur Arbeitstakt- und Zeittaktsynchronisation in einem Automatisierungsnetzwerk
Neuheit - Hauptantrag (nein)
Zulassung von in der mündlichen Verhandlung vorgebrachtem Anspruchssatz - Hilfsantrag (nein): keine außergewöhnlichen Umstände
I. Die Beschwerde der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch zurückzuweisen.
II. Auf folgenden Stand der Technik wurde in der angefochtenen Entscheidung unter anderem Bezug genommen:
D5: DE 10 2006 013 640 A1.
III. Die Verfahrensbeteiligten stellten die folgenden Anträge:
- Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
- Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag). Sie erklärt zudem, hilfsweise solle das Patent im Umfang des im Einspruchsverfahren vorgelegten ersten Hilfsantrags vom 10. Dezember 2019 (Hilfsantrag) aufrechterhalten werden.
IV. In einer Mitteilung der Beschwerdekammer gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 brachte die Kammer ihre vorläufige Meinung zum Ausdruck, dass sowohl Artikel 100 a) i.V.m. 54 EPÜ als auch Artikel 100 c) i.V.m. 123 (2) EPÜ der Aufrechterhaltung des Streitpatents entgegenstünden.
V. Am 20. April 2023 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt, an deren Ende die Entscheidung der Kammer verkündet wurde.
VI. Anspruch 1 gemäß dem von der Einspruchsabteilung unverändert aufrechterhaltenen Patent (Hauptantrag) hat folgenden Wortlaut:
"Verfahren zur Arbeitstakt- und Zeittaktsynchronisation in einem Automatisierungsnetzwerk, umfassend eine Menge von zu koordinierenden Sync-Slaves (212, 218, 224) und
einen Zeit-Sync-Master (200), wobei die
Sync-Slaves (212, 218, 224) von dem
Zeit-Sync-Master (200) bezüglich des Zeittakts (202) durch die Versendung einer
Synchronisationsnachricht (206) synchronisiert werden,
dadurch gekennzeichnet, daß
die Sync-Slaves (212, 218, 224) mittels der Synchronisationsnachricht (206) den Zeittakt des
Zeit-Sync-Masters (200) als lokale Systemzeit (214, 220, 226) übernehmen und hieraus ihren Arbeitstakt (216, 222, 228) ableiten."
VII. Auf den Wortlaut des Hilfsantrags muss wegen der Gründe für seine Nichtzulassung (vgl. Gründe 3 unten) nicht eingegangen werden.
1. Technischer Hintergrund des Patents
Das Patent betrifft die zeitliche Synchronisierung innerhalb eines Automatisierungsnetzwerks, wobei "Slaves" den Zeittakt von einem "Zeit-Master" übernehmen und von diesem ihren Arbeitstakt ableiten.
2. Hauptantrag - Anspruch 1 - Neuheit (Artikel 100 a) und 54 EPÜ)
2.1 Anspruch 1 des Hauptantrags enthält folgende einschränkenden Merkmale (Gliederung der Kammer):
a) Verfahren zur Arbeitstakt- und Zeittakt-synchronisation in einem Automatisierungsnetzwerk,
b) umfassend eine Menge von zu koordinierenden
Sync-Slaves und
c) einen Zeit-Sync-Master,
d) wobei die Sync-Slaves von dem Zeit-Sync-Master
e) bezüglich des Zeittakts
f) durch die Versendung einer Synchronisations-nachricht synchronisiert werden,
g) wobei die Sync-Slaves mittels der Synchronisations-nachricht den Zeittakt des Zeit-Sync-Masters
h) als lokale Systemzeit übernehmen und
i) hieraus ihren Arbeitstakt ableiten.
2.2 Anspruchsauslegung
2.2.1 Der Begriff "Arbeitstakt" wird in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht weiter erläutert und wird von der Kammer lediglich als eine Folge von periodischen Ereignissen verstanden, die Vorgänge im Sync-Slave taktet, wie beispielsweise der Ausgabe- und Einlesetakt von Prozessgrößen oder der Takt eines Prozessors.
2.2.2 Gemäß Anspruch 1 "übernehmen" die Sync-Slaves den "Zeittakt" des Zeit-Sync-Masters als "lokale Systemzeit". Die Einspruchsabteilung hat dieses "Übernehmen" nun dahingehend ausgelegt, dass dies nicht als irgendeine Art von Synchronisierung interpretiert werden könne, sondern bedeute, dass ein außen anliegender Zeitwert als interner Zeitwert gesetzt werde. Dies würde sich aus folgendem Satz ergeben (vgl. Absatz [0039] des Streitpatents):
"Dieser Sync-Slave übernimmt in Schritt 104 die vom Zeit-Sync-Master mittels Synchronisierungsnachricht gesendete Uhrzeit beziehungsweise den Zeittakt, so dass die lokale Systemzeit des Sync-Slaves nun mit der extern vorgegebenen Uhrzeit übereinstimmt."
Dies würde wiederum deutlich machen, dass die Übernahme so gut wie unverzüglich stattfinden und beispielsweise der Zeitwert mit der nächsten wirksamen Taktflanke als lokale Systemzeit geladen würde.
Die Kammer folgt dieser, primär der Patentbeschreibung entnommenen, engen Auslegung nicht. Die "Übernahme" einer Uhrzeit eines "Masters" durch den "Slave" zeichnet sich dadurch aus, dass die Uhrzeit im Slave nach der Übernahme den gleichen Wert wie die Uhrzeit des Masters hat, so wie es auch der oben zitierte Satz aussagt. Wie genau die Werte in Übereinstimmung gebracht werden, wird von dem Begriff "übernehmen" nicht definiert. Zudem enthält der Begriff auch keine Einschränkung hinsichtlich der Zeitdauer, innerhalb der die Uhrzeit tatsächlich übernommen sein müsste. Die Kammer versteht "übernehmen" einer Uhrzeit bzw. eines Zeittakts daher dahingehend, dass die Werte der Uhrzeit im Master und im Slave in Übereinstimmung gebracht werden, unabhängig davon, ob dies durch direkte Speicherung eines vom Master übermittelten Werts im Slave oder durch Anpassen eines Werts im Slave geschieht.
2.3 Dokument D5 betrifft ein Datenübertragungssystem zur Verwendung in einem Automatisierungssystem (Titel; Absätze [0029] und [0030]; vgl. Merkmal a)). Dieses Datenübertragungssystem umfasst Teilnehmer 3, 4 und 5 ("Sync-Slaves") mit jeweils einem (Host-)Prozessor 6 und einem Kommunikations-Controller 9, wobei die Betriebssystem-Zeitbasis der Prozessoren 6 auf die "globale Zeitbasis" des Datenübertragungssystem synchronisiert wird (Zusammenfassung; Fig. 1; vgl. Merkmal b)).
Ein Ursprung der "globalen Zeitbasis", d. h. die für die Bereitstellung dieser Zeitbasis verantwortliche Systemeinheit, ist hier nicht genannt, muss aber implizit und zwangsläufig im beschriebenen System vorhanden sein und kann somit als "Zeit-Sync-Master" angenommen werden (Merkmal c)). Die Synchronisierung der lokalen und der globalen Zeitbasis erfolgt dann durch vom impliziten Zeit-Sync-Master versandten Synchronisierungsnachrichten, um die lokale Uhrzeit mit der globalen Uhrzeit in Übereinstimmung zu bringen (Absatz [0031]; vgl. Merkmale d) bis h)).
Über die Uhrzeit hinaus wird aber die gesamte Betriebssystem-Zeitbasis und damit alle auf dem Host ablaufenden Verarbeitungsfunktionen und Prozesse auf die "globale Zeitbasis" synchronisiert, d. h. sowohl die Uhrzeit bzw. der Zeittakt als auch der Arbeitstakt des Teilnehmers sind auf die globale Zeitbasis zu synchronisieren (Absatz [0020] und Absatz [0021], vorletzter Satz; vgl. Merkmal a)). Innerhalb jedes Teilnehmers wird nun zu diesem Zweck von dem "Kommunikations-Controller" ein Synchronisationstakt zur Verfügung gestellt (Absatz [0015]). Im System von D5 sind überdies sowohl die Zeitbasis bzw. der Zeittakt als auch der Arbeitstakt der Teilnehmer zur "globalen Zeitbasis" synchron und werden in den Teilnehmern erzeugt. Ob der Arbeitstakt auf der Grundlage des globalen oder des lokalen Zeittakts erzeugt bzw. davon abgeleitet wird, ist nicht konkretisiert, aber auch unerheblich, da global wie lokal der gleiche Zeittakt vorliegt. Darüber hinaus wird auch im Streitpatent keine diesbezügliche Unterscheidung gemacht. Der Arbeitstakt wird aus "dem Zeittakt" ohne Spezifizierung, ob lokal oder global, abgeleitet (vgl. Absätze [0010], [0011] und [0030]). Somit ist auch Merkmal i) aus D5 bekannt.
2.4 Dokument D5 offenbart mithin alle Merkmale des Verfahrens von Anspruch 1, das somit nicht neu ist (Artikel 54 EPÜ).
2.5 Die Beschwerdegegnerin argumentierte, dass D5 nicht unmittelbar und eindeutig einen Zeit-Sync-Master und damit auch nicht die Merkmale c) und d) offenbare. In D5 sei die Quelle der Synchronisationsnachrichten nicht explizit offenbart und der Ursprung der Nachricht offen gelassen. So wäre es denkbar, dass sich autonom agierende Busteilnehmer untereinander abstimmten. In diesem Fall gebe es eine allgemein vorhandene Zeitinformation, aber keine klare Rollenzuteilung und keinen koordinierenden "Zeit-Sync-Master".
2.6 Die Kammer ist davon nicht überzeugt. Wie auch von der Beschwerdegegnerin vorgebracht, ist dem "Zeit-Sync-Master" im Patent keine andere oder weitere Funktion als die Synchronisierung des Zeittakts durch Versendung der Synchronisierungsnachricht zugeordnet. Die in D5 implizit vorhandene Quelle der "globalen Zeitbasis", die in Form von "Synchronisierungsnachrichten" übertragen wird (vgl. Absatz [0005]), stellt somit durchaus einen "Zeit-Sync-Master" im Sinne des Streitpatents dar.
2.7 Artikel 100 a) i.V.m. 54 EPÜ steht daher der Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt entgegen.
3. Hilfsantrag - Zulassung
3.1 Das schriftliche Vorbringen der Beschwerdegegnerin beschränkt sich auf eine Erwiderung vom 26. November 2020 auf die Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin und führt zur Antragslage nur Folgendes aus:
"In der oben genannten Sache wird beantragt, die Beschwerde als unzulässig bzw. zumindest als unbegründet zurückzuweisen".
Zudem wurde in dem Schreiben vorgebracht:
"Sämtliche von der Einsprechenden vorgebrachten Argumente wurden bereits in dem erstinstanzlichen Einspruchsverfahren umfassend behandelt und die Patentinhaberin verweist daher auf die im schriftlichen Verfahren und in der Einspruchsentscheidung enthaltenen Ausführungen."
Ein expliziter, auf den Hilfsantrag vom 10. Dezember 2019, der in der angefochtenen Entscheidung wegen der Zurückweisung des Einspruchs nicht erörtert wurde, gerichteter Antrag wurde im schriftlichen Verfahren somit nicht vorgebracht (vgl. Artikel 12 (3) VOBK 2020: "Die Beschwerdebegründung und die Erwiderung müssen das vollständige Beschwerde-vorbringen eines Beteiligten enthalten [...] sie sollen ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel im Einzelnen anführen").
3.2 Der Hilfsantrag wurde somit erstmalig in der mündlichen Verhandlung gestellt, also nach Zustellung der Ladung. Seine Zulassung in das Beschwerdeverfahren unterliegt damit den Vorschriften des Artikels 13 (2) VOBK 2020.
3.3 Die Beschwerdegegnerin argumentierte, dass die "Ausführungen", auf die im Schreiben vom 26. November 2020 Bezug genommen worden ist, auch den im Einspruchsverfahren vorgelegenen Hilfsantrag umfassten.
Die Kammer ist nicht dieser Auffassung. Sie kann aus der obigen Formulierung in der Beschwerdebegründung nicht entnehmen, dass dadurch implizit der im erstinstanzlichen Verfahren gestellte Hilfsantrag nunmehr Teil des Beschwerdeverfahrens werden solle. Unter "Ausführungen" versteht die Kammer allenfalls Argumente, nicht aber Anträge. Außerdem enthält das vorgenannte Schreiben einen expliziten Antrag und lässt keine Unklarheit bezüglich der Antragslage erkennen, die Anlass für eine diesbezügliche Auslegung anderer Teile des genannten Schreibens bieten würde.
3.4 Nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass "außergewöhnliche Umstände" vorliegen.
3.5 Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin bereits mit der Beschwerdebegründung argumentiert, Anspruch 1 wie erteilt sei nicht neu gegenüber D5. Diese Sicht wurde in ihrer vorläufigen Auffassung von der Kammer in ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 bestätigt. Die Neuheit von Anspruch 1 gegenüber D5 ist im Übrigen auch in der mündlicher Verhandlung vor der Einspruchsabteilung erörtert worden (vgl. Punkt 8 des Protokolls) und Gegenstand der angefochtenen Entscheidung gewesen (vgl. Gründe 17). Die Neuheit von Anspruch 1 wie erteilt gegenüber D5 war somit seit der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung durchgehend ein zu erörternder Punkt. Ein vollständiges Beschwerdevorbringen hätte somit mögliche Rückzugspositionen für den Fall, dass im Beschwerdeverfahren Anspruch 1 gegenüber D5 als nicht neu angesehen werden sollte, bereits in der Beschwerdeerwiderung enthalten müssen. Es lagen also keine "außergewöhnlichen Umstände" im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020 vor, die das Einreichen des Hilfsantrags zu einem derart späten Verfahrensstand rechtfertigen könnten.
3.6 In Anbetracht des fortgeschrittenen Verfahrensstands und dem Fehlen von "außergewöhnlichen Umständen" wurde der Hilfsantrag nicht in das Verfahren zugelassen (Artikel 13 (2) VOBK 2020).
4. Da kein gewährbarer Anspruchssatz vorliegt, muss das Streitpatent widerrufen werden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.