T 0276/93 (Anwendbarkeit der Regel 71a EPÜ auf die Beschwerdekammern) 15-09-1995
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Der Großen Beschwerdekammer werden nach Artikel 112 (1) a) EPÜ folgende Rechtsfragen vorgelegt:
1. Kann der Verwaltungsrat im Rahmen seiner allgemeinen Befugnisse nach Artikel 33 (1) b) EPÜ eine bestehende Verfahrensordnung der Beschwerdekammern ändern, die er aufgrund seiner besonderen Befugnis nach Artikel 23 (4) EPÜ bereits genehmigt hatte?
2. Wenn ja, beschränkt Artikel 23 (3) EPÜ die Änderungen, die der Verwaltungsrat verfügen darf, und in welchem Umfang?
I. Mit Entscheidung vom 1. Februar 1993 hielt die Einspruchsabteilung das auf die Firma GE Chemicals Inc. lautende europäische Patent Nr. 0 197 728 in geändertem Umfang aufrecht.
II. Der Beschwerdeführer (Einsprechende), die Firma Bayer AG, legte gegen diese Entscheidung am 19. März 1993 unter Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde ein und reichte seine Beschwerdebegründung am 12. Mai 1993 nach. Mit Schreiben vom 29. November 1993 ging der Beschwerdegegner (Patentinhaber) ausführlich auf die Schriftsätze und die Beweismittel des Beschwerdeführers ein; dieses Schreiben wiederum erwiderte der Beschwerdeführer am 16. Dezember 1993.
III. Wesen und Umfang des einzigen zur Entscheidung durch die Kammer anstehenden Streitpunkts, nämlich der Frage nach der erfinderischen Tätigkeit, sind in den Schriftsätzen und schriftlichen Beweismitteln, die beide Beteiligte bis heute eingereicht haben, ausführlich und verständlich dargelegt.
IV. Da die Entscheidung der Kammer einzig und allein diese Frage betrifft und sich auf die bislang eingereichten Schriftsätze sowie etwaige einschlägige Argumente beschränken kann, die im Lauf der mündlichen Verhandlung zu deren Erläuterung oder Ergänzung vorgebracht werden, ist der Kammer nicht ersichtlich, was den Beteiligten in dieser Phase mitgeteilt werden sollte oder gar mitgeteilt werden müßte, um das Verfahren zu beschleunigen oder etwaige Fragen im Zusammenhang mit der Beschwerde zu klären. Es besteht daher kein Grund, daß die Kammer die Bestimmungen der am 1. Juni 1995 in Kraft getretenen Regel 71a EPÜ befolgt, wonach eine solche Mitteilung zwingend zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung zu ergehen hat. Nach Auffassung der Kammer ist die Sache verhandlungsreif, so daß es lediglich einer förmlichen Ladung zur mündlichen Verhandlung bedarf.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Bis zum Inkrafttreten der Regel 71a EPÜ hätte die vorstehend dargelegte Sachlage aufgrund des bestehenden Artikels 11 (2) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK), die vom Verwaltungsrat 1980 ordnungsgemäß im Rahmen seiner besonderen Befugnis nach Artikel 23 (4) EPÜ und den Regeln 10 und 11 EPÜ genehmigt worden ist, keinerlei Schwierigkeiten bereitet.
3. In Artikel 11 (2) VOBK heißt es wie folgt: "Die Kammer kann der Ladung zur mündlichen Verhandlung eine Mitteilung beifügen, in der auf Punkte, die von besonderer Bedeutung zu sein scheinen, oder auf die Tatsache, daß bestimmte Fragen nicht mehr strittig zu sein scheinen, hingewiesen wird; die Mitteilung kann auch andere Bemerkungen enthalten, die es erleichtern, daß die mündliche Verhandlung auf das Wesentliche konzentriert wird."
Regel 10 (2) EPÜ bestimmt, daß ausschließlich das Präsidium für die Regelung des Verfahrens vor den Beschwerdekammern nach Regel 11 EPÜ zuständig ist.
4. Beide vorstehend genannten Bestimmungen dienen zur Ausführung der Absätze 3 und 4 des Artikels 23 EPÜ, die gemeinsam die gesetzliche Grundlage für die Unabhängigkeit der Mitglieder der Beschwerdekammern und somit der Kammern selbst bilden. So heißt es insbesondere in Artikel 23 (3) EPÜ: "Die Mitglieder der Kammern sind für ihre Entscheidungen an Weisungen nicht gebunden und nur diesem Übereinkommen unterworfen." Und Artikel 23 (4) EPÜ bestimmt: "Die Verfahrensordnungen der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer werden nach Maßgabe der Ausführungsordnung erlassen. Sie bedürfen der Genehmigung des Verwaltungsrats."
Der Wortlaut des Artikels 23 (3) und (4) EPÜ ist in allen drei Amtssprachen verbindlich. Insbesondere Artikel 23 (4) EPÜ sieht in Verbindung mit den Regeln 10 und 11 EPÜ eine besondere Befugnis vor, die die dem Verwaltungsrat durch Artikel 33 (1) b) EPÜ verliehene allgemeine Befugnis außer Kraft setzt. Daraus folgt, daß die VOBK, sobald sie im Rahmen dieser besonderen Befugnis und auf dem vorstehend genannten Weg erlassen worden ist, nur durch die Ausübung eben dieser besonderen Befugnis auf eben diesem Weg wirksam geändert oder aufgehoben werden kann, da besondere Bestimmungen allgemeine Bestimmungen außer Kraft setzen: "generalibus specialia derogant".
5. Die Regel 71a EPÜ wurde vom Verwaltungsrat im Rahmen seiner allgemeinen und nicht seiner besonderen Befugnisse erlassen. Sie lautet wie folgt: "Mit der Ladung weist das Europäische Patentamt auf die Fragen hin, die es für die zu treffende Entscheidung als erörterungsbedürftig ansieht. Gleichzeitig wird ein Zeitpunkt bestimmt, bis zu dem Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eingereicht werden können. ..." Es liegt auf der Hand, daß die Regel 71a EPÜ eine zwingende Bestimmung ist, während es der Artikel 11 (2) VOBK in das Ermessen der Kammern stellt, der Ladung eine Mitteilung beizufügen. Zweifellos widersprechen sich die beiden Verfahrensbestimmungen unmittelbar, da die erstgenannte das durch die letztgenannte eingeräumte Ermessen wieder aufhebt.
6. In Anbetracht dieses Widerspruchs zwischen zwei Bestimmungen kommt nach Auffassung der Kammer Artikel 164 (2) EPÜ entscheidende Bedeutung zu; dort heißt es wie folgt: "Im Fall mangelnder Übereinstimmung zwischen Vorschriften des Übereinkommens und Vorschriften der Ausführungsordnung gehen die Vorschriften des Übereinkommens vor." Im vorliegenden Fall ist die einschlägige Bestimmung, zu der die Regel 71a EPÜ in Widerspruch steht, weil sie das durch die VOBK eingeräumte Ermessen aufhebt, der Artikel 23 (4) EPÜ, in dem die besondere Befugnis verankert ist, aufgrund deren die VOBK erlassen worden ist.
7. Somit stellt sich die Rechtsfrage, ob der Verwaltungsrat in Ausübung seiner allgemeinen Befugnis nach Artikel 33 (1) b) EPÜ von einer bestehenden Verfahrensordnung, die er aufgrund seiner besonderen Befugnis nach Artikel 23 (4) EPÜ in Verbindung mit den zu seiner Ausführung dienenden Regeln 10 und 11 EPÜ bereits rechtmäßig genehmigt hatte, abweichen oder sie aufheben kann. Diese Rechtsfrage hat sowohl rechtliche als auch vor allem praktische Gesichtspunkte, so daß ihr eine erhebliche Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) a) EPÜ zukommt. Diese Bedeutung erklärt sich wie folgt:
a) Die neue Regel 71a EPÜ verletzt die Unabhängigkeit der Beschwerdekammern, die sich wiederum von der in Artikel 23 (3) EPÜ konkret vorgesehenen Unabhängigkeit ihrer Mitglieder herleitet. Diese Unabhängigkeit und die Art und Weise, wie sie im Lauf des Entscheidungsfindungsprozesses regelmäßig ausgeübt wird, können nicht voneinander getrennt werden.
b) Die Frage der Anwendbarkeit der Regel 71a EPÜ auf die Beschwerdekammern wird von den Kammern unterschiedlich ausgelegt. Diese mangelnde Übereinstimmung in Verfahrensfragen muß dem Ruf der Kammern zwangsläufig schaden.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer werden nach Artikel 112 (1) a) EPÜ folgende Rechtsfragen vorgelegt:
1. Kann der Verwaltungsrat im Rahmen seiner allgemeinen Befugnisse nach Artikel 33 (1) b) EPÜ eine bestehende Verfahrensordnung der Beschwerdekammern ändern, die er aufgrund seiner besonderen Befugnis nach Artikel 23 (4) EPÜ bereits genehmigt hatte?
2. Wenn ja, beschränkt Artikel 23 (3) EPÜ die Änderungen, die der Verwaltungsrat verfügen darf, und in welchem Umfang?