W 0012/89 (Polysuccinatester) 29-06-1989
Die Große Beschwerdekammer wird mit folgenden Rechtsfragen befaßt:
1. Ist die Internationale Recherchenbehörde befugt, eine internationale Anmeldung materiellrechtlich auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit zu prüfen, wenn sie gemäß Artikel 17 (3) a) PCT untersucht, ob die Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach Regel 13.1 PCT erfüllt?
2. Wenn ja, unter welchen Umständen ist die Internationale Recherchenbehörde dann verpflichtet, diese materiellrechtliche Prüfung vorzunehmen?
3. Ist die am 1. Januar 1988 zwischen der EPO und der WIPO geschlossene Vereinbarung für das EPA als ISA und für die Beschwerdekammern des EPA bindend?
A posteriori festgestellte Nichteinheitlichkeit
Befassung der Großen Beschwerdekammer
I. Am 24. Oktober 1988 reichte der Anmelder die internationale Patentanmeldung Nr. ... beim Patent- und Markenamt der Vereinigten Staaten ein. Das Europäische Patentamt war Bestimmungsamt im Sinne des Artikels 2 xiii) PCT. Die Anmeldung enthielt 39 Ansprüche, nämlich die auf Schmiermittelgemische gerichteten Ansprüche 1 bis 7, 8 bis 21, 22 bis 27 und 31 bis 35, die auf bestimmte in dem Gemisch enthaltene Polysuccinatester gerichteten Ansprüche 28 bis 31 und die Ansprüche 36 bis 39, die Verfahren zur Verringerung der inneren Reibung eines Verbrennungsmotors betreffen, bei denen Schmiermittelgemische nach einem der vorhergehenden Ansprüche verwendet werden.
Von den vier unabhängigen Stoffansprüchen ist Anspruch 1 der weiteste; er lautet wie folgt:
"Schmiermittelgemisch, das eine größere Menge Mineralöl mit Schmierviskosität und eine kleinere Menge mindestens eines von cycloaliphatischen Gruppen im wesentlichen freien Polysuccinatesters mit einem Molekulargewicht von rund 1 000 bis 4 000 enthält und bei dem die Succingruppen des Polysuccinatesters Alkyl- oder Alkenylsubstituenten mit etwa 4 bis 28 Kohlenstoffatomen aufweisen"
II. Am 10. April 1989 erließ das Europäische Patentamt als zuständige Internationale Recherchenbehörde (ISA) gemäß Artikel 17 3) a) und Regel 40.1 PCT eine Aufforderung zur Zahlung sechs zusätzlicher Recherchengebühren (12 570 DEM), weil die Anmeldung die in Regel 13.1 PCT genannten Anforderungen an die Einheitlichkeit der Erfindung seiner Ansicht nach nicht erfüllte.
Diese Aufforderung stützte sich auf das Ergebnis einer Vorabrecherche, die insbesondere folgendes Dokument ergeben hatte:
US-A-3 117 091
In der Zahlungsaufforderung hieß es, daß dieses Dokument für den Gegenstand der Ansprüche 1 und 2 neuheitsschädlich sei; damit gehörten die Schmiermittelgemische, die Polysuccinatester verschiedener Untergruppen enthielten, nicht mehr zu einer gemeinsamen erfinderischen Idee, da sie sich strukturell voneinander unterschieden. Die ISA nannte daher sechs Gruppen von Ansprüchen, die jeweils einer anderen erfinderischen Idee zuzurechnen waren.
III. Am 23. Mai 1989 entrichtete der Anmelder eine zusätzliche Recherchengebühr unter Widerspruch gemäß Regel 40.2 c) PCT und beantragte gleichzeitig deren Rückzahlung.
Er bestritt, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 durch das obengenannte Dokument vorweggenommen werde, da sich dieses nicht auf die anmeldungsgemäßen polymeren Succinatester beziehe. Auch seien die anmeldungsgemäßen Ansprüche auf Stoffe und deren Herstellungsverfahren sowie auf diese Stoffe enthaltende Gemische gerichtet, so daß sie die Erfordernisse der Regel 13.1 i) PCT erfüllten. Der Anmelder verwies ferner auf die Entscheidung W 03/88 dieser Kammer (ABl. EPA 1990, 126), bei der in einem ähnlich gelagerten Fall (a posteriori festgestellte Nichteinheitlichkeit) die Rückzahlung der zusätzlichen Recherchengebühren angeordnet worden sei.
1. Gemäß Artikel 154 (3) EPÜ sind die Beschwerdekammern des EPA für Entscheidungen über Widersprüche der Anmelder gegen vom EPA gemäß Artikel 17 (3) a) PCT erhobene zusätzliche Recherchengebühren zuständig.
2. Sowohl die Zahlungsaufforderung als auch der Widerspruch erfüllen das Erfordernis der Regel 40 PCT und sind somit zulässig.
3. Nach Auffassung der Kammer berechtigt Artikel 112 (1) a) EPÜ die Beschwerdekammern dazu, Rechtsfragen, die sich in bei ihnen nach Artikel 154 (3) EPÜ anhängigen Verfahren stellen, von Amts wegen der Großen Beschwerdekammer vorzulegen, wenn eine einheitliche Rechtsanwendung gewährleistet werden soll oder wenn die Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung sind.
4. In der bereits genannten Entscheidung W 03/88 vom 8. November 1988 hatte diese Kammer geprüft, welche Befugnisse der Internationalen Recherchenbehörde (ISA) nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens (PCT) übertragen werden, und war zu der Auffassung gelangt, daß die ISA nach Artikel 17 (3) a) PCT weder verpflichtet noch befugt ist, vor der Erstellung des internationalen Recherchenberichts bei der Beurteilung der in Regel 13.1 PCT vorgeschriebenen Einheitlichkeit der Erfindung auch eine materiellrechtliche Prüfung der internationalen Anmeldung auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit durchzuführen.
In zwei späteren Entscheidungen lehnten es zwei andere Beschwerdekammern ab, der obengenannten Entscheidung zu folgen.
In der Entscheidung W 44/88 vom 31. Mai 1989 (ABl. EPA 1990, 140) wurde die Auffassung vertreten, daß die ISA nach dem PCT nicht nur befugt, sondern sogar verpflichtet sei, "a posteriori" festzustellen, ob das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung erfüllt sei, was zwangsläufig eine Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit erforderlich mache. In der Entscheidung W 35/88 vom 7. Juni 1989 wurde die Auffassung vertreten, daß das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach Regel 13.1 PCT sowohl in Kapitel I als auch in Kapitel II PCT dieselbe Bedeutung habe. Aufgrund dessen und aufgrund der Tatsache, daß das EPA nach der Vereinbarung zwischen der EPO und der WIPO vom 1. Januar 1988 verpflichtet sei, sich nach den von der WIPO herausgegebenen "Richtlinien für die internationale Recherche nach dem PCT" vom 18. November 1977 zu richten, in denen ausdrücklich darauf hingewiesen werde, daß die Nichteinheitlichkeit der Erfindung "a posteriori" festgestellt werden könne, müsse die ISA eine Prüfung auf erfinderische Tätigkeit durchführen, um über die Einheitlichkeit der Erfindung entscheiden zu können.
Die Kammer stellt hierzu fest, daß eine "a posteriori" vorgenommene Beurteilung der Einheitlichkeit der Erfindung in den obengenannten Richtlinien als Ermessenssache, in den erwähnten Entscheidungen hingegen als obligatorisch betrachtet wird.
Nach Ansicht dieser Kammer stehen die in diesen beiden Entscheidungen gemachten Aussagen der Argumentation in der Entscheidung W 03/88 über die richtige Auslegung der betreffenden Erfordernisse des PCT nicht entgegen.
Außerdem ändern die obengenannte Vereinbarung vom 1. Januar 1988 und die erwähnten Richtlinien nichts daran, daß die erste Pflicht der ISA und auch der Beschwerdekammern darin besteht, die im PCT enthaltenen Rechtsnormen in der richtigen Auslegung anzuwenden. Aus diesen Gründen möchte diese Kammer ihrer früheren Entscheidung W 03/88 auch im vorliegenden Fall folgen.
Somit steht fest, daß die Beschwerdekammern die in Artikel 17 (3) a) PCT enthaltenen Rechtsvorschriften über die Befugnisse und Pflichten der ISA nicht einheitlich anwenden.
Dieser Zustand ist unbefriedigend.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Große Beschwerdekammer wird mit folgenden Rechtsfragen befaßt:
1. Ist die Internationale Recherchenbehörde befugt, eine internationale Anmeldung materiellrechtlich auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit zu prüfen, wenn sie gemäß Artikel 17 (3) a) PCT untersucht, ob die Anmeldung das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach Regel 13.1 PCT erfüllt?
2. Wenn ja, unter welchen Umständen ist die Internationale Recherchenbehörde dann verpflichtet, diese materiellrechtliche Prüfung vorzunehmen?
3. Ist die obengenannte Vereinbarung vom 1. Januar 1988 für das EPA als ISA und für die Beschwerdekammern des EPA bindend?