Ludwik Leibler
Vitrimere - eine neue Klasse von Polymeren
Gewinner des Europäischen Erfinderpreises 2015 in der Kategorie Forschung
Indem Vitrimere bei Temperaturänderungen von einer festen Form in eine geschmeidige und biegsame Konsistenz übergehen, bieten sie völlig neue Anwendungsmöglichkeiten: von selbstheilenden Kunststoffen, die sich selbst reparieren, bis hin zu einem potenziellen künftigen Einsatz in der Chirurgie und der restaurativen Medizin.
Leibler und sein Team, zu dem auch die Fachkollegen François-Genes Tournilhac und Corinne Soulié-Ziakovic gehören, schafften den Durchbruch, als sie die Eigenschaften zweier Materialklassen miteinander kombinierten und so einen "supramolekularen" Werkstoff erhielten. Vitrimere bestehen aus molekularen Netzen, deren Bindungen nicht starr oder dauerhaft sind, sondern in einem dynamischen Gleichgewicht vorliegen: Einige lösen sich auf, während an anderer Stelle neue intramolekulare Bindungen entstehen. Daher haben Vitrimere Ähnlichkeit mit Duroplasten (Kunststoffe, die in Form gepresst und nach der Aushärtung nicht mehr verformt werden können), besitzen aber auch glasähnliche Eigenschaften, da sie bei Hitze geformt und geschweißt werden können.
Gesellschaftlicher Nutzen
In der Konsumgüterindustrie könnten Vitrimere bewirken, dass kaputte Kunststoffprodukte nicht so schnell auf dem Müll landen, denn sie wären einfach zu reparieren. Manche Kunststoffe brauchen Jahrhunderte, um zu verrotten. Zudem besteht aktuell 90 % des Mülls, der auf den Weltmeeren treibt, aus Plastik; eine Million Meerestiere verenden jährlich daran. Dank Vitrimeren könnten selbstreparierende Kunststoffe den Müll und die damit verbundenen Umweltbelastungen deutlich verringern, und die Verbraucher müssten kein Geld für Ersatzprodukte ausgeben.
Zu den medizinischen Anwendungsbereichen von Vitrimeren gehören Nanogele auf Wasserbasis, die "Nanobrücken" zwischen biologischen Geweben herstellen. Mit anderen Worten: Die flexiblen molekularen Eigenschaften von Vitrimeren können auf dynamische Weise die Wundränder offener Wunden verbinden, indem sie einen "organischen Klebstoff" bilden. Damit lassen sich z. B. Wunden schließen, die nicht genäht werden können.
Wirtschaftlicher Nutzen
Selbstheilende und thermoreversible Materialien auf der Basis von Vitrimeren könnten ganze Industriezweige revolutionieren, darunter z. B. die Herstellung von Surfbrettern und Flugzeugbauteilen aus Epoxid. Der weltweilte Markt für Epoxide und Härter hatte 2014 einen Wert von 6 Mrd. EUR, der bis 2019 mit einer jährlichen Wachstumsrate von 6,3 % voraussichtlich auf 8,24 Mrd. EUR ansteigen wird.
Wenn herkömmliches Epoxid einmal in Form gebracht wurde, lässt es sich nicht mehr schmelzen oder lösen. Alte Surfbretter können also nicht recycelt werden und landen Jahr für Jahr zu Tausenden auf dem Müll. Die Agentur SurfScience schätzt, dass jährlich 750 000 neue Surfbretter produziert werden, wobei rund 220 000 Tonnen CO2 entstehen. Ein "selbstreparierendes" Surfbrett aus Epoxid mit Vitrimeren könnte das Produktionsvolumen verringern, da die Lebensdauer der bestehenden Surfbretter deutlich länger wäre.
Funktionsweise
Bei Vitrimeren bleibt die Zahl der aktiven Molekularbindungen konstant, während sich ihre Organisation innerhalb des Netzwerks frei verändert. Solche Änderungen des molekularen Netzwerks können durch Hitze aktiviert werden, um so bei Bedarf neue Bindungen herzustellen. Das führt dazu, dass das Material formbar wird und wie Glas geschweißt werden kann.
Der Erfinder
Leibler ist international als Experte für Polymere und supramolekulare Chemie anerkannt und hat bisher 47 Patente angemeldet sowie 169 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht. Aktuell ist er Forschungsdirektor beim CNRS und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Er hat eine neue Klasse von "selbstvernarbendem Gummi" erfunden und wird bei verschiedenen Projekten als Berater für den Einsatz von Vitrimeren in Wissenschaft und Medizin herangezogen.
Wussten Sie das?
2014 gelang es Leiblers Team schon, mit einer wässrigen Lösung von Nanopartikeln zwei Gewebe in vivo zu reparieren. Besonders interessant ist diese Technologie für Organe, die sich nur schwer nähen lassen, weil sie beim Durchführen der Nadel rupturieren könnten.
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