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T 0261/20 01-10-2021
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NUTZFAHRZEUGREIFEN MIT NIEDRIGER QUERSCHNITTSHÖHE
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der der Einspruch gegen das europäische Patent 3061627 zurückgewiesen worden ist.
II. Die Einspruchsabteilung fand unter anderem, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 ausgehend von E9 (WO 01/00922 A) in Kombination mit E5 ("DAF Trucks au salon IAA 2014 de Hanovre", 23. September 2014) auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
III. Am 1. Oktober 2021 wurde vor der Beschwerdekammer mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das europäische Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Beschwerde der Einsprechenden zurückzuweisen.
IV. Anspruch 1 wie erteilt lautet wie folgt (Merkmalsgliederung gemäß der angefochtenen Entscheidung):
(A) "Nutzfahrzeugreifen aufweisend zumindest eine
Karkasslage (2), wobei die Karkasslage (2) Festigkeitsträger aufweist, welche aus
(B) Stahlkorden (9) der Konstruktion 1 + 18 aus einem
Kernfilament (10) und 18 dieses Kernfilament (10) umhüllenden Filamenten (11) in zwei Lagen bestehen,
(C) wobei die umhüllenden Filamente (11) der zwei
Lagen die gleiche Schlagrichtung und die gleiche Schlaglänge aufweisen,
(D) wobei der Durchmesser des Kernfilaments (10)
0,18 mm bis 0,22 mm beträgt,
(E) wobei der Durchmesser der umhüllenden Filamente
(11) 0,17 mm bis 0,20 mm beträgt und
(F) wobei die Schlaglänge der umhüllenden Filamente
(11) höchstens 12,5 mm beträgt,
dadurch gekennzeichnet, dass
(G) der Nutzfahrzeugreifen eine Querschnittshöhe (8)
von maximal 170 mm aufweist und
(H) dass alle Stahlfilamente (10), (11) der
Stahlkorde (9) eine Zugfestigkeit zwischen 2800 N/mm**(2) und 3200 N/mm**(2) aufweisen."
V. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Ausgehend von dem Reifen aus E9 in Zusammenschau mit der Lehre von E5 beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
E9 sei ein geeigneter und vielversprechender Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1, da die Offenbarung von E9 einer ähnlichen Verwendung entspreche und die geringste strukturelle und funktionelle Änderung erfordere, um die beanspruchte Erfindung zu erreichen.
Merkmal G stelle der einzige Unterschied des Gegenstands des Anspruchs 1 gegenüber dem Referenzreifen C-II aus E9 dar. Der Unterschied der Zugfestigkeit für das Kernfilament des Kords C-II zwischen 2718 N/mm**(2) und 2800 N/mm**(2) (Merkmal H) falle innerhalb der Messfehler und Fertigungstoleranzen der Zugfestigkeitsklasse NT ("Normal-Tensile") für Reifenstahlfilamente und könne somit keine erfinderische Tätigkeit begründen.
Das technische Problem, das in dem strittigen Patent genannt und durch das Merkmal G gelöst werde, hänge mit einer besonders niedrigen Achshöhe bei unveränderter Gesamthöhe des Fahrzeugs und einer größeren Ladehöhe zusammen (siehe Spalte 2, Z. 35-37 und 48-54).
E5, das der Darstellung eines Nutzfahrzeugs entspreche, gebe an, dass das Einsetzen von Niederquerschnittsreifen (315/45/R22.5) die Verwendung von Anhängern mit einer Innenhöhe von 3 Metern erlaube, ohne die maximale Höhe von 4 Metern des Fahrzeugs zu überschreiten, was damit das objektiv zu lösende Problem, ausgehend von E9 darstelle.
E5 empfehle daher die Verwendung dieser Reifengröße, die dem Beispiel des strittigen Patents entspreche, um das objektive technische Problem zu lösen. Der Reifen weise das Merkmal G auf, da seine Querschnittshöhe etwa 142 mm betrage.
Die durch Merkmale B bis G zusammen mit Merkmal H behauptete unerwartete zusätzliche technische Wirkung könne nicht eine erfinderische Tätigkeit für einen durch die Kombination von E9 mit E5 naheliegenden Nutzfahrzeugreifen begründen. Diese Wirkung sei als unerwartete Wirkung - Bonuseffekt zu bewerten.
VI. Die Beschwerdegegnerin entgegnete das Vorbringen der Beschwerdeführerin zusammenfassend wie folgt:
E9 stelle keinen nächstliegenden Stand der Technik dar, der kein erfolgversprechender Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sei, da E9 dem Fachmann keine Anregung vermittele, den in der Karkasse des Referenzreifens eingesetzten Stahlkord C-II als Verstärkung in der Karkasse eines Niederquerschnitts-Nutzfahrzeugreifens mit der besonderen Problematik hinsichtlich der Dauerhaltbarkeit der Karkasse - infolge der mit einem kleinen Biegeradius (wesentlich kleiner als bei den üblichen Nutzfahrzeugreifen mit großer Querschnittshöhe) auftretenden zyklischen Deformationen - einzusetzen. Da bei der Auswahl des nächstliegenden Standes der Technik zu bestimmen sei, dass dieser auf einen ähnlichen Zweck oder eine ähnliche Wirkung wie die Erfindung gerichtet sei, führten diesbezügliche Überlegungen hinsichtlich des Referenzreifens aus E9 in eine Sackgasse. Der Zweck der Referenzreifen C-II in E9 sei der, zu zeigen, dass die in E9 beschriebene Entwicklung besser sei, als der Referenzreifen. Somit ginge der Fachmann auch von diesem Reifen aus, nicht dem mit dem Referenz-Stahlkord C-II versehene Reifen.
Wenn man aber doch E9 als der nächstliegende Stand der Technik betrachten würde, wäre der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 für der Fachmann durch die Kombination mit E5 nicht nahegelegt. Obwohl der Unterschied dieses Gegenstands gegenüber dem Referenzreifen von E9 Merkmal H sei, könne man nicht die Formulierung der objektiven technischen Aufgabe lediglich auf die isolierte technische Wirkung des Merkmal H fokussieren, da der festgestellte überraschende technische Effekt aus der Kombination dieses Merkmals G mit den Stahlkorden der Merkmale B bis F und H zurückzuführen sei. Dieser Effekt sei eine hohe Dauerhaltbarkeit des Reifens, insbesondere in Folge der unerwartet geringen Biegeermüdung der Stahlkorde bei den mit einem kleinen Biegeradius (für Reifen mit niedriger Querschnittshöhe) auftretenden zyklischen Deformationen, vor allem auch unter besonderen Bedingungen, wie Fahrt mit hoher Last oder mit stark verringertem Luftdruck und/oder im Notlauf.
Das objektive technische Problem bestehe somit darin, einen Niederquerschnittsreifens für Nutzfahrzeuge mit einer besonders hohen Dauerhaltbarkeit insbesondere im Fall einer Fahrt unter besonderen Bedingungen wie einer Fahrt mit hoher Last und/oder bei einer Fahrt mit einem auf der Felge montierten Reifen mit stark verringertem Luftdruck und/oder im Notlauf, zur Verfügung zu stellen.
Die Lösung der dem Streitpatent zugrundeliegenden Aufgabe beruhe somit auf einem bislang nicht bekannten und nicht zu erwarten technischen Effekt, sodass eine Fachperson zur Erzielung dieses Effektes eine Kombination der Dokumente E9 und E5 überhaupt nicht in Betracht ziehen würde. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin seien auf einer rückschauenden Betrachtungsweise basierend, da der Fachmann ausgehend von E9 aus technischen Gründen davon abgehalten wäre, die Referenzkorde C-II in einen Reifen mit niedriger Querschnittshöhe zu versehen.
1. Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 beruht nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend von dem in E9 mit dem Referenz-Stahlkord C-II versehene Reifen als nächstliegendem Stand der Technik in Kombination mit der Lehre von E5 (Artikel 56 EPÜ).
1.1 Der in E9 offenbarte Nutzfahrzeugreifen unterscheidet sich von dem Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 durch Merkmal G, nämlich dass der Nutzfahrzeugreifen eine Querschnittshöhe (8) von maximal 170 mm aufweist. Dies war während der mündlichen Verhandlung unstrittig.
1.2 Die Beschwerdegegnerin bestritt, dass der mit dem Referenz-Stahlkord C-II versehene Reifen von E9 als nächstkommender Stand der Technik für die Anwendung des in den Verfahren des Europäischen Patentamtes etablierten Aufgabe-Lösungs-Ansatzes herangezogen werden könne. Zum einen sei E9 nicht auf einen Reifen mit niedrigen Querschnittshöhe gerichtet und bei der Auswahl des nächstliegenden Standes der Technik sei zu bestimmen, dass dieser auf einen ähnlichen Zweck oder eine ähnliche Wirkung wie die Erfindung gerichtet sei. Zum weiteren, selbst wenn der Fachmann von E9 starten würde, ginge er von dem mit dem Referenz-Stahlkord C-II versehenen Reifen nicht aus, sondern von dem Reifen mit dem in E9 als erfindungsgemäß offenbarten Stahlkord, da dieser explizit darin als die bessere Variante erklärt sei.
Die Kammer stimmt der Beschwerdegegnerin zu, dass der nächstliegende Stand der Technik derjenige ist, der einen erfolgversprechenden Ausgangspunkt für eine Entwicklung darstelle, die zur beanspruchten Erfindung führt. Dieser sollte auf einen ähnlichen Zweck oder eine ähnliche Wirkung wie die Erfindung gerichtet sein.
In diesem Zusammenhang geht das strittige Patent selbst von einem herkömmlichen Nutzfahrzeugreifen aus, mit einer Karkasslage mit einem Festigkeitsträger, und nicht von einem mit niedriger Querschnittshöhe versehenen Nutzfahrzeugreifen. Folglich stellt ein Reifen gemäß dem Oberbegriff des erteilten Anspruchs 1 wie der Referenzreifen mit den Korden C-II von E9 einen geeigneten und versprechenden Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1 dar.
Die Einspruchsabteilung (siehe Entscheidung, Punkt 3.3.1.2) sah in E9 keinen besseren Startpunkt für einen Angriff als die E5, und begründete es damit, dass die Problematik der Erfindung des Streitpatents gar nicht erwähnt werde. Dies ist aus Sicht der Kammer jedoch irrelevant, da die in einem Streitpatent gelöste Problematik typischerweise nicht im nächstliegenden Stand der Technik vorhanden ist, sondern irgendwo anderes als Hinweis zu finden ist. Dass die Korde C-II der E9 bei einem Reifen mit einem deutlich geringeren H/S-Wert von 45 (aus E5, 315/45R 22.5) viel stärker als beim Reifen der E9 beansprucht wären, schließt nicht aus, dass der Fachmann die Stahlkorden aus E9 (und zwar beide, sowohl die gemäß E9 erfindungsgehörend als auch den Reifen mit den Referenz Korden C-II) in einen Reifen mit niedrigen Querschnittshöhe einbauen und die Ermüdungsbeständigkeit testen würde (siehe auch Streitpatent Absatz [0009]). E9 zielt hauptsächlich auf einen Vergleich der Korden und motiviert damit den Fachmann dazu, diese Korde auch in anderen Reifenformaten auszuprobieren.
1.3 Eine der mit diesem Unterscheidungsmerkmal G verbundenen technischen Wirkungen ist unter anderem die Reduzierung der Achshöhe für eine mit solchen Reifen bestückte Achse eines Nutzfahrzeuges (siehe Spalte 2, Zeilen 48-54 des Streitpatents). Somit kann aus diesem sich ergebenden Unterschied zum Stand der Technik als objektive Aufgabe eine Vergrößerung der Ladehöhe und damit eine Vergrößerung des Volumens - Ladekapazität bei gleichbleibender Gesamthöhe des Nutzfahrzeuges angesehen werden.
1.4 Der auf dem Gebiet der Nutzfahrzeugreifen tätige und mit dieser Aufgabe konfrontierte Kraftfahrzeugingenieur kann das Dokument E5, das sich mit der Vergrößerung des Ladevolumens von Nutzfahrzeugen mit gleichbleibender maximaler Höhe beschäftigt (siehe Seite 2, letzter Absatz) nicht übersehen. Gemäß E5 wird für die gestellte Aufgabe eine Lösung gemäß Merkmal G vorgeschlagen. Insbesondere lehrt E5, dass unter anderem die Verwendung von Niederquerschnittsreifen (315/45/R22.5; d.h. Querschnittshöhe von 142mm) die Höhe der Sattelkupplung reduziert (d.h. eine geringe Achshöhe). Somit ist es möglich, Anhänger mit einer Innenhöhe von 3 Metern zu bauen, ohne die maximale Fahrzeughöhe von 4 Metern zu überschreiten.
Dass dadurch sich eine besondere Dauerhaltbarkeit und Ermüdungsbeständigkeit der Karkasse im Fall einer Fahrt unter besonderen Bedingungen, d.h. bei einer Fahrt mit hoher Last und/oder bei einer Fahrt mit einem auf der Felge montierten Reifen mit stark verringertem Luftdruck und/oder im Notlauf, erwiesen hat - wie im Patent offenbart und von der Beschwerdegegnerin vorgetragen-, sind zusätzliche Vorteile, die durch die Anwendung der Lehre von E5 entstehen (sogenannter Bonus-Effekt und unerwartete Wirkung; siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 9. Auflage, I.D.10.8).
1.5 In der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdegegnerin nur mit Merkmal G als Unterschied zu E9 argumentiert. Im schriftlichen Verfahren trug die Beschwerdegegnerin zusätzlich vor, dass das Kernfilament des Referenz-Stahlkord in E9 eine Zugfestigkeit von 2718 N/mm**(2) und nicht zwischen 2800 N/mm**(2) und 3200 N/mm**(2) offenbare.
Die Kammer folgt diesbezüglich der im schriftlichen Verfahren vorgetragene Ansicht der Beschwerdeführerin, dass selbst wenn dies einen Unterschied gegenüber den Stahlkorden des Anspruchs 1 darstellen sollte, dieser keine erfinderische Tätigkeit begründen kann. Der Wert von 2718 N/mm**(2) liegt sehr nah an der unteren Grenze von 2800 N/mm**(2) und die Beschwerdegegnerin hat diesem Unterschied keinen technischen Effekt zugeordnet. Die Abweichung für die Zugfestigkeit des Kernfilaments - 2718 N/mm**(2) zu 2800 N/mm**(2)(siehe Tabelle 1 auf Seite 23 von E9) - liegt innerhalb der Herstellungstoleranzen und Messfehlern und fällt somit unter einen NT Kord ("Normal-Tensile"; siehe Abs. [0006] des Streitpatents).
Die Kammer beurteilt daher den Unterschied zwischen 2718 N/mm**(2) und 2800 N/mm**(2) als nicht zur erfinderischen Tätigkeit beitragend.
1.6 Somit ergibt sich der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 in naheliegender Weise aus der Anwendung der Lehre von E5 auf einem Referenznutzfahrzeugreifen C-II von E9.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.