J 0902/87 (Geschäftsunfähigkeit) 17-08-1987
1. Eine Beschwerde gilt als ausreichend begründet im Sinne des Artikels 108 Satz 3 EPÜ, wenn sie sich auf einen neuen Sachverhalt bezieht, der, wenn er sich bestätigt, der angefochtenen Entscheidung die Rechtsgrundlage entzieht.
2. Nach Regel 90 EPÜ, die von Amts wegen angewandt werden muss, wird bei Geschäftsunfähigkeit des Anmelders oder seines Vertreters das Verfahren unterbrochen und gegebenenfalls die Ausschlussfrist nach Artikel 122(2) EPÜ gehemmt. Wird in einer Beschwerde gegen eine Entscheidung, die mit der Versäumung dieser Frist begründet worden ist, Geschäftsunfähigkeit geltend gemacht, so muss die Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung unter Berücksichtigung dieses neuen Sachverhalts an die erste Instanz zurückverwiesen werden.
3. Regel 90(4) EPÜ ist dahingehend auszulegen, dass der Zahlungstag für die während der Geschäftsunfähigkeit des Anmelders oder seines Vertreters fällig gewordenen Jahresgebühren auf den Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Verfahrens verschoben wird.
4. Stellt das EPA fest, dass eine Jahresgebühr nicht entrichtet worden ist, so entscheidet es nach Artikel 86(3) EPÜ, dass die entsprechende Patentanmeldung als zurückgenommen gilt; dabei ist es nicht befugt, die Umstände zu würdigen, auf die die Nichteinreichung zurückzuführen ist. Ist jedoch keine solche Entscheidung getroffen worden und kann der Anmelder oder sein Vertreter aufgrund der Auskünfte des EPA in gutem Glauben davon ausgehen, dass die Jahresgebühr ordnungsgemäss entrichtet worden ist, so gilt sie nach dem Grundsatz "error communis facit jus" für die Zwecke des Verfahrens als entrichtet.
Geschäftsunfähigkeit
Zulässigkeit der Beschwerde - fehlende Begründung
Hemmung der Ausschlussfrist nach Artikel 122(2) EPÜ (bejaht)
Unterbrechung - Fälligkeit der Jahresgebühren verschoben
Vertrauensschutz - falsche Auskunft des Amts
I. Die Beschwerdeführerin reichte am ... über einen zugelassenen Vertreter die europäische Patentanmeldung Nummer ... unter Inanspruchnahme der Priorität der Patentanmeldung ... ein.
II. Die Anmeldung wurde zusammen mit dem europäischen Recherchenbericht am ... unter der Nummer ... veröffentlicht. Da die Beschwerdeführerin bereits Prüfungsantrag gestellt und die entsprechende Gebühr entrichtet hatte, forderte ein Formalsachbearbeiter den Vertreter am ... gemäß Artikel 96 (1) und Regel 51 (1) EPÜ auf, dem Amt innerhalb von sechs Monaten nach der Veröffentlichung mitzuteilen, ob die Beschwerdeführerin ihre Patentanmeldung aufrechterhalte.
III. Da beim EPA innerhalb der angegebenen Frist keine Antwort einging, teilte die Eingangsstelle des EPA dem Vertreter am ... gemäß Artikel 96 (3) EPÜ mit, daß die Anmeldung als zurückgenommen gelte.
IV. Mit Schreiben vom ..., das beim EPA am ... einging, stellte ein anderer Vertreter, der mit einer am ... wirksam gewordenen Vollmacht bestellt worden war, einen Wiedereinsetzungsantrag für die Patentanmeldung. Die Wiedereinsetzungsgebühr wurde am ... und die Weiterbehandlungsgebühr am ... entrichtet, ohne daß ein förmlicher Antrag auf Weiterbehandlung (Artikel 121 (2) EPÜ) gestellt oder eine förmliche Erklärung über die Aufrechterhaltung des Prüfungsantrags abgegeben worden wäre. Mit Schreiben vom ... machte der neue Vertreter zur Stützung seines Antrags geltend, die Beschwerdeführerin habe erst bei einem Telefongespräch mit dem EPA am ... erfahren, daß der von ihr zuerst beauftragte Vertreter seinen Pflichten überhaupt nicht nachgekommen sei. Dem Schreiben lagen zahlreiche Unterlagen bei, die glaubhaft machen sollten, daß sich der frühere Vertreter um die Angelegenheiten seiner Mandantin überhaupt nicht gekümmert hatte. Der neue Vertreter gab zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags an, daß die Beschwerdeführerin alle in Artikel 122 EPÜ geforderte Sorgfalt aufgewendet habe, als sie einen zugelassenen Vertreter mit der Bearbeitung ihrer Patentanmeldungen beauftragt habe.
V. Im übrigen wurde für die dritte Jahresgebühr, die am ... fällig geworden und vom früheren Vertreter nicht entrichtet worden war, kein Wiedereinsetzungsantrag gestellt, obwohl dies noch möglich gewesen wäre; sie wurde auch von dem neuen Vertreter nicht entrichtet, obwohl dieser die vierte und fünfte Jahresgebühr am ... bzw. ... ordnungsgemäß entrichtete. Das Amt wies den neuen Vertreter nicht auf dieses Versäumnis hin.
VI. Mit Entscheidung vom ... wies ein Formalsachbearbeiter der Prüfungsabteilung den Wiedereinsetzungsantrag mit der Begründung zurück, er sei nicht fristgerecht innerhalb eines Jahres nach Ablauf der versäumten Frist, nämlich erst nach dem ..., gestellt worden.
VII. Die Beschwerdeführerin legte am ... gegen diese Zurückweisungsentscheidung mit der Begründung Beschwerde ein, sie könne Regel 90 (1) c) EPÜ in Anspruch nehmen, da der frühere Vertreter infolge einer schweren Erkrankung unfähig gewesen sei, sein Mandat richtig auszuüben. Die Beschwerdegebühr wurde am selben Tag entrichtet.
VIII. Mit einem Schreiben, das als "vertraulich" gekennzeichnet war und am ... beim EPA einging, reichte die Beschwerdeführerin ein am ... erstelltes ärztliches Gutachten sowie eine eidesstattliche Versicherung ein, die von zwei Zeugen am ... vor einem Notar abgegeben worden war.
IX. In einem Bescheid vom ... wies der Berichterstatter der Juristischen Beschwerdekammer die Beschwerdeführerin darauf hin, daß die Anmeldung wegen Nichtentrichtung der dritten Jahresgebühr als zurückgenommen gelte und die Beschwerde damit gegenstandslos sei. In seiner Erwiderung auf diesen Bescheid führte der Vertreter der Beschwerdeführerin aus, daß er sich unverzüglich telefonisch mit dem Europäischen Patentamt in Verbindung gesetzt habe, nachdem er von seiner Mandantin zu ihrem neuen Vertreter bestellt worden sei, um sich nach dem Verfahrensstand der vorliegenden Anmeldung sowie anderer vom früheren Vertreter eingereichter europäischer Patentanmeldungen zu erkundigen, für die ihn die Beschwerdeführerin ebenfalls zu ihrem neuen Vertreter bestellt habe. Das Amt habe ihm daraufhin mitgeteilt, daß die Jahresgebühren zu einigen Anmeldungen nicht entrichtet worden seien, zur vorliegenden Anmeldung jedoch nur angegeben, daß diese wegen Nichtbestätigung des Prüfungsantrags zurückgewiesen worden sei. In Anbetracht der Umstände habe er keine schriftliche Bestätigung verlangt und die Akte in dem guten Glauben weiterbearbeitet, daß die dritte Jahresgebühr ordnungsgemäß entrichtet worden sei; so habe er am ... einen Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Bestätigung des Prüfungsantrags gestellt und am ... die vierte Jahresgebühr entrichtet. Die Beschwerdeführerin hat die dritte Jahresgebühr am ... entrichtet.
1. Zulässigkeit der Beschwerde Vor einer sachlichen Prüfung der Beschwerde muß die Kammer nach Regel 65 EPÜ feststellen, ob sie formal zulässig ist.
1.1. Im vorliegenden Fall ist die Beschwerde innerhalb von zwei Monaten nach der Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrags eingelegt und die Beschwerdegebühr gleichzeitig entrichtet worden; die Beschwerde gilt damit gemäß Artikel 108 Satz 1 und 2 EPÜ als eingelegt. Sie muß jedoch gemäß Artikel 108 Satz 3 EPÜ innerhalb von vier Monaten nach Zustellung der Entscheidung schriftlich begründet werden. Fehlt diese Begründung, so ist die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen (Regel 65 (1) EPÜ).
1.2. Von der Beschwerdeführerin ist kein Schriftstück mit der Bezeichnung "Beschwerdebegründung" eingereicht worden. In der am ... eingereichten Beschwerdeschrift heißt es jedoch: "Diese Beschwerde stützt sich im wesentlichen darauf, daß die Beschwerdeführerin der Auffassung ist, Regel 90 (1) c) der Ausführungsordnung in Anspruch nehmen zu können, wonach das Verfahren vor dem EPA bei Geschäftsunfähigkeit des Vertreters unterbrochen wird." Im übrigen hat die Beschwerdeführerin der Kammer mit einem vertraulichen Schreiben, das am ... beim EPA einging, Unterlagen zugesandt, die die Geschäftsunfähigkeit des früheren Vertreters glaubhaft machen sollen.
1.3. Nach Auffassung der Kammer geht aus der Beschwerdeschrift in Verbindung mit den später eingereichten Unterlagen klar hervor, daß die Beschwerdeführerin die Aufhebung der Entscheidung des Formalsachbearbeiters der Prüfungsabteilung mit der Begründung beantragt hat, daß die in Artikel 122 (2) EPÜ vorgesehene Ausschlußfrist von einem Jahr in Anwendung der Regel 90 EPÜ als gehemmt hätte angesehen werden müssen. Infolgedessen hätte der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Bestätigung des Prüfungsantrags nicht als unzulässig verworfen werden dürfen, sondern als innerhalb der Frist nach Artikel 122 EPÜ gestellt gelten und sachlich geprüft werden müssen.
1.4. Nach Auffassung der Kammer genügen die von der Beschwerdeführerin angegebenen Gründe den Erfordernissen des Artikels 108 Satz 3 EPÜ, obwohl sie sich auf einen neuen Sachverhalt stützen, der von Rechts wegen eigentlich schon vor der ersten Instanz hätte geltend gemacht werden müssen; bestätigt sich nämlich dieser neue Sachverhalt, so würde der angefochtenen Entscheidung die Rechtsgrundlage entzogen (s. hierzu die Entscheidung J 22/86 vom 7. Februar 1987 "Medical Biological Sciences", Nr. 2 und 3). Die Beschwerde ist somit zulässig.
2. Sachliche Prüfung der Beschwerde
2.1. In ihrem Schreiben vom ... hat die Beschwerdeführerin die Wiedereinsetzung der betreffenden Patentanmeldung in den früheren Stand beantragt und zur Begründung geltend gemacht, sie habe alle gebotene Sorgfalt aufgewendet, als sie einen beim EPA zugelassenen Vertreter mit der Bearbeitung der Patentanmeldung beauftragt habe; man könne ihr keinen Vorwurf daraus machen, daß sie ihrem Vertreter voll vertraut habe. Gleichzeitig entrichtete sie die Wiedereinsetzungsgebühr und zwei Tage später die Weiterbehandlungsgebühr; sie hat jedoch entgegen Artikel 122 (2) Satz 2 und Artikel 121 (2) EPÜ in keinem ihrer Schreiben angegeben, für welche Frist sie die Wiedereinsetzung beantragt und die Weiterbehandlungsgebühr entrichtet hat.
2.2. Trotz dieses formalen Mangels ist die Kammer in Anbetracht des Gesamtzusammenhangs und insbesondere des Telefongespräches, das der neue Vertreter der Beschwerdeführerin am ... mit dem EPA geführt hat, der Auffassung, daß die beiden Schreiben der Beschwerdeführerin als Antrag auf Wiedereinsetzung in die Weiterbehandlung der betreffenden Patentanmeldung auszulegen sind und daher den Artikeln 96 (1) und 121 (1) EPÜ entsprechen.
2.3. Daher entspricht der begründete Wiedereinsetzungsantrag, der innerhalb von zwei Monaten nach dem Telefongespräch gestellt worden ist, in dem der Beschwerdeführerin mitgeteilt wurde, daß der frühere Vertreter den Prüfungsantrag nicht bestätigt hatte, Artikel 122 (2) Satz 1 und 2 und (3) EPÜ.
2.4. Die Frist, die die Eingangsstelle der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom ... zur Stellung eines Weiterbehandlungsantrags gesetzt hatte, lief jedoch am ... ab. Der vorliegende Wiedereinsetzungsantrag ist also mehr als ein Jahr nach Ablauf dieser Frist gestellt worden und muß deshalb gemäß Artikel 122 (2) Satz 3 EPÜ als unzulässig angesehen werden.
2.5. Die einjährige Ausschlußfrist nach Artikel 122 (2) Satz 3 EPÜ kann jedoch in den in Regel 90 EPÜ vorgesehenen Fällen gehemmt werden. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin zur Stützung ihrer Beschwerde einen neuen Sachverhalt vorgebracht, nämlich daß der Vertreter während eines nicht genau bezeichneten Zeitraums, der sich jedoch zumindest teilweise mit dem Zeitraum vom ... bis ... decken könnte (s. S. ... des medizinischen Gutachtens von Dr. ...), geschäftsunfähig gewesen sei.
2.6. Regel 90 EPÜ muß vom EPA von Amts wegen angewandt werden; dazu bedarf es keiner besonderen Formalität. Es ist also Sache des EPA, für die Zwecke der Regel 90 (1) c) EPÜ festzustellen, ob und wie lange der frühere Vertreter geschäftsunfähig war, und aufgrund dieser Feststellung die Fristen zu bestimmen, die möglicherweise gehemmt worden und bei Wiederaufnahme des Verfahrens weitergelaufen sind.
2.7. Unter diesen Umständen ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung unter Berücksichtigung dieses neuen Sachverhalts an die erste Instanz zurückzuverweisen.
3. Verspätete Entrichtung der dritten Jahresgebühr
3.1. Die dritte Jahresgebühr wurde am ... fällig und hätte unter Entrichtung einer Zuschlagsgebühr spätestens innerhalb der folgenden sechs Monate entrichtet werden müssen (Artikel 86 EPÜ). Gemäß Artikel 122 (2) EPÜ hätte der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Zahlung dieser Jahresgebühr bis zum ... gestellt werden können.
3.2. Der neue Vertreter, dessen Vollmacht am ... wirksam geworden ist, hat keinen Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Zahlung dieser Jahresgebühr gestellt, die er erst am ... entrichtet hat.
3.3. In dem für die Beschwerdeführerin günstigsten Fall, d. h. wenn man davon ausgeht, daß der frühere Vertreter zumindest in der Zeit vom ... bis ... geschäftsunfähig war, hätte die dritte Jahresgebühr von dem neuen Vertreter spätestens am ... oder - mit Zuschlagsgebühr - am ... entrichtet werden müssen. Nach Auffassung der Kammer ist keine andere sinnvolle Auslegung der Regel 90 (4) EPÜ möglich.
3.4. In ihrer Entscheidung J 07/83 (ABl. EPA 1984, 211) hat die Kammer diese Regel bereits dahingehend ausgelegt, daß die Frist für die Stellung des Prüfungsantrags und die Entrichtung der entsprechenden Gebühr mit dem ersten Tag der Geschäftsunfähigkeit des Vertreters oder Anmelders gehemmt wird und die Restfrist ab dem Tag der Wiederaufnahme des Verfahrens weiterläuft.
3.5. Diese Auslegung kann nicht auf die Jahresgebühren angewandt werden, für die im EPÜ keine Zahlungsfrist, sondern nur der Fälligkeitszeitpunkt festgesetzt ist. Man kann im übrigen nicht davon ausgehen, daß mit der Bestimmung in Regel 37 (1) EPÜ, daß die Jahresgebühr frühestens ein Jahr vor ihrer Fälligkeit entrichtet werden kann, eine Frist von einem Jahr für die Entrichtung der Jahresgebühr gesetzt wird; mit dieser Bestimmung soll nur verhindert werden, daß die Anmelder die Jahresgebühren zu früh entrichten.
3.6. Unter diesen Umständen ist die einzige Frist, die im Zusammenhang mit den Jahresgebühren gehemmt werden kann, die in Artikel 86 EPÜ vorgesehene Frist von sechs Monaten für die Entrichtung der Jahresgebühr mit Zuschlagsgebühr; Regel 90 (4) EPÜ ist so auszulegen, daß der Zeitpunkt der Entrichtung der Jahresgebühren, die während der Geschäftsunfähigkeit des Vertreters oder des Anmelders fällig geworden sind, auf den Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Verfahrens verschoben wird (s. hierzu Gall, Jahresgebühren für das EPA - Münchner Gemeinschaftskommentar, 7. Lieferung, Mai 1985, S. 46 - 47).
3.7. Diese Auslegung der Regel 90 (4) EPÜ kann nicht als zu streng angesehen werden, zumal die Jahresgebühren von jedermann, also nicht nur von dem bevollmächtigten Vertreter, entrichtet werden können; den Vertreter oder den Anmelder hindert also nichts daran, sie sogar schon vor Wiederaufnahme des Verfahrens zu entrichten.
3.8. Im vorliegenden Fall hat der neue Vertreter, wie unter Nummer 3.2 angegeben, die dritte Jahresgebühr erst am ... entrichtet, obwohl er sie gemäß der oben genannten Auslegung der Regel 90 (4) EPÜ mit Zuschlagsgebühr spätestens am ... hätte entrichten müssen; dies gilt natürlich nur unter der Voraussetzung, daß das EPA eine Unterbrechung des Verfahrens vom ... bis ... anerkennt.
3.9. Artikel 86 (3) EPÜ lautet wie folgt: "Werden die Jahresgebühr und gegebenenfalls die Zuschlagsgebühr nicht rechtzeitig entrichtet, so gilt die europäische Patentanmeldung als zurückgenommen. Das Europäische Patentamt ist allein befugt, hierüber zu entscheiden."
3.10. Nach Auffassung der Kammer ermächtigt diese Bestimmung des EPÜ das EPA nicht, bei dieser Entscheidung den Sachverhalt zu würdigen, auf den die Nichtentrichtung der Jahresgebühr zurückzuführen ist, sondern erlegt ihm die Verpflichtung auf, die Anmeldung für zurückgenommen zu erklären, wenn es feststellt, daß eine Jahresgebühr nicht entrichtet worden ist. Der Anmelder hat somit nur die Möglichkeit, einen Wiedereinsetzungsantrag nach Artikel 122 EPÜ zu stellen, um wieder in seine Rechte eingesetzt zu werden.
3.11. Das EPA hätte also nach dem ... feststellen müssen, daß die dritte Jahresgebühr zuzüglich der Zuschlagsgebühr nicht fristgerecht entrichtet worden ist, und die Entscheidung treffen müssen, daß die Anmeldung als zurückgenommen gilt.
3.12. Einer solchen Entscheidung würde jedoch die Rechtsgrundlage entzogen, falls das Europäische Patentamt anerkennt, daß das Verfahren vom ... bis ... unterbrochen war. In diesem Falle muß die Sachlage zum Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Verfahrens betrachtet werden. Wie unter Nummer 3.3 ausgeführt, hätte die dritte Jahresgebühr zu diesem Zeitpunkt oder - unter Entrichtung einer Zuschlagsgebühr - in den darauffolgenden sechs Monaten von der Beschwerdeführerin entrichtet werden müssen.
3.13. Die mündliche Auskunft, die das EPA dem neuen Vertreter der Beschwerdeführerin erteilt hatte und die durch den Inhalt der Akte, deren Kopie er am ... fernschriftlich angefordert hatte, noch erhärtet worden war, ließ ihn jedoch in gutem Glauben annehmen, daß die dritte Jahresgebühr ordnungsgemäß entrichtet worden war. Man kann ihm keinen Vorwurf daraus machen, daß er keine schriftliche Bestätigung des Gebührenstands verlangt hat, da er keinen Grund zu der Annahme hatte, daß die ihm erteilte mündliche Auskunft unvollständig oder falsch sei.
3.14. Die Kammer ist daher in Anwendung des Grundsatzes "error communis facit jus" der Auffassung, daß die dritte Jahresgebühr als ordnungsgemäß entrichtet zu betrachten ist, falls anerkannt wird, daß das Verfahren unterbrochen war; die von der Beschwerdeführerin am ... vorgenommene Zahlung stellt also nur die Begleichung einer Schuld gegenüber dem EPA dar. Da der neue Vertreter zu Recht davon ausgehen konnte, daß die ihm vom EPA erteilte Auskunft richtig und vollständig war, kann das EPA ihm gegenüber auch nicht geltend machen, daß die dritte Jahresgebühr nicht fristgerecht entrichtet worden ist, ohne dabei gegen den Grundsatz "nemini licet venire contra factum proprium" zu verstoßen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Entscheidung des Formalsachbearbeiters der Prüfungsabteilung vom ... wird aufgehoben. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Auflage zurückverwiesen, festzustellen, ob und wann eine Geschäftsunfähigkeit des Vertreters der Beschwerdeführerin vorlag, die zu einer Unterbrechung des Verfahrens zu der europäischen Patentanmeldung Nr. ... geführt hat, und aufgrund dieser Feststellung zu entscheiden, ob der Wiedereinsetzungsantrag der Beschwerdeführerin zulässig ist und ob ihm stattgegeben werden kann.