T 0466/03 21-09-2004
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Verfahren und Vorrichtung zur Übermittlung von Daten zur Verkehrslagebeurteilung
Zurücknahme einer Entscheidung nach Zustellung durch die Einspruchsabteilung (nicht möglich)
Zweite Entscheidung in derselben Sache (nichtig)
Vertrauensschutz hinsichtlich der Fristen und der Begründung der Beschwerde
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung über den Widerruf des europäischen Patents Nr. 931 301.
II. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung über den Widerruf des Patents wurde am 3. Juni 2002 zur Poststelle gegeben und mit Entscheidungsdatum 6. Juni 2002 den Parteien zugestellt. Der Widerruf wurde mit mangelnder erfinderischer Tätigkeit gegenüber dem in dem Dokument E2 offenbarten Stand der Technik begründet (Punkt 5 der Entscheidungsgründe). Die frühere Patentanmeldung E0 wurde mangels gültiger Priorität nicht als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ angesehen (Punkt 9 der Entscheidungsgründe).
III. Mit Kurzmitteilung vom 11. Juni 2002 wurde der Einsprechenden eine Kopie eines Schreibens der Patentinhaberin übermittelt, welches vom 29. Mai 2002 datiert und an diesem Tag in der Poststelle des EPA in Berlin eingegangen war. Die Patentinhaberin beantragte in dem Schreiben hilfsweise die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.
IV. Mit weiteren Kurzmitteilungen der Formalprüfungsstelle wurde den Parteien per Faxnachricht vom 11. Juni 2002 und Einschreiben mit Rückschein vom 14. Juni 2002 die folgende Mitteilung zugestellt:
"Die Entscheidung über den Widerruf des Europäischen Patents vom 06.06.02 wurde aufgehoben. Das Verfahren wird schriftlich fortgesetzt."
V. Die Einspruchsabteilung lud die Parteien zu einer mündlichen Verhandlung, welche am 29. Oktober 2002 abgehalten wurde.
VI. Die Einsprechende berief sich in der mündlichen Verhandlung auf die Entscheidung G 12/91 (ABl. EPA, 1994, 285) und trug vor, daß die Verhandlung nicht zulässig sei, da die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung nicht selbst wieder rückgängig machen könne. Nach Artikel 106 (1) EPÜ müsse dazu eine Beschwerde eingereicht werden. Das habe die Patentinhaberin aber nicht gemacht. Sie beantragte daher, die Entscheidung vom 6. Juni 2002 als verfahrensabschließend zu bestätigen und die Verhandlung als unzulässig zu erklären. Hilfsweise beantragte sie, das Streitpatent zu widerrufen (siehe Protokoll der mündlichen Verhandlung, Punkt 4).
VII. Die Patentinhaberin erklärte hierzu, daß sie keinen Grund zur Beschwerde gehabt habe, da die Einspruchsabteilung die Entscheidung aufgehoben hätte. Die Patentinhaberin reichte in der mündlichen Verhandlung einen Hilfsantrag mit einem neuen Patentanspruch 1 ein.
VIII. Die schriftliche Fassung der in der mündlichen Verhandlung verkündeten Entscheidung der Einspruchsabteilung ist vom 14. Februar 2003 datiert den Beteiligten zugestellt worden. In der Begründung (Punkt 8) kam die Einspruchsabteilung zum Ergebnis, daß E0 doch Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ bilde und die Neuheit des Gegenstands des Patentanspruchs 1 des Streitpatents vorwegnehme. Die Gründe für die Aufhebung der Entscheidung und die Fortführung des Verfahrens entgegen dem Hauptantrag der Einsprechenden können wie folgt zusammengefaßt werden:
Die erste Entscheidung könne nicht als "wirksam" angesehen werden, weil die objektive Grundlage dazu gefehlt habe. In Anwendung der Entscheidung G 12/91 hätte die Einspruchsabteilung die erste Entscheidung nicht treffen dürfen und hätte dem Antrag der Patentinhaberin auf mündliche Verhandlung zwingend stattgegeben müssen, welcher im EPA noch vor Abgabe der Entscheidung an die interne Poststelle des EPA eingetroffen sei. Die Einspruchsabteilung habe daher eine offenbar unzulässige Entscheidung aus objektiven und leicht nachprüfbaren Gründen aufgehoben, durch welche die Rechtssicherheit nicht beeinträchtigt worden sei. Bei dieser Sachlage habe das Verbot der nachträglichen Änderung der Entscheidung im Sinne der G 12/91 der Aufhebung der ersten Entscheidung nicht entgegengestanden.
IX. Die Patentinhaberin hat innerhalb der in Artikel 108 EPÜ angegebenen Fristen gegen die Entscheidung vom 14. Februar 2003 Beschwerde eingelegt und begründet, warum die Einspruchsabteilung die angeblich mangelnde Neuheit falsch bewertet habe.
X. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) legte in dem Antwortschreiben ihre unterschiedliche Wertung der Neuheit dar.
XI. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der Entscheidung vom 14. Februar 2003 sowie die Aufrechterhaltung des Patents.
XII. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte, die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 14. Februar 2003 aufrechtzuerhalten.
XIII. Die Kammer teilte den Parteien in einer Mitteilung nach Artikel 12 VOBK vom 28. Mai 2004 ihre Ansicht mit, daß die Aufhebung der Entscheidung vom 6. Juni 2002 durch die Einspruchsabteilung mangels Zuständigkeit rechtlich unwirksam erfolgt sei. Die Kammer beabsichtige daher, die Entscheidungen der Einspruchsabteilung aufzuheben, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen und die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen. Die Parteien wurden aufgefordert zu erklären, ob sie bei dieser Sachlage ihre Anträge auf mündliche Verhandlung aufrechterhielten.
XIV. Beide Parteien nahmen ihre Anträge auf mündliche Verhandlung innerhalb der gesetzten Frist zurück.
1. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich in Form und Wortlaut gegen den Widerruf des vorliegenden Patents durch die Einspruchsabteilung und ist innerhalb der in Artikel 108 EPÜ festgelegten Fristen ab der Zustellung der vom 14. Februar 2003 datierten Entscheidung eingereicht und begründet worden.
2. Nach geltender Rechtsprechung (G 12/91, ABl. EPA, 1994, 285, Punkte 2 und 9.3; T 371/92, ABl. EPA, 1995, Punkt 1.4; T 1081/02, Punkt 1.1.3) war jedoch das Verfahren vor der Einspruchsabteilung am 3. Juni 2002 mit der Abgabe der vom 6. Juni 2002 datierten Entscheidung an die interne Poststelle durch die Formalprüfungsstelle bereits abgeschlossen. Mit der anschließenden, formal korrekten Zustellung war die Entscheidung wirksam geworden und die Einspruchsabteilung an ihre Entscheidung gebunden. Daran kann auch die gut gemeinte Absicht der Einspruchsabteilung nichts ändern, einen Verfahrensmangel zu beseitigen und dem rechtzeitig eingegangenen Antrag auf mündliche Verhandlung nachzukommen, der anscheinend der Einspruchsabteilung zum Zeitpunkt der Abgabe der Entscheidung an die Poststelle nicht vorlag. Wegen Nichtbeachtung des rechtlichen Gehörs mußte zwar nach ständiger Rechtsprechung im Falle einer Beschwerde mit einer Zurückverweisung der Angelegenheit nach Artikel 111 (2) EPÜ und mit einer entsprechenden Verzögerung des Verfahrens gerechnet werden. Die Einspruchsabteilung war aber nach der rechtswirksamen Zustellung der Widerrufsentscheidung selbst im Falle einer rechtsfehlerhaften Entscheidung nicht mehr befugt, diese (über eine Berichtigung von Fehlern nach Regel 89 EPÜ hinaus) abzuändern oder gar aufzuheben und damit einem den Parteien vorbehaltenen, möglichen Beschwerdeverfahren vorzugreifen. Sie hätte selbst nach Eingang einer zulässigen Beschwerde dieser im Rahmen des Artikels 109 (1) EPÜ nicht abhelfen können, da dem potentiellen Beschwerdeführer ein Beteiligter gegenübergestanden wäre.
3. Obwohl das Vorbringen beider Parteien im Beschwerdeverfahren von (der Annahme) einer rechtswirksam ergangenen, mit 14. Februar 2003 datierten Entscheidung ausgeht, kann dies keinen rechtlich beachtlichen Vertrauenstatbestand schaffen, der die Entscheidung vom 6. Juni 2002 als nichtig und die Entscheidung vom 14. Februar 2003 als rechtswirksam gelten lassen würde. Im Interesse der Rechtssicherheit sind vielmehr die rechtswidrige Weiterführung des Verfahrens ohne die erforderliche Zuständigkeit und somit alle weiteren Handlungen der Einspruchsabteilung nach Zustellung der Entscheidung vom 6. Juni 2002 rechtlich unwirksam zu erklären. Dem Vertrauensschutz kommt jedoch bei der Auslegung der Beschwerde und bei der Frage ihrer Zulässigkeit in diesem Fall eine bedeutende Rolle zu (siehe T 1081/02, Punkte 1.3 bis 1.3.5).
3.1. Es ist zwar keine Beschwerde innerhalb der Fristen nach Artikel 108 EPÜ nach Zustellung der rechtswirksamen Entscheidung vom 6. Juni 2002 eingegangen. Dies offenbar deswegen, weil die Patentinhaberin in gutem Glauben an die anscheinend erfolgte Beseitigung der Beschwer durch die Einspruchsabteilung keinen Grund dazu sah. Das Prinzip des Vertrauensschutzes verbietet es daher, der Beschwerdeführerin die solchermaßen versäumte Frist für die Einlegung einer Beschwerde und die Entrichtung der Beschwerdegebühr entgegenzuhalten. Die fristgerecht gegen die Entscheidung vom 14. Februar 2003 eingelegte Beschwerde der Patentinhaberin ist daher so zu behandeln, als ob sie innerhalb der Beschwerdefrist der Entscheidung vom 6. Juni 2002 eingegangen wäre.
3.2. Die Beschwerdebegründung setzt sich konsequenterweise mit den Gründen der Entscheidung vom 14. Februar 2003 auseinander, gegen welche in gutem Glauben Beschwerde eingelegt worden ist, d. h. mit der behaupteten fehlenden Neuheit gegenüber E0. Es fehlt eine Auseinandersetzung mit den Gründen der rechtswirksamen Entscheidung vom 6. Juni 2002, d. h. mit der behaupteten mangelnden erfinderischen Tätigkeit gegenüber E2. Die beschwerdeführende Partei (und im übrigen auch die Beschwerdegegnerin) hat sich offensichtlich im Vertrauen auf die rechtsfehlerhafte Mitteilung des Amtes so verhalten, wie es bei Richtigkeit der Mitteilung erforderlich gewesen wäre. Es besteht für die Kammer kein Zweifel, daß sich der tatsächliche Wille der Beschwerdeführerin auch gegen den Widerruf des Streitpatents durch die rechtswirksame Entscheidung richtet, gegen welche im Vertrauen auf die mitgeteilte Aufhebung keine Beschwerde eingereicht worden war. Es würde gegen das Prinzip des Vertrauensschutzes verstoßen, wenn die fehlende Auseinandersetzung mit einer in der Entscheidung vom 14. Februar 2003 nicht mehr relevanten Begründung zur Unzulässigkeit der Beschwerde und damit zur faktischen Unmöglichkeit führte, ein in den Artikeln 106 ff EPÜ verankertes Rechtsmittel gegen die Entscheidung vom 6. Juni 2002 einzulegen. Die Kammer sieht daher die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Beschwerde als erfüllt an.
4. Die Entscheidung vom 6. Juni 2002 ist nach ständiger Rechtsprechung wegen Nichtbeachtung eines rechtzeitig im EPA eingegangenen Antrags auf mündliche Verhandlung (siehe Punkt 2 oben) mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet. Ein solcher Verfahrensmangel hat nach ständiger Rechtsprechung bei Billigkeit die Zurückverweisung an die erste Instanz und die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ zur Folge (siehe "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts", 4. Aufl. 2001, Seite 603, Absatz 2 und Seite 628, Punkt 15.4.2). Unter diesen Umständen ist auch die rechtswirksam ergangene Entscheidung aufzuheben, um den Parteien die Möglichkeit zu geben, eine Fortführung des Einspruchsverfahrens (gegebenenfalls mit mündlicher Verhandlung) oder einen raschen Erlaß einer verfahrensrechtlich korrekten Entscheidung zu beantragen. Die Kammer hat wegen der Besonderheiten dieses Falls die Beschwerde beschleunigt behandelt, um die Verzögerungen, die sich aus der Nichteinhaltung eines korrekten Verfahrens ergeben haben, auf ein Minimum zu begrenzen und den Parteien dennoch die Möglichkeit einzuräumen, ihre Ansprüche und ihr Vorbringen vor zwei Instanzen geltend zu machen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung vom 6. Juni 2002 wird aufgehoben.
2. Die Entscheidung vom 14. Februar 2003 ist nichtig.
3. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.
4. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.