T 1255/04 (Dibenzorhodaminfarbstoffe/APPLERA) 16-03-2005
Download und weitere Informationen:
I. In einem Fall, in dem es neben einem Antrag, der als zulässig betrachtet wird und zu dem eine Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ zuzustellen ist, noch höherrangige, zurückgewiesene Anträge gibt, ist die Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ unzureichend, wenn ihr nicht die Begründung dafür beiliegt, warum die höherrangigen Anträge zurückgewiesen werden. Außerdem sollte in der Mitteilung ausdrücklich auf die Möglichkeit der Aufrechterhaltung der zurückgewiesenen Anträge hingewiesen werden, damit sowohl der Anmelder als auch die Prüfungsabteilung daran erinnert werden, dass der Anmelder eine beschwerdefähige schriftliche Entscheidung zu den höherrangigen Anträgen erwirken kann (siehe Nr. 3 der Entscheidungsgründe) (im Anschluss an die Entscheidung T 1181/04 vom 31. Januar 2005).
II. Hält der Anmelder einen noch anhängigen, höherrangigen Antrag aufrecht, der in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung erörtert wurde, so kann dieser Antrag nicht nach Regel 86 (3) EPÜ zurückgewiesen werden. Die angefochtene Entscheidung, die lediglich feststellt, dass die Anmeldung zurückgewiesen wird, weil keine vom Anmelder gebilligte Fassung im Sinne des Artikels 113 (2) EPÜ vorliegt, auf die ein Patent erteilt werden könnte, ist unzureichend begründet, weil sie keine sachlichen Gründe dafür anführt, warum das, was vom Anmelder gebilligt wird, nicht den Patentierbarkeitserfordernissen des EPÜ entspricht (siehe Nr. 4 der Entscheidungsgründe).
wesentlicher Verfahrensmangel (bejaht)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr (bejaht)
Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ - Notwendigkeit der Begründung, warum höherrangige Anträge zurückgewiesen werden
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die als WO 99/27020 veröffentlichte europäische Patentanmeldung Nr. 98 958 069.1 mit der Begründung zurückzuweisen, dass keine vom Anmelder gebilligte Fassung im Sinne des Artikels 113 (2) EPÜ vorliege, auf die ein Patent erteilt werden könne.
II. Aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung geht hervor, dass in der mündlichen Verhandlung Anspruchssätze gemäß einem Hauptantrag und fünf Hilfsanträgen erörtert wurden, dass der Hauptantrag und die Hilfsanträge 1 bis 4 wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit zurückgewiesen wurden und dass der fünfte Hilfsantrag als erfinderisch angesehen wurde. Dementsprechend wurde festgehalten, dass die Prüfungsabteilung beabsichtigte, auf der Grundlage des fünften Hilfsantrags eine Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ zu erlassen.
Darüber hinaus wurde im Protokoll festgehalten, dass der Patentvertreter auf der Aufrechterhaltung des Hauptantrags sowie der Hilfsanträge 1 bis 4 bestand.
III. In einer Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ vom 16. Juli 2003 wurde die Anmelderin davon unterrichtet, dass die Prüfungsabteilung beabsichtigte, ein europäisches Patent auf der Grundlage eines Anspruchssatzes zu erteilen, der unbestreitbar dem in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung erörterten fünften Hilfsantrag entsprach. Die zurückgewiesenen Anträge waren nicht erwähnt, ebenso wenig wurde ihre Zurückweisung begründet.
IV. In ihrer am 23. Januar 2004 eingegangenen Erwiderung auf die Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ beantragte die Anmelderin, den Anspruchssatz gemäß dem in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung erörterten fünften Hilfsantrag durch einen Anspruchssatz zu ersetzen, der dem in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung erörterten Hauptantrag entspreche, und erklärte ihr Einverständnis gemäß Regel 51 (4) EPÜ unter der Voraussetzung, dass der Anspruchssatz gemäß dem Hauptantrag gewährbar sei.
Die deutsche und die französische Übersetzung der Patentansprüche waren beigefügt; es wurde beantragt, eine Entscheidung über die Erteilung eines Patents zu erlassen, und die Erteilungs- und die Druckkostengebühr (bis zur 35. Seite) - 715 EUR - sowie die Druckkostengebühr für die 36. und jede weitere Seite - 450 EUR - wurden zur Zahlung angewiesen.
V. Daraufhin beschloss die Prüfungsabteilung die Zurückweisung der Patentanmeldung.
Als Zurückweisungsgrund gab die Prüfungsabteilung in ihrer Entscheidung an, dass die Anmelderin die Erteilung eines Patents auf der Grundlage des Hauptantrags beantragt habe, der bereits in der mündlichen Verhandlung ausführlich erörtert worden sei (Artikel 113 (1) EPÜ). Die Prüfungsabteilung habe der Anmelderin bereits in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dass dieser Antrag nicht den Erfordernissen des EPÜ genüge. Dementsprechend habe die Prüfungsabteilung beschlossen, die Änderungsvorschläge nach Regel 86 (3) EPÜ zurückzuweisen. Gemäß Artikel 113 (2) EPÜ könne eine Entscheidung über eine europäische Patentanmeldung nur auf der Grundlage der vom Anmelder vorgelegten oder gebilligten Fassung ergehen. Die Anmelderin habe sich nur mit einer Fassung der Anmeldungsunterlagen einverstanden erklärt, die nach dem EPÜ nicht zulässig sei. Daher müsse die Prüfungsabteilung die Anmeldung mit der Begründung zurückweisen, dass keine vom Anmelder gebilligte Fassung im Sinne des Artikels 113 (2) EPÜ vorliege, auf die ein Patent erteilt werden könnte.
VI. Die Anmelderin und jetzige Beschwerdeführerin machte geltend, dass ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliege, weil die Prüfungsabteilung die Patentanmeldung nicht hätte zurückweisen dürfen, ohne der Anmelderin Gelegenheit zu geben, gemäß Regel 51 (6) EPÜ Stellung zu nehmen und/oder Änderungen einzureichen.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Rückzahlung der Beschwerdegebühr und zog ihren ursprünglichen Antrag auf mündliche Verhandlung vor der Kammer für den Fall zurück, dass die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen wird.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Regel 51 (5) und (6) EPÜ
2.1 Laut Regel 51 (5) EPÜ gilt es, wenn der Anmelder innerhalb der in Regel 51 (4) EPÜ vorgesehenen Frist Änderungen beantragt, als Einverständnis mit der Erteilung des Patents in der geänderten Fassung, wenn er eine Übersetzung der geänderten Patentansprüche in den beiden Amtssprachen des EPA einreicht, die nicht die Verfahrenssprache sind, und die Erteilungs- und die Druckkostengebühr entrichtet.
Nachdem die erforderlichen Übersetzungen der geänderten Patentansprüche fristgerecht eingereicht und die Erteilungs- sowie die Druckkostengebühr fristgerecht entrichtet wurden, waren die Erfordernisse der Regel 51 (5) EPÜ erfüllt.
2.2 Zudem heißt es in Regel 51 (6) EPÜ, dass die Prüfungsabteilung, wenn sie einer nach Absatz 5 beantragten Änderung nicht zustimmt, dem Anmelder, bevor sie eine Entscheidung trifft, Gelegenheit zu geben hat, Stellung zu nehmen und von ihr für erforderlich gehaltene Änderungen einzureichen.
Da die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall Änderungen beantragte und sämtliche Erfordernisse der Regel 51 (5) EPÜ erfüllt waren, musste die Prüfungsabteilung der Anmelderin Gelegenheit zur Stellungnahme geben, bevor sie eine Entscheidung traf. Indem sie dies unterließ, beging sie einen wesentlichen Verfahrensfehler, der, wie die Beschwerdeführerin geltend macht, die Rückzahlung der Beschwerdegebühr gemäß Regel 67 EPÜ sowie die Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung rechtfertigt.
3. Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ
3.1 Wie bereits in der Entscheidung T 1181/04 - 3.3.6 vom 31. Januar 2005 (zur Veröffentlichung im Amtsblatt vorgesehen) dargelegt wurde, ergibt sich offenbar ein grundlegendes Problem, weil dem Anmelder in Fällen, in denen er neben einem Hauptantrag einen oder mehrere Hilfsanträge eingereicht hat und die Prüfungsabteilung nur einem der Hilfsanträge stattzugeben gedenkt, eine Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ zugestellt wird, aus der hervorgeht, auf welchen zulässigen Antrag hin die Prüfungsabteilung ein Patent zu erteilen bereit ist, die den Anmelder aber nicht darauf hinweist, dass er die Möglichkeit hat, die zurückgewiesenen Anträge aufrechtzuerhalten und eine schriftliche, begründete Zurückweisungsentscheidung zu erwirken, statt der Erteilung des Patents auf der Grundlage des von der Prüfungsabteilung für zulässig erachteten Antrags zuzustimmen.
Zwar ist diese Möglichkeit in der seit 1. Juli 2002 geltenden Fassung der Regel 51 (4) EPÜ nicht ausdrücklich genannt, der Wortlaut schließt sie aber auch nicht aus. Damit das Recht des Anmelders, die Zurückweisung höherrangiger Anträge mit der Beschwerde anzufechten, gewahrt bleibt, darf ihm diese Möglichkeit nicht vorenthalten werden.
3.2 In einem Fall, in dem es neben einem Antrag, der als zulässig betrachtet wird und zu dem eine Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ zuzustellen ist, noch höherrangige, zurückgewiesene Anträge gibt, ist die Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ unzureichend, wenn ihr nicht die Begründung dafür beiliegt, warum die höherrangigen Anträge zurückgewiesen werden. Außerdem sollte in der Mitteilung ausdrücklich auf die Möglichkeit der Aufrechterhaltung der zurückgewiesenen Anträge hingewiesen werden, damit sowohl der Anmelder als auch die Prüfungsabteilung daran erinnert werden, dass der Anmelder eine beschwerdefähige schriftliche Entscheidung zu den höherrangigen Anträgen erwirken kann (im Anschluss an die Entscheidung T 1181/04 vom 31. Januar 2005). Nur so dürfte sichergestellt sein, dass sowohl die Anmelder als auch die Prüfungsabteilung wissen, was zu tun ist.
3.3 Es besteht daher kein Grund, von der Praxis abzuweichen, die in den einschlägigen "Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt" (Fassung vom Dezember 2003) dargelegt ist; wie es in Teil E, Kapitel X: ENTSCHEIDUNGEN, 5. Begründung, insbesondere im fünften Absatz, heißt, muss, wenn im Prüfungsverfahren ein Hauptantrag und Hilfsanträge eingereicht wurden und einer der Hilfsanträge gewährbar ist, die Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ auf der Grundlage des (ersten) gewährbaren Antrags zusammen mit einer Erläuterung ergehen, warum die höherrangigen Anträge nicht gewährbar sind. Sollte der Anmelder auf die Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ hin höherrangige Anträge aufrechterhalten, die nicht gewährbar sind, so ergeht eine Zurückweisungsentscheidung gemäß Artikel 97 (1) EPÜ.
4. Artikel 113 (2) EPÜ und Regel 86 (3) EPÜ
4.1 Im vorliegenden Fall machte die Beschwerdeführerin deutlich, dass sie ihren Hauptantrag in der Fassung aufrechterhalten wollte, die sie in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung verfochten hatte. Da der betreffende Antrag bereits in der mündlichen Verhandlung inhaltlich erörtert worden war, konnte er gar nicht nach Regel 86 (3) EPÜ zurückgewiesen werden, wie dies mit der angefochtenen Entscheidung geschah. Regel 86 (3) EPÜ soll verhindern, dass ein Anmelder wiederholt versucht, die Prüfungsabteilung dazu zu bewegen, ein Patent auf der Grundlage von Anträgen zu erteilten, mit denen immer wieder neue Punkte eingebracht werden; sie zielt weder darauf ab noch kann sie dazu verwendet werden, einem Anmelder die Erwirkung einer Entscheidung vorzuenthalten, in der die Zurückweisung eines bereits während des Verfahrens inhaltlich erörterten Antrags sachlich begründet wird. Eine solche Entscheidung zu den substantiellen Fragen ist notwendig, damit der Anmelder entscheiden kann, ob er Beschwerde einlegt, und damit ein Ausgangspunkt für Argumente im Rahmen eines etwaigen Beschwerdeverfahrens gegeben ist. Eine Entscheidung wie die hier angefochtene Entscheidung, in der festgestellt wird, dass die Anmeldung zurückgewiesen wird, weil keine vom Anmelder gebilligte Fassung im Sinne des Artikels 113 (2) EPÜ vorliegt, auf die ein Patent erteilt werden könnte, ist unzureichend begründet, weil sie keine sachlichen Gründe dafür anführt, warum das, was vom Anmelder gebilligt wird, nicht den Patentierbarkeitserfordernissen des EPÜ entspricht. Eine Zurückweisung der Anmeldung auf dieser Grundlage kann nur als weiterer wesentlicher Verfahrensmangel betrachtet werden, der die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Rückzahlung der Beschwerdegebühr erforderlich macht.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen.
3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.