T 0463/07 (Antikörper-Bibliotheken/SIEMENS HEALTHCARE) 21-10-2011
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Herstellung und Verwendung von Genbanken menschlicher Antikörper ("Human-Antikörper-Bibliotheken")
Neuheit (ja)
Erfinderische Tätigkeit (ja)
Ausreichende Offenbarung (ja)
I. Das europäische Patent Nr. 0 440 147 mit der Bezeichnung "Herstellung und Verwendung von Genbanken menschlicher Antikörper ("Human-Antikörper-Bibliotheken")" wurde mit acht Ansprüchen für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, LI, DE, DK, FR, GB, IT, LU, NL und SE, und mit drei Ansprüchen für den Vertragsstaat ES erteilt.
II. Die unabhängigen Ansprüche 1, 4, 6 und 7 des Anspruchssatzes für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, LI, DE, DK, FR, GB, IT, LU, NL und SE lauteten wie folgt:
"1. Human-Antikörper-Bibliotheken, erhältlich über Transkription isolierter mRNA aus nicht aktivierten peripheren humanen B-Lymphozyten in cDNA, anschließende Amplifikation von für Antikörper kodierender cDNA durch "Polymerase Chain Reaction"(PCR) mittels geeigneter Primer und nachfolgenden Einbau in geeignete Expressionsplasmide und schließlich Expression der darin enthaltenen, in cDNA amplifizierten relevanten Antikörper-RNA in Einzelklonen, dadurch gekennzeichnet, daß durch die verwendeten Primer jeweils nur die variablen Regionen amplifiziert werden und die Expressionsplasmide für keine konstante Domäne eines Antikörpers kodieren, und der Entwurf der Primer für die Rückreaktion zur Synthese des nicht-kodierenden Stranges der DNA der schweren Kette auf IgM-Sequenzen basiert.
4. Verfahren zur Herstellung von Human-Antikörper-Bibliotheken, dadurch gekennzeichnet, daß mRNA aus nicht aktivierten peripheren humanen B-Lymphozyten isoliert und in cDNA überschrieben wird, anschließend die für Antikörper kodierende cDNA durch PCR mittels geeigneter Primer amplifiziert wird, darauf folgend ein Einbau in geeignete Expressionsplasmide vorgenommen wird und schließlich Expression der Antikörper-cDNA in Einzelklonen erfolgt und daß durch die verwendeten Primer jeweils nur die variablen Regionen amplifiziert werden, die Expressionsplasmide für keine konstante Domäne eines Antikörpers kodieren und daß der Entwurf der Primer für die Rückreaktion zur Synthese des nicht-kodierenden Stranges der DNA der schweren Kette auf IgM-Sequenzen basiert.
6. Verfahren zur Isolierung von spezifischen humanen Antikörpern, dadurch gekennzeichnet, daß Human-Antikörper-Bibliotheken nach Anspruch 1, 2 oder 3 mit spezifischen Antigenen durchsucht werden.
7. Verwendung von Human-Antikörper-Bibliotheken nach Anspruch 1, 2 oder 3 zur Isolierung von spezifischen humanen Antikörpern."
Die abhängigen Ansprüche 2 und 3 betrafen besondere Ausführungsformen der beanspruchten Human-Antikörper-Bibliotheken. Der abhängige Anspruch 5 betraf ein Verfahren nach Anspruch 4, bei dem das Expressionsplasmid pFMT verwendet wird. Der unabhängige Anspruch 8 war auf das Antikörper-Expressionsplasmid pFMT gerichtet.
Die Ansprüche 1 bis 3 für den Vertragsstaat ES entsprachen den Ansprüchen 4 bis 6 des Anspruchssatzes für die anderen Vertragsstaaten.
III. Gegen die Erteilung des Patents wurde ein auf die Einspruchsgründe des Artikels 100 a) i.V.m. Artikeln 54 und 56 und des Artikels 100 b) EPÜ 1973 gestützter Einspruch eingelegt.
IV. Mit einer am 18. Januar 2007 zur Post gegebenen Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamtes wurde das Streitpatent in geänderter Fassung als den Erfordernissen des EPÜ genügend erachtet (Artikel 102 (3) und 106 (3) EPÜ 1973). In der Zwischenentscheidung stellte die Einspruchsabteilung fest, dass der Hauptantrag (Zurückweisung des Einspruchs und Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung) nicht gewährbar sei, weil der Gegenstand des Anspruchs 8 des Anspruchs satzes für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, LI, DE, DK, FR, GB, IT, LU, NL und SE nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhe. Der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsantrag, der aus den Ansprüchen 1 bis 7 des Anspruchssatzes für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, LI, DE, DK, FR, GB, IT, LU, NL und SE in der erteilten Fassung und den Ansprüchen 1 bis 3 für den Vertragsstaat ES bestand, wurde jedoch als gewährbar erachtet.
V. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde ein und begründete diese. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) erwiderte auf die Beschwerdebegründung. Beide Beteiligten beantragten die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung für den Fall, dass die Kammer deren jeweiligen Anträgen nicht entsprechen sollte.
VI. Die Beteiligten wurden zu einer mündlichen Verhandlung geladen. In einer der Ladung beigefügten Mitteilung gemäß Regel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerde kammern (VerfOBeschwK) wies die Kammer auf einige Punkte hin, die entweder von besonderer Bedeutung zu sein schienen oder nicht mehr strittig waren.
VII. Beide Beteiligte erwiderten auf die Mitteilung der Kammer. Mit ihrer Erwiderung reichte die Beschwerdegegnerin ein neues Dokument ein.
VIII. Die mündliche Verhandlung fand am 21. Oktober 2011 statt.
IX. In dieser Entscheidung wird auf folgende Entgegenhaltungen Bezug genommen:
(1): EP 0 368 684 A1, angemeldet am 13. November 1989 und veröffentlicht am 16. Mai 1990;
(6): Immunology, 1989, 2. Auflage, Herausgeber: Roit, Brosoff und Male, nicht identifizierte Seiten aus den Kapiteln 2.6 und 14.7;
(10): E. S. Ward et al., 12. Oktober 1989, Nature, Band 341, Seiten 544 bis 546;
(11): J. W. Larrick et al., 15. Mai 1989, Biochemical and Biophysical Research Communications, Band 160, Nr. 3, Seiten 1250 bis 1256;
(16): W. D. Huse et al., 8. Dezember 1989, Science, Band 246, Seiten 1275 bis 1281.
X. Zu den für diese Entscheidung relevanten Fragen trug die Beschwerdeführerin folgendes vor:
Artikel 54 (3)(4) EPÜ 1973 - Dokument (1)
Die Entgegenhaltung (1) gehöre gemäß Artikel 54 (3)(4) EPÜ 1973 zum Stand der Technik und nehme den Gegenstand der Ansprüche 1 bis 7, und insbesondere des Anspruchs 4 neuheitsschädlich vorweg. Diese Entgegenhaltung beschreibe die Amplifizierung von variable Domänen von Immunglobulinen kodierenden Sequenzen mittels reverser Transkription und PCR (siehe Spalte 8, Zeilen 17 bis 25). Außerdem werde in dieser Entgegen haltung beschrieben, dass der Vorwärtsprimer an oder neben den Bereich bindet, der das C-terminale Ende der variablen Domäne kodiert (siehe Spalte 8, Zeilen 48 bis 50). Bezüglich der Primer für die Klonierung der variablen Domänen der schweren Kette werde in Spalte 14, Zeilen 21 bis 25 der Entgegen haltung (1) auf die Veröffentlichung von Larrick et al. verwiesen. Diese Veröffentlichung, die im Einspruchs verfahren als Dokument (11) eingereicht wurde, beschreibe die Amplifizierung von Immunglobulin-Genen aus menschlichen Hybridomen. Der einzige zur Amplifi zierung der schweren Kette eingesetzte Vorwärtsprimer, der in der Tabelle 1B auf Seite 1252 beschrieben werde, sei ein IgM-spezifischer Primer. Folglich sei das im Anspruch 1 enthaltene Merkmal, wonach der Entwurf der Primer für die Rückreaktion zur Synthese des nicht-kodierenden Stranges der DNA der schweren Kette auf IgM-Sequenzen basiere, nicht nur dem Dokument (11) zu entnehmen, sondern auch durch den Verweis auf dieses Dokument in der Entgegenhaltung (1) unmittelbar und eindeutig offenbart.
Entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung würde der Fachmann den Verweis auf das Dokument (11) nicht nur in Bezug auf die Lage des Primers, sondern auch auf dessen Isotyp verstehen, weil beide Informationen für PCR-Primer wesentlich seien. In dem Verweis auf Dokument (11) hinsichtlich der Lage des Primers sei inhärent auch der Verweis auf weitere Informationen enthalten, u.a. auch die Primersequenz.
Die Einspruchsabteilung habe sich bei der Beurteilung, welche Informationen ein Fachmann dem Dokument (11) entnehmen könne, geirrt. Die Abbildung 1 sei nicht isoliert, sondern zusammen mit dem gesamten Inhalt des Dokuments und insbesondere mit der Tabelle 1B zu betrachten.
Artikel 56 EPÜ - Erfinderische Tätigkeit
Der Gegenstand der Ansprüche 1 bis 7 beruhe nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Als nächstliegender Stand der Technik sei die Entgegenhaltung (16) anzusehen. Der einzige Unterschied zwischen dem darin beschriebenen Verfahren und dem Verfahren gemäß Anspruch 4 sei die Verwendung humaner B-Lymphozyten - anstelle von Maus-Lymphozyten - zur Herstellung einer Antikörper-Bibliothek.
Ausgehend von der Entgegenhaltung (16) bestehe die zu lösende Aufgabe in der Bereitstellung einer Antikörper-Bibliothek, aus der Antikörper erhalten werden können, die, wenn sie Menschen verabreicht werden, weniger Nebenwirkungen haben als die in der Entgegenhaltung (16) beschriebenen Maus-Antikörper.
Die in Anspruch 4 vorgeschlagene Lösung, humane B-Lymphozyten als Ausgangsmaterial zu verwenden, sei für den Fachmann naheliegend. Zum Prioritätszeitpunkt habe es zum allgemeinen Fachwissen gehört, dass die von Maus-Antikörpern bei Menschen hervorgerufene Immunantwort durch die Verwendung humaner Antikörper vermieden werden könne. Da dem Fachmann aus der Entgegenhaltung (10) bekannt gewesen sei, dass humane periphere Lymphozyten als Ausgangsmaterial zur Klonierung von Bibliotheken verwendet werden könnten, würde er dies zur Vermeidung einer unerwünschten Immunreaktion gegen Maus-Antikörper im vorliegenden Fall anwenden. Folglich beruhe der Gegenstand des Anspruchs 4 nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Aus denselben Gründen gelte dies auch für den Gegenstand der Ansprüche 1 bis 3, 6 und 7.
Der Feststellung der Einspruchsabteilung, es sei überraschend, dass die aus der Antikörper-Bibliothek erhaltenen Antikörper eine hohe Affinität aufwiesen, könne nicht zugestimmt werden. Die angebliche hohe Affinität der Antikörper dürfe bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht berücksichtigt werden. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, z.B. in der Entscheidung T 386/89 vom 24. März 1992, dürfe die Formulierung der Aufgabe der Erfindung zwar nachträglich geändert werden, jedoch nur, wenn der Fachmann die neu formulierte Aufgabe aus der Anmeldung ableiten könne. Im vorliegenden Fall werde eine hohe Affinität der Antikörper weder ausdrücklich noch implizit in der Anmeldung offenbart.
Die ursprünglich eingereichte Anmeldung enthalte keine Angaben, anhand derer glaubhaft gemacht werden könne, dass mit dem erfindungsgemäßen Verfahren Antikörper mit hoher Affinität erhalten werden könnten. Nachträglich eingereichte Beweisstücke könnten diesen Mangel nicht beheben (siehe Entscheidungen T 1329/04 vom 28. Juni 2005 und T 1306/04 vom 8. Dezember 2005). Außerdem sei es angesichts der vorhandenen experimentellen Daten nicht glaubhaft, dass jeder aus der Bibliothek erhaltene Antikörper gegen ein beliebiges Antigen eine hohe Affinität aufweise; somit sei die Aufgabe nicht über den gesamten Umfang des Anspruchs gelöst. Die behauptete hohe Affinität der Antikörper sei ein typisches Beispiel für einen Bonuseffekt und könne nicht als Teil der Lösung der Aufgabe betrachtet werden.
Entgegen der Meinung der Einspruchsabteilung könne ein Fachmann der Entgegenhaltung (16) nicht ableiten, dass das darin beschriebene Verfahren nicht ausreichende Aussicht auf Erfolg biete. In der Entgegenhaltung (16) werde zwar erwähnt, dass Verfahren zum Optimieren von Sequenzen, die die Abwesenheit von somatischer Mutation und klonaler Selektion ausgleichen könnten, nützlich wären. "Nützlich" sei jedoch nicht mit "notwendig" gleichzusetzen.
Artikel 83 EPÜ - Ausreichende Offenbarung
Die Feststellung der Einspruchsabteilung, die in den Ansprüchen aufgeführten nicht aktivierten peripheren B-Lymphozyten seien mit den peripheren B-Lymphozyten aus "nicht speziell immunisierten Blutspendern" gleichzu setzen, sei richtig.
XI. Die Beschwerdegegnerin argumentierte wie folgt:
Artikel 54 (3)(4) EPÜ 1973 - Dokument (1)
Der Gegenstand der Ansprüche sei neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ. Der Einwand wegen mangelnder Neuheit auf der Grundlage der Entgegenhaltung (1) unter Einbeziehung des Dokuments (11) sei das Ergebnis einer nachträglichen "Neudefinition" der Lehre der Entgegenhaltung (1). Es handle sich um eine Überinterpretation der Lehre von Entgegenhaltung (1), zu der ein Durchschnittsfachmann am Anmeldetag keinesfalls gelangt wäre. Der Verweis auf das Dokument (11) könne nur als sehr explizit und auf einen bestimmten Gegenstand eingeschränkt verstanden werden. Zumindest die Auswahl der Isospezifität könne der Kombination beider Dokumente nicht entnommen werden.
Artikel 56 EPÜ - Erfinderische Tätigkeit
In der Entgegenhaltung (16), die als nächstliegender Stand der Technik betrachtet werde, würden monospezifische Bibliotheken zur Expression von bereits in vivo (nämlich durch Immunisierung von Mäusen) angereicherten vorselektierten Antikörper-Spezifitäten in einer der genetischen Manipulation zugänglichen Form beschrieben, jedoch keine umfassenden Antikörper-Bibliotheken im Sinne des Patents. Solche monospezifischen Bibliotheken seien ausschließlich zur in vitro-Herstellung der bereits in vivo induzierten Antikörper konzipiert und nicht zur Herstellung anderer Antikörper-Spezifitäten geeignet.
Die Entgegenhaltung (10) offenbare nicht die Herstellung kombinatorischer Antikörper-Bibliotheken, sondern lediglich die Herstellung von Bibliotheken von VH-Genen, deren Expressionsprodukte (sog. "single domain antibodies") als Alternative zu monoklonalen Antikörpern vorgeschlagen werden. Solche VH-Genbibliotheken gemäß der Entgegenhaltung (10) würden auch nicht auf der Grundlage von DNA aus den Zellen nicht-immunisierter Tiere, sondern auf der Grundlage von DNA aus den Zellen immunisierter Tiere gewonnen. Es sei zum Zeitpunkt der Anmeldung im Stand der Technik bekannt gewesen, dass nicht aktivierte B-Lymphozyten variable Gensequenzen exprimieren, die für Antikörper mit relativ schwacher Affinität zu den entsprechenden Antigenen kodieren. Hätte der Fachmann ausgehend von der Entgegenhaltung (16) die Herstellung von Genbibliotheken aus nicht-aktivierten menschlichen B-Lymphozyten erwogen, so wären die Erfolgsaussichten gering gewesen. Dass mit der beanspruchten Methode entgegen allen Erwartungen hochaffine Antikörper hergestellt werden könnten, sei mit Versuchsergebnissen belegt worden. Für eine überraschend erfolgreiche Lösung des technischen Problems spreche ebenfalls, dass autoantigene Antikörper, die in vivo einer negativen Selektion unterliegen, aus der Bibliothek isoliert werden konnten.
Artikel 83 EPÜ - Ausreichende Offenbarung
Die beanspruchte Erfindung werde in der Anmeldung ausreichend offenbart.
XII. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
XIII. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
Artikel 54 (3)(4) EPÜ 1973 - Dokument (1)
1. In der angefochtenen Zwischenentscheidung stellte die Einspruchsabteilung fest, dass das Verfahren gemäß Anspruch 4 von der Entgegenhaltung (1) nicht neuheitsschädlich vorweggenommen werde, weil in der Entgegenhaltung ein eindeutiger Hinweis auf IgM-spezifische Primer fehle. Der Verweis in der Entgegenhaltung (1) auf eine im Einspruchsverfahren als Dokument (11) eingereichte Veröffentlichung von Larrick et al. stehe nur in Zusammenhang mit der Lage der Primer und nicht - wie von der Einsprechenden behauptet - mit der Auswahl eines für einen bestimmten Immunglobulin-Isotyp spezifischen Primers (siehe Paragraph 2.3.1 der angefochtenen Zwischenentscheidung).
2. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Entgegenhaltung (1) als Stand der Technik gemäß Artikel 54 (3)(4) EPÜ 1973 gilt, deren Inhalt zur Beurteilung der Neuheit zu berücksichtigen ist. Im Beschwerdeverfahren ist hinsichtlich der Neuheit allein die Frage zu klären, ob ein Durchschnittsfachmann der Entgegenhaltung (1) ein Verfahren mit allen Merkmalen des Anspruchs 4 klar, eindeutig und unmittelbar entnehmen kann.
3. Die Entgegenhaltung (1) beschreibt ein Verfahren, bei dem Sequenzen, die mindestens einen Teil der variablen Region der schweren Kette von Immunglobulin-Molekülen kodieren, mittels PCR amplifiziert (siehe Spalte 8, Zeilen 7 bis 38) und zur Bereitstellung von Expressionsbibliotheken verwendet werden. Aus diesen Bibliotheken lassen sich Moleküle mit spezifischen Bindungseigenschaften isolieren (siehe Spalte 16, Zeilen 5 bis 8).
4. Es wurde von der Beschwerdeführerin nicht bestritten, dass ein Merkmal des Verfahrens gemäß Anspruch 4, wonach der Entwurf der PCR-Primer für die Rückreaktion zur Synthese des nicht-kodierenden Stranges der DNA der schweren Kette auf IgM-Sequenzen basiert (siehe Wortlaut des Anspruchs 4 in Paragraph II oben), in der Entgegenhaltung (1) nicht ausdrücklich beschrieben wird. Die Beschwerdeführerin argumentierte jedoch, dass sich dieses Merkmal aus dem Verweis auf den Inhalt der Veröffentlichung von Larrick et al. (Dokument (11) in diesem Verfahren) in Spalte 14, Zeilen 21-25 der Entgegenhaltung (1) eindeutig und unmittelbar ableiten lasse.
5. Diesem Argument kann nicht gefolgt werden. Die Passage der Entgegenhaltung (1), auf die sich die Beschwerdeführerin stützt, lautet:
"For example, for cloning of Ig heavy chain variable domains, the first set of primers may be located within the signal sequence and constant region, as described by Larrick et al., [18], ..."
Die Kammer kann in dieser Passage keinen klaren Hinweis auf eine bestimmte Stelle des Dokuments (11) erkennen, aus der das fragliche Merkmal dem Fachmann unmittelbar und eindeutig ersichtlich wäre. Insbesondere vermag die Kammer keine direkte Bezugnahme auf die Figur 1 oder die Tabelle 1B des Dokuments (11), geschweige denn auf den in der Tabelle 1B beschriebenen IgM-spezifischen Primer zu erkennen. Die Quellenangabe in der oben zitierten Passage steht nur in Verbindung mit der vorgeschlagenen Lage ("... may be located ...") der zur Klonierung der variablen Domäne der schweren Kette eingesetzten Primer. Daher hätte ein fachmännischer Leser, selbst wenn er auf den spezifischen Primer in der Tabelle 1B des Dokuments (11) aufmerksam geworden wäre, die Tatsache, dass es sich dabei um einen IgM-spezifischen Primer handelt, nicht als relevant betrachtet. Unter diesen Umständen ist die Kammer der Überzeugung, dass eine Kombination dieses spezifischen Merkmals mit der Lehre der Entgegenhaltung (1) sich dem Fachmann nicht aufdrängen würde (siehe T 291/85, ABl. EPA 1988, 302).
6. Aus diesen Gründen kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass ein Fachmann mindestens ein Merkmal des Verfahrens gemäß Anspruch 4, nämlich jenes, dass der Entwurf der Primer für PCR-Reaktion auf IgM-Sequenzen basiert, der Entgegenhaltung (1) nicht eindeutig und unmittelbar entnehmen kann. Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 4 als neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ anzusehen.
7. In der angefochtenen Zwischenentscheidung wurde der Gegenstand der Ansprüche 1, 6 und 7, die sich auf die durch das Verfahren gemäß Anspruch 4 erhaltene Human-Antikörper-Bibliothek bzw. deren Verwendung richten, ebenfalls als neu angesehen (siehe Paragraph 2.3.2 der Zwischenentscheidung). Aus den oben in Bezug auf Anspruch 4 angegebenen Gründen ist die Kammer der Auffassung, dass der von der Beschwerdeführerin erhobene Einwand der mangelnden Neuheit bezüglich der Ansprüche 1, 6 und 7 nicht gerechtfertigt ist.
Artikel 56 EPÜ - Erfinderische Tätigkeit
8. In der angefochtenen Zwischenentscheidung wurde der Gegenstand des Anspruchs 4 des erteilten Patents, der mit dem vorliegenden Anspruch 4 identisch ist, als erfinderisch im Sinne des Artikels 56 EPÜ erachtet (siehe Paragraph 3.1.4 der angefochtenen Entscheidung).
9. Nach Auffassung der Einspruchsabteilung, die von der Kammer geteilt wird, ist der Inhalt der Entgegenhaltung (16) als nächstliegender Stand der Technik anzusehen. Die Entgegenhaltung (16) beschreibt ein Verfahren zur Bereitstellung einer kombinatorischen Expressionsbibliothek mit Fab-Fragmenten aus Maus-Antikörpern. In diesem Verfahren wird mRNA aus Milzzellen einer Maus, die mit KLH-konjugierten NPN-Antigen immunisiert worden ist, oder aus daraus erhaltenen Hybridomen isoliert. Mit dieser mRNA als Matrize werden anschließend in getrennten PCR-Reaktionen Sequenzen, die die variable Domäne der schweren (Hc) bzw. leichten (Lc) IgG-Ketten kodieren, mit geeigneten Primern amplifiziert (siehe Seite 1277, linke Spalte, Absätze unter der Überschrift "Choice of antigen and amplification of antibody fragments"). Mit den amplifizierten Sequenzen werden zwei getrennte Lambda-Bibliotheken erzeugt: eine lambdaHc2-Bibliothek mit den Hc-kodierenden Sequenzen und eine lambdaLc2-Bibliothek mit den Lc-kodierenden Sequenzen. Zur Bereitstellung der kombinatorischen Bibliothek werden diese beiden Bibliotheken mit geeigneten Restriktionsenzymen gespalten und die erhaltenen Fragmente werden kombiniert und in Lambda-Phagen so eingebaut, dass nur Klone, die aus der aleatorischen Kombination einer schweren und einer leichten Kette resultieren, zu einem replikationsfähigen Phagen führen (siehe Seite 1277, rechte Spalte, Absatz unter der Überschrift "Library construction" und Figur 1).
10. Das in der Entgegenhaltung (16) beschriebene Verfahren dient demselben Zweck wie das Verfahren gemäß Anspruch 4, nämlich der Bereitstellung einer Antikörper-Bibliothek mit einem möglichst vielfältigen Antikörper-Repertoire. Dementsprechend besteht die objektiv zu lösende Aufgabe der Erfindung darin, ein alternatives Verfahren vorzuschlagen.
11. Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Streitpatent das Verfahren gemäß Anspruch 4 vor, das sich in verschiedener Hinsicht von dem in der Entgegenhaltung (16) beschriebenen Verfahren unterscheidet. Anders als von der Beschwerdeführerin behauptet ist die Tatsache, dass mit dem Verfahren der Entgegenhaltung (16) eine Maus- und mit dem Verfahren gemäß Anspruch 4 eine Human-Antikörper-Bibliothek erhalten wird, nicht der einzige Unterschied zwischen beiden Verfahren. Auch die Ausgangszellen, aus denen die mRNA isoliert wird, sind unterschiedlich: Während in dem Verfahren der Entgegenhaltung (16) Milzzellen einer mit einem bestimmten Antigen immunisierten Maus verwendet werden, wird die mRNA im erfindungsgemäßen Verfahren aus nicht aktivierten peripheren humanen B-Lymphozyten gewonnen, d.h. aus peripheren Lymphozyten, die von nicht immunisierten "naiven" Individuen stammen. Außerdem basieren die in dem Verfahren der Entgegenhaltung (16) eingesetzten Primer auf IgG-Sequenzen, während die Primer im erfindungsgemäßen Verfahren auf IgM-Sequenzen basieren. Die letzten zwei Unterschiede führen dazu, dass die Sequenzen, die gemäß dem Verfahren der Entgegenhaltung (16) bzw. dem erfindungsgemäßen Verfahren amplifiziert werden, unterschiedliche Antikörper-Repertoires widerspiegeln.
12. Die Kammer ist überzeugt, dass die der Erfindung zugrunde liegende Aufgabe durch das beanspruchte Verfahren erfolgreich gelöst wird.
13. Entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin ist die Kammer der Auffassung, dass die in Anspruch 4 vorgeschlagene Lösung sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus der Entgegenhaltung (16) ergibt. Zwar wird in dieser Entgegenhaltung darauf hingewiesen, dass unter Verwendung von mRNA aus unterschiedlichen Geweben (z.B. peripheres Blut, Knochenmark oder Lymphknoten) und verschiedenen PCR-Primern (z.B. solche, mit denen andere Antikörper-Klassen amplifiziert werden können) Antikörper-Bibliotheken erhalten werden, die sich hinsichtlich der Antikörpervielfalt unterscheiden (siehe Seite 1279, rechte Spalte, dritter Absatz, letzter Satz), der Fachmann kann jedoch der Entgegenhaltung (16) keinen Hinweis entnehmen, dass durch die Verwendung nicht aktivierter peripherer humaner Lymphozyten als Ausgangsmaterial für die Gewinnung der mRNA und den Einsatz von auf IgM-Sequenzen basierenden Primern eine Antikörper-Bibliothek mit einer großen Vielfalt an unterschiedlichen Antikörper-Sequenzen erhalten werden kann.
14. Nach Meinung der Kammer ergibt sich das erfindungsgemäße Verfahren auch nicht aus der Kombination der Entgegenhaltung (16) mit der Entgegenhaltung (10), in der erwähnt wird, dass Antikörper-Bibliotheken ausgehend von mRNA aus humanen peripheren Lymphozyten und aus Maus-Milzzellen generiert worden sind (siehe Seite 544, letzter Satz). Eine solche Kombination führt nicht zum Gegenstand des Anspruchs 4, weil dieser Entgegenhaltung weder entnommen werden kann, dass zur Bereitstellung einer Antikörper-Bibliothek mit einer großen Vielfalt an unterschiedlichen Antikörper-Sequenzen mRNA aus peripheren Lymphozyten von "naiven" Spendern, d.h. aus nicht aktivierten B-Lymphozyten gewonnen werden soll, noch dass IgM-Primer eingesetzt werden sollen.
15. Diese Lücke kann auch nicht durch das Dokument (6) gefüllt werden. Dieses Dokument, das von der Beschwerdeführerin als Beleg für das allgemeine Fachwissen eingereicht wurde, beschreibt, dass sich auf der Oberfläche der meisten humanen peripheren B-Lymphozyten sowohl IgM- als auch IgD-Moleküle mit derselben Spezifität befinden. Auch unter Berücksichtigung dieses Fachwissens kann ein Fachmann ausgehend von der Entgegenhaltung (16) und im Lichte der Entgegenhaltung (10) nur in rückschauender Betrachtung in Kenntnis der Erfindung auf das Verfahren gemäß Anspruch 4 kommen.
16. Zusammenfassend stellt die Kammer fest, dass der Gegenstand des Anspruchs 4 auf erfinderischer Tätigkeit beruht. Dasselbe gilt für die übrigen Ansprüche, denen derselbe Erfindungsgedanke zugrunde liegt.
17. Angesichts dieser Entscheidung sieht die Kammer keine Veranlassung, auf die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Argumente einzugehen, die auf das Nichtvorhandensein eines zusätzlichen Bonus-Effekts bei dem erfindungsgemäßen Verfahren abzielen (siehe Paragraph X, Seiten 7 und 8 oben).
Artikel 83 EPÜ - Ausreichende Offenbarung
18. Im Beschwerdeverfahren hat die Beschwerdeführerin die Auslegung des Begriffs "nicht aktivierte periphere humane B-Lymphozyten" in den Ansprüchen 1 und 4, die der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung zugrunde lag (siehe Paragraph 6.3 der angefochtenen Zwischenentscheidung), ausdrücklich akzeptiert und ihren Einwand unter Artikel 83 EPÜ wegen mangelnder Offenbarung bezüglich der Bereitstellung von nicht aktivierten B-Lymphozyten fallen gelassen.
19. Die Kammer hat keine Veranlassung, die Entscheidung der Einspruchsabteilung hinsichtlich des Artikels 83 EPÜ in Frage zu stellen.
Ergebnis
20. Keiner der von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Beschwerdegründe rechtfertigt die Aufhebung der angefochtenen Zwischenentscheidung.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.