T 1001/13 (Expressionshemmung/ALNYLAM) 09-01-2019
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VERFAHREN ZUR HEMMUNG DER EXPRESSION EINES ZIELGENS UND MEDIKAMENT ZUR THERAPIE EINER TUMORERKRANKUNG
Hauptantrag (Patent in der erteilten Fassung) - hinreichende Offenbarung (nein)
1. Hilfsantrag - hinreichende Offenbarung (nein)
2. und 3. Hilfsantrag - Zulassung ins Verfahren (nein)
4. Hilfsantrag - hinreichende Offenbarung (ja)
Erfinderische Tätigkeit (ja)
I. Die Beschwerden der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin I) und der Einsprechenden 1 (Beschwerdeführerin II) richten sich gegen die am 28. Februar 2013 zur Post gegebene Zwischenentscheidung einer Einspruchsabteilung betreffend das europäische Patent Nr. 1 349 927 mit der Bezeichnung "Verfahren zur Hemmung der Expression eines Zielgens und Medikament zur Therapie einer Tumorerkrankung". Das Patent wurde für die als internationale Anmeldung nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens eingereichte und als WO 02/055692 veröffentlichte europäische Patentanmeldung Nr. 02702247.4 (im Folgenden "die Anmeldung") erteilt.
II. Die Ansprüche 1 und 11 des erteilten Patents lauten wie folgt:
"1. In vitro-Verfahren zur Hemmung einer die Apoptose einer Tumorzelle hemmenden oder verhindernden Expression mindestens eines Zielgens, wobei mindestens eine doppelsträngige Ribonukleinsäure (dsRNA) in die Tumorzelle eingeführt wird, deren einer Strang S1 einen zum Zielgen zumindest abschnittsweise komplementären aus weniger als 25 aufeinanderfolgenden Nukleotiden bestehenden Bereich aufweist, wobei nur das am 3'-Ende des Strangs S1 gelegene Ende der dsRNA am 3'-Ende des Strangs S1 einen aus 1 bis 4 Nukleotiden gebildeten einzelsträngigen Überhang aufweist.
11. Medikament zur Verwendung in der Therapie einer Tumorerkrankung, enthaltend mindestens eine doppelsträngige Ribonukleinsäure (dsRNA) zur Hemmung einer die Apoptose von Tumorzellen hemmenden oder verhindernden Expression mindestens eines zielgens[sic], wobei ein Strang S1 der dsRNA einen zum Zielgen zumindest abschnittsweise komplementären aus weniger als 25 aufeinanderfolgenden Nukleotiden bestehenden Bereich aufweist, wobei nur das am 3'-Ende des Strangs S1 gelegene Ende der dsRNA am 3'-Ende des Strangs S1 einen aus 1 bis 4 Nukleotiden gebildeten einzelsträngigen Überhang aufweist."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 10 und 12 bis 22 sind auf verschiedene Ausführungsformen des Verfahrens gemäß Anspruch 1 bzw. des Medikaments gemäß Anspruch 11 gerichtet.
III. Gegen die Erteilung des Patents wurden zwei auf die Einspruchsgründe des Artikels 100 a) i.V.m. Artikeln 54 und 56 EPÜ, 100 b) und 100 c) EPÜ gestützte Einsprüche eingelegt.
IV. In der angefochtenen Entscheidung befand die Einspruchsabteilung, dass der Einspruchsgrund des Artikels 100 b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag) entgegensteht, und dass die Erfindung gemäß Hilfsantrag 1 nicht so deutlich und vollständig offenbart ist, dass ein Fachmann sie ausführen kann (Artikel 83 EPÜ). Nach Auffassung der Einspruchsabteilung genügt jedoch das geänderte Patent gemäß Hilfsantrag 2 den Erfordernissen des EPÜ.
V. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 11 des Hilfsantrags 1 unterschieden sich von den entsprechenden Ansprüchen des erteilten Patents (siehe Absatz II oben) durch das zusätzliche Merkmal "..., wobei der komplementäre Bereich der dsRNA 19 bis 24 Nukleotide aufweist". In den Ansprüchen 1 und 11 des Hilfsantrags 2 wurde als weiteres Merkmal "..., wobei das Zielgen mindestens ein Gen der Bcl-2-Familie ist" aufgenommen.
VI. Mit der Beschwerdebegründung vom 10. Juli 2013 verfolgte die Beschwerdeführerin I ihren Hauptantrag (Patent in der erteilten Fassung) weiter, reichte jedoch drei Anspruchssätze als 1. bis 3. Hilfsantrag ein. Die Ansprüche gemäß dem 1. Hilfsantrag sind mit denen des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden 1. Hilfsantrags identisch und unterscheiden sich von denen des erteilten Patents (siehe Absatz II. oben) durch die Aufnahme des zusätzlichen Merkmals "..., wobei der komplementäre Bereich der dsRNA 19 bis 24 Nukleotide aufweist" in die unabhängigen Ansprüche 1 und 11. Die Ansprüche gemäß dem neuen 2. Hilfsantrag unterschieden sich von denen des 1. Hilfsantrags durch die Streichung des Wortlauts "zumindest abschnittsweise [komplementär]" in den Ansprüchen 1 und 11.
VII. Die Beschwerdeführerin II reichte zusammen mit ihrer Beschwerdebegründung neue Beweismittel ein.
VIII. Beide Beschwerdeführerinnen beantragten hilfsweise eine mündliche Verhandlung.
IX. Die Verfahrensbeteiligten nahmen zu den Eingaben der anderen Beteiligten Stellung. Mit ihrer Erwiderung vom 6. Dezember 2013 reichte die Beschwerdeführerin I drei Anspruchssätze als 3. bis 5. Hilfsantrag sowie ein weiteres Beweisstück ein.
X. Die Ansprüche gemäß dem neuen 3. Hilfsantrag unterscheiden sich von den Ansprüchen des erteilten Patents (siehe Absatz II oben) durch das in die unabhängigen Ansprüchen 1 und 11 aufgenommene Merkmal "..., und wobei der Strang S1 weniger als 30 Nukleotide aufweist" und die Streichung dieses Merkmals in den abhängigen Ansprüchen 4 und 14. Außerdem ist in den Ansprüchen 1 und 11 der Wortlaut "zumindest abschnittsweise [komplementär]" gestrichen worden.
XI. Die Ansprüche gemäß dem 4. Hilfsantrag, die mit denen des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden 2. Hilfsantrags identisch sind, unterscheiden sich von denen des vorliegenden 2. Hilfsantrags (siehe Absatz VI oben) durch das in die Ansprüche 1 und 11 aufgenommene Merkmal "..., wobei das Zielgen mindestens ein Gen der Bcl-2-Familie ist". Der 5. Hilfsantrag ist nicht Gegenstand dieser Entscheidung.
XII. Mit Schreiben vom 11. März 2014 nahm die Einsprechende 2 ihren Einspruch zurück.
XIII. Die Beteiligten wurden zur mündlichen Verhandlung geladen. In einer Mitteilung zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung machte die Beschwerdekammer die Beteiligten auf für die Zulassung der neu eingereichten Hilfsanträge relevante Tatsachen aufmerksam und teilte ihre vorläufige Meinung zu strittigen Punkten mit.
XIV. Die Beschwerdeführerinnen I und II teilten der Kammer mit Schreiben vom 12. Dezember 2018 bzw. 1. November 2018 mit, dass sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen würden.
XV. Die mündliche Verhandlung fand am 9. Januar 2019 in Abwesenheit der Beschwerdeführerinnen statt.
XVI. In dieser Entscheidung wird auf folgende Entgegenhaltungen Bezug genommen:
(6): O. Gautschi et al., 2001, Journal of the National Cancer Institute, Bd. 93, Nr. 6, Seiten 463 bis 471;
(8): S. M. Elbashir et al., 2001, The EMBO Journal, Bd. 20, Nr. 23, Seiten 6877 bis 6888;
(36): D. W. Nicholson, 12. Oktober 2000, Nature, Bd. 407, Seiten 810 bis 816;
(37): J. M. Adams und S. Cory, 28. August 1998, Science, Bd. 281, Seiten 1322 bis 1326;
(38): J. C. Reed et al., 15. Oktober 1990, Cancer Research, Bd. 50, Seiten 6565 bis 6570;
(39): J. Chen et al., Mai-Juni 2000, Neoplasia, Bd. 2, Nr. 3, Seiten 235 bis 241;
(40): R. A. Olie et al., 1. Juni 2000, Cancer Research, Bd. 60, Seiten 2805 bis 2809;
(41): L. Manche et al., November 1992, Molecular and Cellular Biology, Bd. 12, Nr. 11, Seiten 5238 bis 5248;
(43): WO 99/32619, veröffentlich am 1. Juli 1999;
(44): F. Czauderna et al., 2003, Nucleic Acids Research, Bd. 31, Nr. 11, Seiten 2705 bis 2716;
(49): S. Seshargiri et al., 17. Dezember 1999, The Journal of Biological Chemistry, Bd. 274, Nr. 51, Seiten 36769 bis 36773; und
(59): D. T. Chao und S.J. Korsmeyer, 1998, Ann. Rev. Immunol., Bd. 16, Seiten 395 bis 419.
XVII. Die Beschwerdeführerin I argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
Hauptantrag (erteiltes Patent) - Artikel 100 b) EPÜ
Das Patent offenbare die Erfindung so deutlich und vollständig, dass ein Fachmann sie über den gesamten Anspruchsumfang ausführen kann. Die Tatsache, dass am Anmeldetag wenige Gene bekannt waren, deren Expression die Apoptose von Tumorzellen hemmt oder verhindert, bedeute nicht, dass die beanspruchte Erfindung nicht ausgeführt werden könne. Nach der Entscheidung T 292/85 (Abl. EPA 1989, 275) könnten funktionell definierte Merkmale die Verwendung noch unbekannter oder noch nicht ins Auge gefasster Möglichkeiten einschließlich spezifischer Varianten umfassen, die möglicherweise eines Tages bereitgestellt oder erfunden werden. Es sei unerheblich, ob einige nicht näher bezeichnete Varianten eines funktionell definierten Merkmals unbrauchbar sind, solange dem Fachmann aufgrund der Offenbarung oder seines allgemeinen Fachwissens geeignete Varianten bekannt seien, die dieselbe Wirkung haben.
Im vorliegendem Fall seien dem Fachmann aus den Entgegenhaltungen (39), (40) und (36) zwei andere Gene (Survivin und FLIP) bekannt, deren Expression zur Hemmung der Apoptose einer Tumorzelle führt. Der Fachmann habe weitere solche Gene mit Hilfe des in der Entgegenhaltung (49) beschriebenen Screening-Verfahrens identifizieren können. Der Einspruchsgrund des Artikels 100 b) EPÜ könne der Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung nur entgegenstehen, wenn ernsthafte, durch nachprüfbare Fakten erhärtete Zweifel bestehen, dass Gene, deren Expression die Apoptose einer Tumorzelle hemmen oder verhindern, mit einer wie in den Ansprüchen definierten dsRNA gehemmt werden können. Dafür gebe es keinen Beleg.
2. und 3. Hilfsantrag - Zulassung ins Verfahren
Von dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden 1. Hilfsantrag unterscheide sich der 2. Hilfsantrag nur durch die Streichung des Wortlauts "zumindest abschnittsweise [komplementär]" in den Ansprüchen 1 und 11. Diese Änderung sei im Einspruchsverfahren eingehend erörtert worden und auch in den Ansprüchen enthalten, die nach Ansicht der Einspruchsabteilung den Voraussetzungen des EPÜ genügen.
Das Merkmal "..., und wobei der Strang S1 weniger als 30 Nukleotide aufweist" sei in die Ansprüche 1 und 11 des 3. Hilfsantrags aufgenommen worden, um den Einwand, längere dsRNAs könnten eine Interferon-Reaktion hervorrufen, zu entkräften.
4. Hilfsantrag
Artikel 83 EPÜ
Bei dem in Zusammenhang mit Artikel 83 EPÜ vorgebrachten Argument, die Anmeldung enthalte keine eindeutige Definition des Begriffs "Bcl-2-Familie", handle es sich in Wirklichkeit um einen Einwand nach Artikel 84 EPÜ. Die Bedeutung dieses im Stand der Technik allgemein gebrauchten Begriffs ergebe sich jedoch aus dem Verweis auf die Entgegenhaltungen (6) und (57) in der Anmeldung.
Artikel 56 EPÜ
Der Gegenstand der Ansprüche beruhe auf erfinderischer Tätigkeit. Keine der Entgegenhaltungen (36), (38) bzw. (40), die die Hemmung der Genexpression mit Hilfe von Antisinn-ssRNA beschreiben, gebe dem Fachmann einen Hinweis auf die erfindungsgemäße Lösung.
XVIII. Die Argumente der Beschwerdeführerin II lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Hauptantrag (erteiltes Patent) - Artikel 83 EPÜ
Die Entscheidung der Einspruchsabteilung, der Einspruchsgrund des Artikels 100 b) EPÜ stehe der Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung entgegen, sei richtig. Die Entscheidungen T 435/91 (Abl. EPA 1995, 188) und T 1063/06 (Abl. EPA 2009, 516), die einen dem vorliegenden Fall ähnlichen Sachverhalt betreffen, seien einschlägig. Dagegen sei die Entscheidung T 292/85 (siehe oben) anders gelagert und deshalb nicht anwendbar.
4. Hilfsantrag
Artikel 83 EPÜ
Die in den Ansprüchen 1 und 11 beanspruchte Erfindung sei in der Anmeldung nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann. Die Anmeldung nenne zwar die Bcl-2-Genfamilie, definiere jedoch die Mitglieder dieser Familie lediglich anhand der allgemeinen funktionellen Definition als Gene, deren Expression die Apoptose einer Tumorzelle hemmt oder verhindert. Die Anmeldung offenbare auch keinen Test, mit dem die anti-apoptotische Aktivität eines Gens festgestellt werden könnte. Die Bcl-2-Genfamilie umfasse auch zahlreiche Gene, deren Expression sich pro-apoptotisch auswirkt.
In den Ansprüchen 1 und 11 würden zwei Komplementaritäten definiert: die Komplementarität zwischen den beiden Strängen der dsRNA und die zwischen dem S1-Strang und dem Zielgen. Die Beschränkung des komplementären Bereichs der dsRNA auf 19 bis 24 Nukleotide gebe jedoch keinen Hinweis auf den Umfang der Komplementarität zum Zielgen. Auch die Gesamtlänge der dsRNA und der Umfang der Komplementarität zwischen Strang S1 und Zielgen seien in der Anmeldung nicht deutlich offenbart.
Die Anmeldung liefere keinen Beweis, dass die im Beispiel beschriebene Hemmung der Expression des Bcl-2-Gens zur Apoptose führt und nicht zu einer anderen Art von Zelltod, z.B. durch Nekrose.
Artikel 56 EPÜ
Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 11 sei nicht erfinderisch. Ausgehend von der Entgegenhaltung (36) als nächstliegender Stand der Technik, bestehe die Aufgabe der angeblichen Erfindung darin, ein Verfahren bzw. Medikament bereitzustellen, bei dem die Expression von Bcl-2 mit anderen Mitteln gehemmt wird. Die Entgegenhaltung (8) beschreibe ein Molekül, das die Merkmale einer dsRNA aufweist und RNA-Interferenz hervorruft. Es sei für den Fachmann naheliegend, die Lehre dieser zwei Entgegenhaltungen zu kombinieren und zum beanspruchten Gegenstand zu gelangen. Dasselbe gelte für eine Kombination einer der Entgegenhaltungen (38), (39) und (40) mit der Entgegenhaltung (8). Es sei nicht glaubhaft dargelegt, dass die technische Wirkung, auf der die Erfindung beruht, über den gesamten Anspruchsumfang erzielt werden könne. Der einzelsträngige Überhang aus 1 bis 4 Nukleotiden am 3'-Ende des Strangs S1 ergebe keine überraschende Wirkung. In Anbetracht der Entscheidung T 1329/04 vom 28. Juni 2005 könne erfinderische Tätigkeit nicht vorliegen.
XIX. Die Beschwerdeführerin I (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent auf der Grundlage des Hauptantrages (erteiltes Patent), hilfsweise eines der Hilfsanträge 1 bis 5 aufrechtzuerhalten. Die Hilfsanträge 1 und 2 wurden mit der Beschwerdebegründung vom 10. Juli 2013, die Hilfsanträge 3 bis 5 mit Schriftsatz vom 6. Dezember 2013 eingereicht.
XX. Die Beschwerdegegnerin II (Einsprechende 1) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Hauptantrag (erteiltes Patent) - Artikel 100 b) EPÜ
1. Das Verfahren gemäß Anspruch 1 und das Medikament gemäß Anspruch 11 des Streitpatents in der erteilten Fassung beruhen auf der Hemmung eines lediglich durch ein funktionelles Merkmal definierten Zielgens, nämlich ein Gen, dessen Expression die Apoptose einer Tumorzelle hemmt oder verhindert. Als Zielgene werden im Streitpatent nur Gene der Bcl-2-Familie, insbesondere Bcl-2, Bcl-w und Bcl-xL offenbart. Die im Patent beschriebenen Versuchsergebnisse, die eine technische Wirkung belegen, beschränken sich auf die Hemmung der Expression von Bcl-2 durch Verwendung zweier dsRNAs, deren jeweiliger S1-Strang komplementär zu einem Abschnitt des Bcl-2-Gens ist.
2. In der angefochtenen Zwischenentscheidung befand die Einspruchsabteilung, dass das Patent das Verfahren gemäß Anspruch 1 hinsichtlich sowohl des Zielgens als auch der Struktur der verwendeten dsRNA nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann es über den gesamten Anspruchsumfang ohne unzumutbaren Aufwand ausführen kann (siehe Punkt 3.3.3.6.3 der Entscheidung).
3. Auch die Kammer ist der Auffassung, dass die Offenbarung im Patent hinsichtlich des zu hemmenden Zielgens dem Fachmann nicht ermöglicht, die Erfindung über den gesamten Umfang der Ansprüche in die Praxis umzusetzen. Die Beschwerdeführerin I stützte sich auf die Entscheidung T 292/85 (Abl. EPA 1989, 275) und wies darauf hin, dass am Anmeldetag neben dem Bcl-2-Gen mindestens zwei andere Gene (Survivin und FLIP) bekannt waren, deren Expression zur Hemmung der Apoptose einer Tumorzelle führt, und dass der Fachmann weitere solche Gene mit Hilfe des in der Entgegenhaltung (49) beschriebenen Screening-Verfahrens identifizieren konnte.
4. Das Streitpatent offenbart jedoch kein Screening-Verfahren zur Identifizierung von die Apoptose von Tumorzellen hemmenden Genen und verweist auch nicht auf die Entgegenhaltung (49). Der Inhalt dieses Dokuments gehört auch nicht zum allgemein üblichen Wissenstand des Fachmanns auf dem betreffenden Gebiet zum Zeitpunkt der Anmeldung. Somit fehlte dem Fachmann für die Suche nach weiteren die Apoptose von Tumorzellen hemmenden Zielgenen eine wesentliche technische Information.
5. Das Screening nach Zielgenen mit dem in der angefochtenen Entscheidung vorgeschlagenen Testsystem (siehe Seite 18, zweiter Absatz von unten) ist nach Meinung der Kammer nicht nur mit unzumutbarem Arbeitsaufwand, sondern auch mit Unbekannten verbunden, z.B. bezüglich der zu untersuchenden Tumorzellen. Wie in der angefochtenen Entscheidung zutreffend festgestellt ist ein solches Unterfangen als Forschungsprogramm zur Ermittlung weiterer Zielgene anzusehen, zu dessen Durchführung das Streitpatent keine Orientierungshilfe bietet, die über die Definition der Wirkung der Expression des Gens auf die Apoptose einer Tumorzelle und das konkrete Beispiel eines solchen Gens (Bcl-2) hinausgeht.
6. Aus diesen Gründen kommt auch die Kammer zu dem Ergebnis, dass der Einspruchsgrund des Artikels 100 b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung entgegensteht.
1. Hilfsantrag - Artikel 83 EPÜ
7. Der Gegenstand der geänderten Ansprüche 1 und 11 gemäß dem 1. Hilfsantrag ist bezüglich der Länge des komplementären Bereich der dsRNA eingeschränkt, dennoch umfassen diese Ansprüche Ausführungsformen, die aus den für den Hauptantrag angegebenen Gründen in der Anmeldung nicht hinreichend offenbart sind. Daher ist auch die Feststellung in der angefochtenen Entscheidung, dass die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ nicht erfüllt sind (siehe Punkt 4.2), richtig.
2. und 3. Hilfsantrag - Zulassung ins Verfahren
8. Gemäß Artikel 12(4) VOBK hat die Kammer die Befugnis, neue Anträge, die bereits im Einspruchsverfahren hätten vorgebracht werden können, nicht zuzulassen.
9. Die Streichung des Merkmals "zumindest abschnittsweise" und die Einfügung des Merkmals "... wobei der komplementäre Bereich der dsRNA 19 bis 24 Nukleotide aufweist" in die Ansprüche 1 und 11 des 2. Hilfsantrags sind als Versuch anzusehen, den auf die Entgegenhaltung (44) gestützten Einwand der mangelnden Offenbarung hinsichtlich des Umfangs der Komplementarität zum Zielgen sowie der Länge des doppelsträngigen Bereichs der dsRNA zu entkräften. Dieser Einwand wurde bereits mit dem Einspruch der Beschwerdeführerin II erhoben. Die Beschwerdeführerin I hat zur Frage, warum der 2. Hilfsantrag nicht bereits im Einspruchsverfahren hätte eingereicht werden können, nichts vorgetragen. Der Kammer sind auch keine Gründe ersichtlich, die die Einreichung des neuen Hilfsantrags erst im Beschwerdeverfahren rechtfertigen. Zudem ist zu bemerken, dass es der Erfindung gemäß 2. Hilfsantrag ebenso wie dem Hauptantrag an hinreichender Offenbarung bezüglich der funktionell definierten Zielgene mangelt (siehe Absätze 1 bis 5 oben).
10. Ähnliches gilt für den neuen 3. Hilfsantrag. Mit dem in die Ansprüche 1 und 11 eingefügten Merkmal "... und wobei der Strang S1 weniger als 30 Nukleotide aufweist" versucht die Beschwerdeführerin I den auf die Entgegenhaltung (41) gestützten Einwand der mangelnden Offenbarung hinsichtlich der Gesamtlänge der dsRNA zu entkräften. Auch dieser Einwand wurde bereits im Einspruchschriftsatz erhoben und etwaige Gründe für die verspätete Einreichung des 3. Hilfsantrags sind weder vorgetragen noch der Kammer ersichtlich.
11. Aus diesen Gründen entscheidet die Kammer in Ausübung ihrer Befugnis gemäß Artikel 12(4) VOBK die erstmals im Beschwerdeverfahren eingereichten 2. und 3. Hilfsanträge nicht ins Verfahren zuzulassen.
4. Hilfsantrag
Artikel 83 EPÜ
12. Der 4. Hilfsantrag ist mit dem der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden 2. Hilfsantrag identisch. In der Entscheidung befand die Einspruchsabteilung, dass bei diesem Antrag die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ erfüllt sind.
13. Dieser Feststellung wurde von der Beschwerdeführerin II mit der Begründung widersprochen, die Bcl-2-Genfamilie sei in der Anmeldung nicht eindeutig definiert. Dieser Einwand betrifft jedoch eher die Klarheit des Begriffs "Bcl-2-Familie" als die Offenbarung in der Anmeldung. Der Einwand kann schon deswegen nicht berücksichtigt werden, weil das in die Ansprüche 1 und 11 aufgenommene Merkmal "das Zielgen [ist] mindestens ein Gen der Bcl-2-Familie" den Gegenstand der Ansprüche 7 bzw. 17 des Patents in der erteilten Fassung charakterisierte (siehe Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 3/14, Abl. EPA 2015, A102).
14. Die Kammer ist auch überzeugt, dass der Begriff "Bcl-2-Familie" für den Fachmann am Anmeldetag eine klare Bedeutung hatte: Es handelt sich um eine Familie von Genen, die an der Steuerung der Apoptose beteiligte Proteine mit mindestens einem der vier konservierten BH1- bis BH4-Motive kodieren (siehe Entgegenhaltung (37), Seite 1322, rechte Spalte unter der Überschrift "Opposing Factions in the Family" sowie Exhibit 2 und Entgegenhaltung (57)). Anhand dieser Homologie war es dem Fachmann am Anmeldetag möglich, ohne unzumutbaren Aufwand weitere Zielgene dieser Familie zu finden.
15. Das von der Beschwerdeführerin II vorgebrachte Argument, die Bcl-2-Familie umfasse auch zahlreiche Gene, deren Expression eine pro-apoptotische Wirkung hat, kann den Einwand der mangelnden Offenbarung auch nicht stützen, weil der Fachmann geeignete Zielgene dieser Familie ohne unzumutbaren Aufwand identifizieren kann. Die pro- bzw. anti-apoptotische Wirkung der Mitglieder dieser Familie kann bereits aus der Proteinstruktur abgeleitet werden, da anscheinend keines der pro-apoptotischen Proteine der Bcl-2-Familie ein BH4-Motif aufweist (siehe Figur 2 der Entgegenhaltung (37)). Zudem ist der Aufwand, die Wirkung der Expression eines bereits als mögliches Mitglied dieser Familie identifizierten Gens auf die Apoptose einer Tumorzelle zu testen, nach Meinung der Kammer relativ gering, selbst wenn - wie die Beschwerdeführerin II argumentierte - das Testsystem angepasst werden müsste.
16. Die Beschwerdeführerin II wies zutreffend darauf hin, dass in den Ansprüchen 1 und 11 zwei Komplementaritäten definiert werden: die Komplementarität zwischen den beiden Strängen der dsRNA und die zwischen dem S1-Strang und dem Zielgen. Ihrer Meinung nach wird jedoch die Gesamtlänge der dsRNA in der Anmeldung nicht offenbart. Dieser Meinung kann sich die Kammer nicht anschließen. Das Merkmal "... wobei der komplementäre Bereich der dsRNA 19 bis 24 Nukleotide aufweist" definiert den komplementären Bereich zwischen den beiden Strängen der dsRNA. Daraus ergibt sich auch die Gesamtlänge der dsRNA, die anspruchsgemäß aus einem doppelsträngigen Bereich von 19 bis 24 Nukleotiden und einem einzelsträngigen Überhang am 3'-Ende des S1-Strangs von 1 bis 4 Nukleotiden besteht.
17. Die Beschwerdeführerin II stellte auch die Ausführbarkeit der Erfindung bezüglich des nach unten nicht eingeschränkten Umfangs der Komplementarität zwischen Strang S1 und Zielgen ("... deren einer Strang S1 einen zum Zielgen komplementären aus weniger als 25 aufeinanderfolgenden Nukleotiden bestehenden Bereich aufweist") in Frage. In ihrer Mitteilung wies die Kammer darauf hin, dass der Fachmann ausgehend von der Offenbarung im experimentellen Beispiel der Anmeldung zunächst mit einer 100%-igen Komplementarität arbeiten und sich dann nach unten herantasten würde. Der Einschätzung des zur Ermittlung der unteren Grenze der Komplementarität erforderlichen Experimentationsaufwands als gering und daher nicht unzumutbar wurde von der Beschwerdeführerin II nicht widersprochen.
18. Zuletzt bemängelte die Beschwerdeführerin II den fehlenden Beweis für eine Apoptose der Tumorzellen nach Hemmung der Expression des Bcl-2-Gens. Dieses Argument ist nicht überzeugend. Es ist durchaus glaubhaft, dass die Hemmung der Expression eines für seine anti-apoptotische Aktivität bekannten Gens zur Apoptose der Zellen führt. Die Tatsache, dass es auch andere Arten von Zelltod (z.B. durch Nekrose) gibt, entlastet die Beschwerdeführerin II nicht von ihrer Pflicht, zu beweisen, dass keine Apoptose eintritt.
19. Zusammenfassend stellt die Kammer fest, dass die Einwände gegen die Ausführbarkeit der gemäß dem 4. Hilfsantrag beanspruchten Erfindung nicht überzeugend sind. Folglich sind die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ als erfüllt anzusehen.
Artikel 56 EPÜ
20. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Einspruchsabteilung fest, dass der Gegenstand der Ansprüche erfinderisch ist. Nach Berücksichtigung der im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Argumente ist die Kammer derselben Auffassung.
21. In ihrer Beschwerdebegründung betrachtete die Beschwerdeführerin II entweder die Entgegenhaltung (36) oder die Entgegenhaltungen (38), (39) bzw. (40) als nächstliegender Stand der Technik für den Gegenstand der Ansprüche 1 und 11.
22. Die in diesen Entgegenhaltungen beschriebenen Verfahren unterscheiden sich vom Gegenstand des Anspruchs 1 nicht nur durch die Anwendung einer anderen Methode zur Hemmung der Genexpression (Antisinn-Technik) und dementsprechend eines anderen Hemmstoffs (ssRNA), sondern auch durch die Struktur des Hemmstoffs.
23. Die zu lösende Aufgabe wurde von der Beschwerdeführerin II als die Bereitstellung eines Verfahrens zur Hemmung der Expression eines Gens der Bcl-2-Familie mit anderen Mitteln formuliert.
24. In Anbetracht der in der Anmeldung enthaltenen Versuchsergebnisse wird diese Aufgabe mit dem Verfahren gemäß Anspruch 1 glaubhaft gelöst.
25. Wie die Einspruchsabteilung (siehe Seite 24, erster vollständiger Absatz der angefochtenen Entscheidung) vermag die Kammer in der Entgegenhaltung (8) keinen Anreiz für den Fachmann zu finden, das in den Entgegenhaltungen (36), (38), (39) bzw. (40) beschriebene Verfahren zur Hemmung der Expression des Bcl-2-Gens so zu modifizieren, dass anstelle der ssRNA eine wie in Anspruch 1 definierte dsRNA eingesetzt wird, insbesondere eine dsRNA, bei der nur das am 3'-Ende des Strangs S1 gelegene Ende der dsRNA am 3'-Ende des Strangs S1 einen aus 1 bis 4 Nukleotiden gebildeten einzelsträngigen Überhang aufweist.
26. Zwar ist in Figur 6A und 6C der Entgegenhaltung (8) unter den acht getesteten dsRNAs ein dsRNA-Molekül, das einen solchen Überhang aufweist. Jedoch lautet die von den Autoren dieser Entgegenhaltung gezogene Schlussfolgerung aus den Ergebnissen der darin beschriebenen Experimente wie folgt (siehe Seite 6885, linke Spalte, erster Satz unter der Überschrift "The siRNA user guide"):
"Efficiently silencing siRNA duplexes are composed of 21 nt sense and 21 nt antisense siRNAs and must be selected to form a 19 bp double helix with 2 nt 3'-overhanging ends" ([Die Expression eines Gens] wirksam hemmende doppelsträngige siRNAs bestehen aus einem Sinn-Strang mit 21 Nukleotiden und einem Antisinn-Strang mit 21 Nukleotiden und müssen so ausgewählt werden, dass sie einen Doppelstrang von 19 Basenpaaren mit 3'-überhängenden Enden aus 2 Nukleotiden bilden; Übersetzung und Hervorhebung durch die Kammer)
27. Diesem Zitat ist zu entnehmen, dass zur effizienten Hemmung eines Zielgens dsRNAs mit zwei überhängenden Enden benötigt werden. In Anbetracht dieser eindeutigen Lehre hätte der Fachmann das in Figur 6C dargestellte dsRNA-Molekül zwar einsetzen können, er würde aber ein solches Molekül als nicht erfolgsversprechend ansehen. Unter Berücksichtigung dieser Umstände vermag das Argument der Beschwerdeführerin II, die erfindungsgemäße Lösung sei naheliegend, nicht zu überzeugen.
28. Auch aus der Kombination der Entgegenhaltungen (36), (38), (39) bzw. (40) mit der Entgegenhaltung (43) ergibt sich die erfindungsgemäße Lösung nicht in naheliegender Weise. Diese Entgegenhaltung beschreibt zwar die Hemmung von Genexpression mit Hilfe von dsRNA und erwähnt - unter vielen anderen - eine mögliche Verwendung zur Tumorbehandlung, bezüglich der Struktur der einzusetzenden dsRNA ist die Lehre dieser Entgegenhaltung jedoch sehr allgemein. Eine dsRNA mit den in den Ansprüchen 1 und 11 angegebenen Merkmalen kann der Entgegenhaltung (43) nur bei rückschauender Betrachtung in Kenntnis der Erfindung entnommen werden.
29. Aus diesen Gründen ist das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ zu bejahen.
Artikel 113(1) EPÜ
30. Die Gründe, auf die sich diese Entscheidung stützt, sind den Beteiligten aus der angefochtenen Entscheidung und der Mitteilung der Kammer zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung bekannt. Obwohl die Beteiligten Gelegenheit hatten, sich dazu, entweder schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung, zu äußern, machten sie davon keinen Gebrauch. Das rechtliche Gehör ist dennoch gewährt worden.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerden werden zurückgewiesen.