T 1720/15 31-01-2018
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Rollo für ein Schiebedachsystem
BOS GmbH & Co. KG
Advanced Comfort Systems France SAS-ACS France
Webasto SE
Änderungen - unzulässige Erweiterung (nein)
Spät vorgebrachte Argumente - Verfahrensökonomie
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
I. Gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zurückweisung der Einsprüche gegen das europäische Patent Nr. 1 588 880 haben die Beschwerdeführerin I (Einsprechende 1) sowie die Beschwerdeführerin II (Einsprechende 3) Beschwerde eingelegt.
II. Die Einspruchsabeilung war der Auffassung, dass keine unzulässige Erweiterung gemäß Artikel 100 c) EPÜ und Artikel 123 (2) EPÜ vorliege und der Gegenstand von Anspruch 1 neu und erfinderisch sei gegenüber dem angeführten Stand der Technik, unter anderem gegenüber:
D2: US 4,825,921;
D10: EP 1 010 559 A1;
D13: US 1,882,982;
D15: DE 101 40 412 C1.
III. Am 31. Januar 2018 wurde vor der Beschwerdekammer verhandelt.
Die Beschwerdeführerinnen I und II (Einsprechende 1 und 3) beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufrechterhaltung des europäischen Patents auf der Basis des mit der Beschwerdeerwiderung vom 29. März 2016 eingereichten Hilfsantrags als einzigem verbleibenden Antrag.
IV. Anspruch 1 gemäß dem einzigen verbleibenden Antrag lautet wie folgt (Merkmale M1 bis M10 in Anlehnung an die Merkmalsgliederung der angefochtenen Entscheidung, Kennzeichnung der zusätzlichen Merkmale M11 bis M13 durch die Kammer eingefügt):
M1 Kraftfahrzeugschiebedachsystem-Rollo (10), M2 das aus einem flexiblen Material besteht M3 und zwei Führungselemente (18) aufweist, M4 die sich entlang den Längsrändern des Rollos (10) erstrecken M5 und dafür vorgesehen sind, in eine Führung (14) für den entsprechenden Längsrand einzugreifen, M6 dadurch gekennzeichnet, dass das Führungselement (18) ein flacher Streifen aus Federstahl ist, M7 der an dem entsprechenden Längsrand befestigt ist, so dass er zusammen mit dem Rollo (10) aufgewickelt werden kann, M8 dass das Führungselement (18) im Ausgangszustand eine erste Querschnittsform aufweist, die zur Aufnahme des Führungselementes (18) in der Führung (14) dient, M9 und es in eine zweite Querschnittsform gebracht werden kann, die es ermöglicht, das Rollo (10) platzsparend aufzuwickeln, M10 und dass das Führungselement (18), wenn es die erste Querschnittsform hat, im Schnitt betrachtet gekrümmt verläuft, M11 wobei das Rollo (10), in Längsrichtung betrachtet, nur auf der außenliegenden Seite (20) des Führungselementes (18) befestigt ist, M12 wobei das Rollo (10) auf der vom Krümmungsmittelpunkt abgewandten Seite des Führungselementes (18) befestigt ist und M13 wobei das Rollo (10) mit dem Führungselement (18) nur auf der äußeren Hälfte des Führungselements (18) mit diesem verbunden ist.| V. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin I kann wie folgt zusammengefasst werden: Die Änderung von "Fahrzeug" auf "Kraftfahrzeug", also eines durch einen Antriebsmotor angetriebenen Fahrzeugs, stelle eine unzulässige Erweiterung dar, da der Begriff des Kraftfahrzeugs in den ursprünglichen Unterlagen an keiner Stelle offenbart sei. Ob das Fahrzeugdach nach Figur 1 zu einem Fahrzeug mit oder ohne Antrieb (insbesondere einem Wohnwagen) gehöre, sei weder der Figur 1 noch der Beschreibung zu entnehmen. Auch der Begriff des Fahrzeuginsassen führe hier nicht weiter, denn auch in einem Wohnwagen oder einer Kutsche würden Fahrzeuginsassen transportiert. Durch die Änderung erhalte der Fachmann somit die neue technische Information, dass das Fahrzeug mit einem Antrieb versehen sein müsse, was nicht unmittelbar und eindeutig offenbart sei.Auch die Änderung des Gegenstands von einem Rollo für ein Schiebedachsystem auf ein Kraftfahrzeugschiebedachsystem-Rollo sei eine unzulässige Erweiterung, zumindest in der Auslegung dieses Merkmals gemäß der angefochtenen Entscheidung (siehe dort Punkt 13.2).Die Einspruchsabteilung sah technische Unterschiede zwischen einem Kraftfahrzeugschiebedachsystem-Rollo und einem Rollo für ein Kraftfahrzeugschiebedachsystem, wobei ersteres über seine Eignung für ein Kraftfahrzeugschiebedachsystem hinaus auch als solches offenbart sei. Diese technischen Unterschiede seien in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen an keiner Stelle offenbart. Es sei ausschließlich die Eignung des Rollos für ein Schiebedachsystem eines Fahrzeugs ursprünglich offenbart, jedoch kein funktionales oder konstruktives Zusammenspiel zwischen dem Rollo und dem Schiebedachsystem.Auch gegenüber Anspruch 2 des Hilfsantrags werde ein Einwand unter Artikel 123 (2) EPÜ geltend gemacht. Anspruch 2 entspreche dem ursprünglich eingereichten Anspruch 5, der allerdings nur auf den ursprünglich eingereichten Anspruch 1 rückbezogen war. Im jetzigen Anspruch 1 werde nun zusätzlich die Befestigung des Rollos auf dem Führungselement spezifiziert. Änderungen seien auf die formalen Erfordernisse des EPÜ zu prüfen. D2 zeige nicht lediglich ein "Fliegengitter", sondern ganz allgemein "improvements in blinds, screeens, partitions ..." (Spalte 1, Zeilen 4 und 5) oder ein "screen assembly" (Anspruch 1). Das Streitpatent enthalte keine Aussagen über Vibrationsfestigkeit, Geräuscharmut, Betriebstemperaturen oder eine geringe Bauhöhe. Die technische Gestaltung des Rollos gemäß der D2 sei vollständig identisch zu der des Rollos des Streitpatents. Hinsichtlich der Betriebstemperatur sei ein Rollo eines Gebäudes den gleichen Witterungs- und Sonneneinflüssen unterworfen wie das Rollo für ein Fahrzeugdach. Bei richtiger Auslegung des Merkmals M1 im Sinne eines "Rollos geeignet für..." sei auch dieses Merkmal durch D2 vorweggenommen. In technischer Hinsicht sei nicht erkennbar, warum das Rollo gemäß der D2 nicht unterhalb der Dachöffnung eines Schiebedachsystems eines Fahrzeug montiert werden könne. Es sei kein Ausnahmetatbestand zu erkennen, der gegen die Eignung im Sinne von Anspruch 1 spreche. D13 offenbare kein Fliegengitter und schränke an keiner Stelle auf ein Gebäudefenster ein. Vielmehr betreffe die in D13 beschriebene Erfindung ein Mittel, das in allgemeiner Form anwendbar sei für "window screens" und für den Einsatz bei einer Dachöffnung eines Fahrzeugschiebedachsystems geeignet sei, so dass bei richtiger Auslegung Merkmal M1 aus D13 vorbekannt sei. Im Übrigen sei das Rollo gemäß D13 in technischer Hinsicht identisch zum Gegenstand des Streitpatents und leicht auf eine Dachöffnung eines Schiebedachsystems eines Fahrzeugs übertragbar. Merkmal M6 sei zwar nicht wortwörtlich in D13 erwähnt, aber der Fachmann lese das Merkmal des Federstahls bei der Offenbarung des dünnen, streifenförmigen und elastisch nachgiebigen Materials in der D13 mit. Der Hilfsantrag kombiniere die Merkmale der erteilten Ansprüche 2 bis 4. Die entsprechend zusätzlichen Merkmale seien durch D13 nahegelegt, denn in den Figuren 3 und 4 sei die Befestigung des Rollos an einer außenliegenden Seite des Führungselements auf der vom Krümmungsmittelpunkt abgewandten Seite und im Bereich der äußeren Hälfte des Führungselements offenbart.Diese zusätzlichen Merkmale seien auch durch die D2 nahegelegt (siehe Spalte 3, Zeilen 1 bis 10; Spalte 4, Zeilen 31 bis 33; auch Figuren 1, 3A-3C, 4, 6A-6D). Danach sei das Rollomaterial an gegenüberliegenden Längsrändern der Stützbänder 25, 26 befestigt, wie mit Anspruch 1 des Hilfsantrags gefordert. VI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin II lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die ursprünglich eingereichten Unterlagen enthielten nicht den Begriff "Kraftfahrzeug", sondern benutzten lediglich den Begriff "Fahrzeug", so dass auch ein Rollo eines motorfreien Wohnwagens (also nicht eines Kraftfahrzeugs) angesprochen sein könne. Auch Figur 1 zeige nicht mit absoluter Sicherheit ein Auto, selbst wenn dies wahrscheinlicher wäre. Die Beschränkung auf ein Kraftfahrzeugschiebedachsystem-Rollo genüge also nicht Artikel 123 (2) EPÜ. Auch sei nicht ursprünglich offenbart, dass das beanspruchte Rollo Teil eines Schiebedachsystems sei. Gemäß Beschreibung könne das Rollo zwar in Verbindung mit einem Schiebedachsystem eingesetzt werden. Es sei aber nicht erkennbar, dass das Rollo Bestandteil einer Einheit sei, die auch ein Dachöffnungssystem umfasse, so dass die Umformulierung in "Schiebedachsystem-Rollo" unzulässig sei. Der Zusatz "Kraftfahrzeugschiebedachsystem" des generischen Begriffs des Anspruchs 1 sei lediglich eine Zweckangabe, welche die Eignung des beanspruchten Rollos indiziere und bei Prüfung der Patentfähigkeit außer Acht zu lassen sei, sofern sich aus ihr für den Fachmann keine weiteren zwingenden gegenständlichen Merkmale ergäben. Anforderungen hinsichtlich Vibrationsfähigkeit, Geräuscharmut, Betriebstemperatur und Bauhöhe seien - ohne Angabe weiterer technischer Merkmale - allein durch diese Zweckangabe nicht erfüllt. Auch in der Beschreibung des Streitpatents seien keine Anforderungen an ein Rollo für ein Kraftfahrzeugschiebedachsystem angegeben. Im Übrigen definiere Anspruch 1 nur das Rollo bzw. die Rollobahn, die exakt der in D2 beschriebenen Rollobahn entspreche, ohne Elemente wie Führungsschienen und Bestandteile eines Schiebedachsystems zu umfassen. Wie von der Einspruchsabteilung zugestanden, sei ein Rollo mit den Merkmalen M2 bis M10 aus D2 bekannt. Auch die Zweckangabe gemäß Merkmal M1 sei wie bereits ausgeführt durch D2 vorweggenommen. D2 beschreibe nicht nur ein Fliegengitter-Rollo, sondern auch ein Sichtschutzrollo zur Beschattung von Fenstern und Türen. Aufgrund konstruktiver Übereinstimmung des Rollos aus D2 mit dem beanspruchten Rollo sei es auch zum Einsatz bei Kraftfahrzeugschiebedachsystemen geeignet. Es sei nicht ersichtlich, warum die in D2 beschriebene Rollobahn die Anforderungen bei einem Kraftfahrzeug nicht erfülle, da auch bei Rollos im Gebäudebereich hohe Anforderungen an Vibrationsfestigkeit, Geräuscharmut, Einsatztemperatur und den erforderlichen Bauraum gestellt würden (siehe z. B. US 5.131,450). Diese Eignung ergebe sich auch daraus, dass Rolloanordnungen für Kraftfahrzeuge nicht nur in der IPC-Klasse B60J, sondern auch in der das Bauwesen betreffenden Klasse E06B klassifiziert seien. Die Abmessungen von Gebäudefenstern seien entsprechend denen eines Rollos für ein Schiebedachsystem, und D2 zeige in Figur 7 auch einen kleinen Wickelkörper. Vibrationsanforderungen seien nur in Verbindung mit geeigneten Führungsschienen zu erfüllen, die nicht beansprucht seien. Eine Erfindung sei nur dann neu (siehe G 2/88 und G 6/88), wenn sie sich in mindestens einem wesentlichen technischen Merkmal vom Stand der Technik unterscheide (auch T 15/91). D2 eigne sich auch als Ausgangspunkt für das Rollo nach Anspruch 1, da dem Fachmann für Fahrzeugrollos geläufig sei, im Gebäudebereich eingesetzte Rollotechniken auf Kraftfahrzeuge zu übertragen, zumal das aus D2 bekannte Rollo keinen begrenzten Anwendungsbereich habe. Es sei nicht beschränkt auf die Nutzung als Fliegengitter eines Gebäudes, und so würde der Fachmann bei der Suche nach geeigneten Rollos auch den Einsatz bei einem Kraftfahrzeug in Erwägung ziehen (siehe z. B. D10), insbesondere auch bei Schiebedachsystemen. Das Kraftfahrzeugschiebedachsystem-Rollo des Anspruchs 1 des Hilfsantrags (der mit den im US-Verfahren erteilten Ansprüchen korrespondiere) sei nicht neu gegenüber der Offenbarung von D2. Figur 4 zeige, dass die Rollobahn über den Scheitelpunkt des Führungsbandes gezogen und an dem Führungsband befestigt sei, und zwar an der außenliegenden Seite bzw. auf der vom Krümmungsmittelpunkt abgewandten Seite bzw. auf der äußeren Hälfte. Entsprechendes gelte für Figur 9. VII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin kann wie folgt zusammengefasst werden: Die Zusammenschau aller Umstände zeige, dass der Begriff "Fahrzeuginsasse" (für jeden Fachmann unmittelbar mit einem Auto verknüpft) in Verbindung mit dem in Figur 1 des Streitpatents gezeigten Dach samt Frontscheibe einen Fachmann unmittelbar und eindeutig erkennen lasse, dass es sich um ein Auto bzw. um ein Kraftfahrzeug handele. Zudem sei die Patentinhaberin jedem Fachmann als Hersteller von Schiebedächern für Autos (nicht für Wohnwägen oder Kutschen) bekannt.Mit der Änderung von "Rollo für ein Schiebedachsystem" auf "Kraftfahrzeugschiebedachsystem-Rollo" erhalte der Fachmann keine neue technische Information, die in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen nicht offenbart gewesen sei. Anspruch 1 sage mit keinem Wort, dass das Rollo Bestandteil einer Einheit sei, die u. a. auch ein Dachöffnungssystem umfasse.Der erstmals in der mündlichen Verhandlung erhobene Einwand der unzulässigen Erweiterung des Anspruchs 2 des bereits mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrags sei verspätet und nicht zuzulassen. D2 zeige ein Fliegengitter für Gebäude und damit ein Rollo, aber kein Kraftfahrzeugschiebedachsystem-Rollo, das gewisse Anforderungen zu erfüllen habe (z. B. Vibrationen, Trägheitskräfte bzw. Kräfte in Fahrzeug- Längsrichtung, Anordnung), die bei einem Fliegengitter für Gebäude keine Rolle spielten. Beispielsweise mache der in D2 gezeigte große Wickelkörper Probleme bei einem Kraftfahrzeug, d. h. es gebe auch konstruktiv Unterschiede. Auch gebe es im Kraftfahrzeugbereich andere Qualitätsanforderungen. Somit sei das in D2 gezeigte Fliegengitter nicht geeignet, in einem Kraftfahrzeugschiebedach eingesetzt zu werden. Eine Erfindung liege auch darin, einen Gegenstand modifiziert in anderer Weise zu verwenden; dies führe zumindest zu einem neuen Gegenstand.Der Fachmann würde D2 nicht als nächstliegenden Stand der Technik wählen, aber auch ausgehend von D2 gelange er nicht in naheliegender Weise zum beanspruchten Kraftfahrzeugschiebedachsystem-Rollo. D13 offenbare kein Kraftfahrzeug, sondern dieselbe Art von Fliegengitter wie aus D2 bekannt. Auch Merkmal M6 sei nicht gezeigt. Der Fachmann verstehe unter dem Begriff "Tapes" keinen Federstahlstreifen, zumal in D13 auch Drahtklammern zum Verbinden des Rollos mit den "Tapes" verwendet würden.Da das Beschwerdeverfahren der Überprüfung der Entscheidung der Einspruchsabteilung diene, seien neue Angriffe (z. B. zur erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D13) nicht zulässig. Anspruch 1 des Hilfsantrags (Merkmale der erteilten Ansprüche 1 bis 4) führe detailliert auf, in welcher Weise das Rollo mit den Führungselementen verbunden sei, was im Stand der Technik nicht gezeigt sei. Figur 4 in D2 zeige eine Verbindung lediglich im Scheitelpunkt und damit etwas anderes als die beanspruchte Art der Verbindung von Führungselement und Rollo, die aufgrund des gekrümmten Querschnitts des Führungselements und der sich daraus ergebenden Umschlingungsreibung eine deutlich höhere Festigkeit aufweise. Auch in Figur 9 sei nicht zu erkennen, dass das Rollo mit dem Führungselement nur auf dessen äußerer Hälfte verbunden sei. In Figur 1 und Figur 3A sei das Fliegengitter über die gesamte Breite des Bandes an diesem befestigt, in Figur 3C klar erkennbar über mehr als die Hälfte der Breite des Bandes. In den Figuren 6A bis 6D sei nicht ersichtlich, wo das Fliegengitter mit dem Band verbunden sei. Dokument D2 werde im Übrigen als fernliegender Stand der Technik angesehen, den der Fachmann der Kraftfahrzeugtechnik nicht in Betracht ziehen würde.In D13 sei das Rollo irgendwo im Bereich der äußeren Hälfte des Führungselementes mittels einer schmalen Naht verbunden, aber nicht auf der äußeren Hälfte.D15 zeige bezüglich der Verbindung zwischen Rollo und Versteifungselement nur, dass Rollobänder mit der Rollobahn verklebt oder vernäht seien. Eine Verbindung nur auf der äußeren Hälfte des Versteifungselements mache keinen Sinn, da die Versteifungselemente aus D15 mittig auf der Stoffbahn aufgebracht seien. Dies sei auch nicht vorgetragen worden. |
1. Behauptete unzulässige Erweiterung
1.1 Der vorliegende Anspruch 1 beruht auf einer Kombination der erteilten Ansprüche 1 bis 4 und erfüllt die Erfordernisse der Artikel 100 c) und 123 (2) EPÜ.
1.2 Ein Einwand der Beschwerdeführerinnen I und II richtet sich gegen Merkmal M1, das gegenüber der ursprünglichen Anmeldung von "Rollo für ein Schiebedachsystem" auf "Kraftfahrzeugschiebedachsystem-Rollo" geändert wurde.
1.2.1 Die Kammer kann nicht erkennen, dass die Änderung des wörtlich in der ursprünglichen Anmeldung offenbarten Begriffs "Fahrzeug" auf "Kraftfahrzeug" eine unzulässige Erweiterung darstellt. Zwar findet sich keine wörtliche Offenbarung von "Kraftfahrzeug" in der ursprünglichen Beschreibung oder den Ansprüchen. Bei Prüfung der Zulässigkeit von Änderungen ist jedoch der gesamte Offenbarungsgehalt der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht heranzuziehen. Nach gefestigter Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist dabei entscheidend, was der Fachmann der ursprünglich eingereichten Anmeldung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig entnehmen würde ("Goldstandard"). Es ist dabei insbesondere zu prüfen, ob der Fachmann durch die Änderung neue technische Informationen enthält. Die Kammer stimmt mit der Beschwerdegegnerin darin überein, dass der Fachmann aus Figur 1 und der zugehörigen Beschreibung (z. B. Seite 4, zweiter Absatz der ursprünglichen Anmeldung; Absatz [0010] der A-Schrift) unmittelbar und eindeutig ein Auto bzw. Kraftfahrzeug entnehmen würde. Figur 1 mag zwar eine schematische Zeichnung sein, die die Kontur eines Autos nur sehr grob wiedergibt. Darin ist aber für den Fachmann klar eine Frontscheibe sowie ein Schiebedach gezeigt, welches wie bei Kraftfahrzeugen üblich im Bereich der Vordersitze positioniert ist. Die Beschreibung liefert dazu noch den Hinweis, dass ein Fahrzeuginsasse am vorderen Rand des Rollos an einem Spriegel angreifen kann, um das Rollo zu verschieben. Diese Gesamtoffenbarung liefert dem unvoreingenommenen Fachmann unmittelbar und eindeutig die Lehre, dass es sich um das Rollo eines Autos bzw. Kraftfahrzeugs handelt.
Die Beschwerdeführerinnen argumentieren, dass Figur 1 auch in Verbindung mit dem Begriff "Fahrzeuginsasse" nicht eindeutig ein Kraftfahrzeug, also ein durch einen Antriebsmotor angetriebenes Fahrzeug zu entnehmen sei. Mit einer Restwahrscheinlichkeit könne es sich auch um einen Wohnwagen oder sogar eine Kutsche handeln, die ebenfalls Fahrzeuginsassen transportierten. Dass der Fachmann bei dem in Figur 1 gezeigten Fahrzeug eine Kutsche erkennen würde, ist nach Auffassung der Kammer auszuschließen. Selbst wenn bei Betrachten der Figur 1 nicht eindeutig zwischen einem Wohnwagen und einem Kraftfahrzeug zu unterscheiden wäre, was gegen die zweifelsfreie Offenbarung eines Kraftfahrzeug in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen spräche, verlangt Anspruch 1 kein Kraftfahrzeug als gegenständliches Merkmal. Wie im Folgenden in Bezug auf Merkmal M1 noch ausgeführt, verlangt Anspruch 1 lediglich die Eignung des Rollos für das Schiebedach eines Kraftfahrzeugs. Da die Kammer keine Unterschiede in den Anforderungen oder Betriebsbedingungen in Bezug auf Kraftfahrzeuge und Wohnwägen erkennen kann, die gegen die Eignung eines Wohnwagen-Rollos für ein Kraftfahrzeug sprechen würden, kann die Kammer - selbst wenn sie der Argumentation der Beschwerdeführerinnen folgt - nicht erkennen, dass die Änderung eine neue technische Information für den Fachmann bereithalten würde. Betriebstemperaturen, Vibrationen sowie Abbrems-/Beschleunigungsvorgänge während der Fahrt und der eingeschränkte Bauraum sind in beiden Fällen vergleichbar. Diesbezüglich wurden auch keine Unterschiede von den Parteien vorgetragen, da ihre Argumente im Verfahren nur darauf abzielten, Unterschiede in der Eignung eines im Gebäude eingesetzten Rollos zu einem Fahrzeug-Rollo aufzuzeigen respektive zu entkräften.
1.2.2 Die Änderung des Gegenstandes von dem ursprünglich offenbarten "Rollo für ein Schiebedachsystem" (siehe Anspruch 1 wie eingereicht) auf ein "Kraftfahrzeugschiebedachsystem-Rollo" führt nach Auffassung der Kammer nicht zu einer unzulässigen Erweiterung. Ein "Kraftfahrzeugschiebedachsystem-Rollo" ist sprachlich nur eine verkürzte Zusammenfassung bzw. synonym zu der etwas länglicheren Formulierung "Rollo für ein Schiebedachsystem für ein Kraftfahrzeug" und drückt damit lediglich die Eignung des Rollos für den genannten Verwendungszweck aus. Die Verwendung für ein Schiebedachsystem ist bereits im ursprünglich eingereichten Anspruch 1 offenbart, die Verwendung in einem Fahrzeug ist z. B. in Figur 1 gezeigt, in der laut zugehöriger Beschreibung ein Fahrzeugdach zu sehen ist. Zu der Änderung von "Fahrzeug" auf "Kraftfahrzeug" wurde bereits im vorstehenden Absatz Stellung genommen.
1.3 Ein weiterer Einwand der unzulässigen Erweiterung gegenüber Anspruch 2 des vorliegenden Antrags, also dem mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag der Patentinhaberin, wurde von der Beschwerdeführerin I erstmalig in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhoben. Anspruch 1 umfasst die Merkmale der erteilten Ansprüche 1 bis 4, während Anspruch 2 dem erteilten bzw. auch dem ursprünglich eingereichten Anspruch 5 entspricht. Der Einwand der Beschwerdeführerin I ist damit ein Einwand unter Artikel 100 c) EPÜ gegenüber dem erteilten Patent, der vorher schriftsätzlich im Beschwerdeverfahren nicht vorgetragen und auch in der angefochtenen Entscheidung nicht behandelt wurde.
Die Kammer wäre also in der mündlichen Verhandlung damit konfrontiert, Änderungen im erteilten Patent gegenüber der ursprünglich eingereichten Anmeldung zu prüfen, die im Einspruchs-Beschwerdeverfahren bisher nicht in Frage gestellt wurden. Da die erteilten Ansprüche zudem keine reine Kombination der Ansprüche wie ursprünglich eingereicht darstellen (siehe insbesondere erteilter Anspruch 4 bzw. Merkmal M13), hätte die Beurteilung der Zulässigkeit der Änderungen auf Grundlage der gesamten Offenbarung der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht erfolgen müssen, d. h. unter Berücksichtigung der Beschreibung und der Zeichnungen. Dies mag die Frage aufwerfen, welche Merkmale aus den Zeichnungen oder isoliert aus der Beschreibung entnommen werden können.
Unter Berücksichtigung des Verfahrensstandes und der gebotenen Verfahrensökonomie, aber auch der Fairness gegenüber der Beschwerdegegnerin bzw. Patentinhaberin, hat die Kammer in Ausübung des ihr gemäß Artikel 13(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK, ABl. EPA 2007, 536) eingeräumten Ermessens dieses neue Vorbringen der Beschwerdeführerin I nicht in das Verfahren zugelassen.
Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin I ist die Kammer nicht verpflichtet, die geänderte Fassung des Patents auf alle formellen Erfordernisse des EPÜ zu prüfen. Wie in den Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 9/91 (siehe dort Punkt 19) und auch später in G 3/14 (siehe dort Punkt 80 für den Fall der Kombination von erteilten Ansprüchen) deutlich gemacht, stellt die reine Kombination von erteilten Ansprüchen keine Änderung gegenüber dem erteilten Patent dar, die auf alle Erfordernisse des EPÜ zu prüfen wäre. Gemäß gefestigter Rechtsprechung ist das Einspruchsverfahren nicht als Fortsetzung des Prüfungsverfahrens zu sehen.
2. Neuheit, erfinderische Tätigkeit
2.1 Der Gegenstand von Anspruch 1 des vorliegenden einzigen Antrags ist neu und beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 54 (1) und 56 EPÜ).
2.2 Die Kammer stimmt den Beschwerdeführerinnen insoweit zu, dass mit Anspruch 1 nur das Rollo bzw. die aus einem flexiblen Material bestehende Rollobahn (Merkmal M2) mit zwei an den Längsrändern des Rollos befestigten Führungselementen aus flachen Federstahlstreifen beansprucht wird (Merkmale M3, M4, M6, M7), wobei die Führungselemente zwei Querschnittsformen einerseits zur Aufnahme in einer Führung und andererseits zum platzsparenden Aufwickeln aufweisen (Merkmale M8 bis M10). Merkmal M5 erwähnt eine Führung, wobei gemäß diesem Merkmal die Führungselemente dafür vorgesehen sind, in diese Führung für den entsprechenden Längsrand einzugreifen. Damit ist diese nicht näher definierte Führung nicht Bestandteil des beanspruchten Rollos, sondern definiert nur den Zweck der Führungselemente. Wie in der angefochtenen Entscheidung festgestellt, ist ein Rollo mit den Merkmalen M2 bis M10 aus D2 bekannt, was nicht bestritten wurde.
Allerdings konnte die von den Beschwerdeführerinnen vorgetragene Argumentation zur Offenbarung des Merkmals M1 in Dokument D2 die Kammer nicht überzeugen. Zwar wird mit Merkmal M1 nur der Verwendungszweck des beanspruchten Rollos spezifiziert. Diese Zweckangabe kann jedoch nicht einfach außer Acht gelassen werden, da damit gewisse physische Einschränkungen einhergehen können, die bei der Neuheitsprüfung zu berücksichtigen sind. Ein aus dem Stand der Technik bekanntes Rollo ist nur dann neuheitsschädlich, wenn es auch diese impliziten physischen Merkmale aufweist und daher vernünftigerweise für den angegebenen Zweck verwendet werden kann (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 8. Auflage 2016, I.C.8.1.5). Die Lehre von D2 mag zwar nicht ausschließlich auf ein Fliegengitter eingeschränkt zu sein, sondern auch die Verwendung eines Rollos zum Sichtschutz in Gebäuden anzusprechen. Die Verwendung in Kraftfahrzeugen setzt nach Auffassung der Kammer im Vergleich zu Gebäuden aber erhöhte Anforderungen an Material und Funktion des Rollos voraus, da im Fahrzeuginnenraum deutlich höhere Einsatztemperaturen als in Gebäuden verlangt werden (die die Auswahl der zu verwendeten Materialien eingrenzt) und zudem hinsichtlich der Funktion zusätzliche Belastungen berücksichtigt werden müssen (z. B. infolge der Tragheitskräfte beim Bremsen, die beim Design der Führungselemente zu berücksichtigen ist). Es ist nicht davon auszugehen, dass das in D2 gezeigte Gebäude-Rollo ohne jedwede physische Beschränkung vernünftigerweise im Kraftfahrzeug bei einem Schiebedach eingesetzt werden kann. Auch wenn Anspruch 1 nur auf das Rollo bzw. die Rollobahn an sich gerichtet ist und keine Teile des Schiebedachs oder des Kraftfahrzeugs umfasst, ist also nach Auffassung der Kammer die mit Merkmal M1 geforderte Eignung für ein Kraftfahrzeug bei dem aus D2 bekannten Gebäude-Rollo nicht implizit gegeben. Aus der gleichzeitigen Klassifizierung von Rollos sowohl in IPC-Klassen der Fahrzeugtechnik als auch der Gebäudetechnik kann nicht gefolgert werden, dass Rollos jederzeit in beiden Bereichen einsetzbar und damit übertragbar sind, sondern dies ist abhängig vom beanspruchten Gegenstand im Einzelfall gesondert zu prüfen.
Anders als in der von der Beschwerdeführerin II zitierten T 15/91 war die Kammer vorliegend nicht davon überzeugt, dass eine Änderung in der technischen Realisierung der bekannten Vorrichtung gegenüber der bekannten Verwendung dieser Vorrichtung auszuschließen ist. Die von der Großen Beschwerdekammer in G 2/88 und G 6/88 aufgestellten Kriterien sind nur auf Ansprüche anwendbar, die auf die Verwendung eines Stoffes zur Erzielung einer "Wirkung" gerichtet sind (nach G 2/88 zu unterscheiden von Ansprüchen, die die Verwendung eines Gegenstands zur Herstellung eines "Erzeugnisses" definieren) und damit vorliegend nicht anwendbar.
2.3 In Dokument D13 ist zudem kein Führungselement aus Federstahl (Merkmal M6) explizit gezeigt. Abgesehen davon gelten die vorstehenden Überlegungen hinsichtlich der Offenbarung von Merkmal M1 für D13 in gleicher Weise, da der D13 kein Hinweis auf die Eignung des gezeigten Rollos für ein Kraftfahrzeug zu entnehmen ist. Die Befestigung des in D13 gezeigten Führungselements in Form von "Tapes" mittels beabstandeter Drahtklammern an der Rollobahn spricht sogar gegen die Verwendung bei einem Schiebedach eines Kraftfahrzeugs, da im Fahrbetrieb bei geöffnetem Fahrzeugdach ein Flattern der Rollobahn im Fahrtwind nicht auszuschließen ist.
2.4 Die Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 folgt zudem aus den Merkmalen M11 bis M13, die weder in D2 noch in D13 gezeigt sind. Die diesbezüglich von den Beschwerdeführerinnen angeführten Fundstellen in Dokument D2 oder D13 zeigen keine Befestigung nur der außenliegenden, vom Krümmungsmittelpunkt abgewandten Seite des Führungselements und keine Verbindung nur auf der äußeren Hälfte des Führungselements.
Den Figuren in D2 sind die Merkmale M11 bis M13 nicht zu entnehmen, da dort das Fliegengitter entweder über die gesamte Breite der als Versteifungselemente bezeichneten Führungselemente (Figuren 1 und 3A) an diesem befestigt ist oder aber lediglich im Bereich ihrer Scheitelpunkte (Figur 4). Eine Befestigung über deutlich mehr als die Hälfte der Breite ist in Figur 3C angedeutet, allerdings (siehe Spalte 5, Zeilen 6 bis 10) für eine Ausführungsform mit flachem Versteifungselement, also ohne Krümmungsmittelpunkt. Den übrigen genannten Figuren (Figuren 6A bis 6D sowie Figur 9) sind keine Details hinsichtlich der Befestigung der Versteifungselemente zu entnehmen.
Aus Dokument D13 ist lediglich bekannt, das Rollo mittels einer schmalen Naht irgendwo im Bereich der äußeren Hälfte des Führungselements mit diesem zu verbinden, und zwar mittels einzelner Heftklammern, nicht jedoch auf der äußeren Hälfte eines Führungselements.
2.5 Strittig war, ob D2 oder D13 als erfolgversprechender Startpunkt zur Diskussion der erfinderischen Tätigkeit dienen und in naheliegender Weise zum Gegenstand des Anspruchs 1 führen kann. Aber selbst wenn man von D2 oder D13 als nächstliegendem Stand der Technik ausgeht, kann die Kammer nicht erkennen, dass der Fachmann in naheliegender Weise zu der Merkmalskombination M11 bis M13 gelangen würde, wie von den Beschwerdeführerinnen behauptet. Wie bereits vorstehend ausgeführt, bietet dazu weder D2 noch D13 eine entsprechende Lehre.
Wie zudem von der Beschwerdegegnerin festgestellt, zeigt auch D15 keine Verbindung zwischen Rollo und Versteifungselemente nur auf der äußeren Hälfte des Versteifungselement. Weitere Argumentationslinien haben die Beschwerdeführerinnen gegen Anspruch 1 des vorliegenden einzigen Antrags nicht vorgetragen.
Damit würde der Fachmann in dem genannten Stand der Technik keinen Hinweis finden, der in naheliegender Weise zum Gegenstand von Anspruch 1 führen könnte.
3. Im Verfahren vor der Beschwerdekammer rügte die Beschwerdegegnerin verspätete, weil erstmalig mit der Beschwerdebegründung vorgebrachten Angriffslinien (beispielsweise mangelnde erfinderische Tätigkeit ausgehend von D13). Nachdem diese neuen Angriffe gegen den vorliegenden einzigen Antrag entweder nicht zum Erfolg führten oder nicht mehr geltend gemacht wurden, kann die Frage der Zulassung dieser Angriffslinien dahingestellt bleiben.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in der folgenden geänderten Fassung aufrechtzuerhalten:
- Ansprüche 1 bis 4 des Hilfsantrags eingereicht mit Schreiben vom 29. März 2016;
- Beschreibung: Spalten 1 und 2 wie in der mündlichen Verhandlung eingereicht; Spalten 3 und 4 der Patentschrift;
- Zeichnungen 1 bis 5 der Patentschrift.