T 0023/17 30-01-2020
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POLYMERPULVER AUF DER BASIS VON POLYAMIDEN, VERWENDUNG IN EINEM FORMGEBENDEN VERFAHREN UND FORMKÖRPER, HERGESTELLT AUS DIESEM POLYMERPULVER
Verspätetes Vorbringen - Beweismittel zugelassen (ja)
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Erfinderische Tätigkeit - alle Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechende betrifft die am 24. Oktober 2016 zur Post gegebene Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung bezüglich der Aufrechterhaltung des Europäischen Patents Nr 2 556 115 auf Grundlage des ersten Hilfsantrags, eingereicht mit Schreiben vom 19. August 2016.
II. Anspruch 1 des erteilten Patents hatte folgenden Wortlaut:
"Polymerpulver zur Verwendung in einem schichtweise arbeitenden Verfahren, bei dem selektiv Bereiche der jeweiligen Pulverschicht durch den Eintrag elektromagnetischer Energie aufgeschmolzen werden,
enthaltend:
zumindest ein Polyamid des AB-Typs, hergestellt durch Polymerisation von Lactamen mit 10 - 12 Kohlenstoffatomen in der Monomereineit (sic) oder durch Polykondensation der entsprechenden omega-Aminocarbonsäuren mit 10 - 12 Kohlenstoffatomen in der Monomereinheit und
zumindest ein Polyamid des AABB-Typs, hergestellt durch Polykondensation von Diaminen und Dicarbonsäuren mit jeweils 10-14 Kohlenstoffatomen in den Monomereinheiten, wobei das Polyamid des AB-Typs bis zu 20 mol-% der AABB-Comonomereinheiten und das Polyamid des AABB-Typs bis zu 20 Mol% der AB-Monomereinheiten enthalten kann."
Ansprüche 2-8 waren auf bevorzugte Ausführungsformen des Polymerpulvers gerichtet. Ansprüche 9-11 waren auf Verfahren zur Herstellung des Pulvers gerichtet. Ansprüche 12 und 13 waren auf Verfahren zur Herstellung von Formkörpern gerichtet und Ansprüche 14 und 15 auf Formkörper erhalten aus dem Polymerpulver gemäß Ansprüche 1-8 durch ein direktes fortbildendes Verfahren.
III. Es wurde ein Einspruch unter Geltendmachen der Gründe gemäß Artikel 100(a) EPÜ in Verbindung mit den Artikeln 54 und 56 EPÜ eingereicht.
Der Einspruch wurde unter Anderen auf folgende Dokumente gestützt:
eingereicht mit der Einspruchsschrift:
D1: WO-A-2008/057844
D4: US-A-2008/0116616
D5: US-A-4 661 585
D6: US-A-5 070 156
D7: US-A-5 032 633
zitiert von der Einsprechenden mit Schreiben vom 19. August 2016:
D8: US-A-2009/236775.
IV. Gemäß der Entscheidung ist das Dokument D8 ins Verfahren zugelassen worden.
Anspruch 14 des Patents in der erteilten Fassung sei nicht neu gegenüber der Offenbarung von D7.
Der erste Hilfsantrag unterscheide sich vom Hauptantrag dadurch, dass die Merkmale des Anspruchs 15 in Anspruch 14 aufgenommen wurden. Weitere Einzelheiten dieser Änderungen sind für die vorliegende Entscheidung nicht von Bedeutung.
Der erste Hilfsantrag sei neu, weil keines der zitierten Dokumente, unter anderem D4, eine Mischung von Polymeren wie anspruchsgemäß definiert offenbare. Ferner begründe das im Hinblick auf Anspruch 14 aus dem erteilten Anspruch 15 aufgenommene Merkmal die Neuheit.
Als nächstliegender Stand der Technik könne entweder D4 oder D8 angesehen werden.
Ausgehend von D4 als nächstliegendem Stand der Technik unterscheide sich der Patentgegenstand dadurch, dass es sich bei den Pulvern um Polymermischungen anstelle von Copolymeren aus den entsprechenden Einheiten handele. Auch wenn das Patent keinen direkten Vergleich mit der Lehre von D4 enthalte, gehe aus den Beispielen 22-25 und 35 des Patents glaubhaft hervor, dass das unterscheidende Merkmal zu verbesserten Eigenschaften der hergestellten Formkörpern führe, sodass die zu lösende Aufgabe als die Bereitstellung von verbesserten Polymerpulvern anzusehen sei. Weder D4 noch D8 sei eine entsprechende Anregung oder Hinweis hierauf zu entnehmen.
Auch ausgehend von D8 als nächstliegendem Stand der Technik sei eine erfinderische Tätigkeit anzuerkennen.
V. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung ein.
VI. Mit der Erwiderung auf die Beschwerdeschrift reichte die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) drei Hilfsanträge ein.
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterschied sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags (Patent in der von der Einspruchsabteilung aufrecht erhaltenen Fassung) dadurch, dass folgendes Merkmal in Anspruch 1 aufgenommen wurde:
"wobei das Pulver durch gemeinsame Fällung des zumindest einem Polyamid des AB-Typs und des zumindest einem Polyamid des AABB-Typs erhalten wird".
Die Hilfsanträge 2 und 3 entsprachen dem Hauptantrag bzw. dem Hilfsantrag 1 mit dem Unterschied, dass der auf Formkörper gerichtete Anspruch gestrichen wurde.
Die Erwiderung enthielt zusätzlich neue experimentelle Daten.
VII. Im Laufe des Beschwerdeverfahrens reichte die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 8. Februar 2019 zwei weitere Dokumente ein:
D9: US-A-2008/0166496
D10: EP-A-1 413 595.
VIII. Die Kammer erließ eine Ladung zur mündlichen Verhandlung am 1. Juni 2019 und einen Bescheid.
IX. Die mündliche Verhandlung fand am 30. Januar 2020 statt.
X. Die Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Zulassung von D9 und D10
Die Dokumente seien in Hinblick auf das Vorbringen in der Beschwerdeerwiderung bezüglich der Beschaffenheit des Pulvers, einschließlich der Einreichung von neuen Daten und der Umformulierung der gelöste Aufgabe, zitiert worden. Insbesondere würden diese Dokumente belegen, dass die thermische Eigenschaften des Pulvers durch das Herstellungs- bzw. Behandlungsverfahren maßgeblich beeinflusst worden seien. Ferner würden diese Dokumente belegen, dass Cofällung als Verfahren zur Herstellung von Polyamidpulver für Lasersintern und die hiermit einhergehenden Vorteile bekannt seien.
Aus diesen Gründen seien D9 und D10 zuzulassen.
b) Hauptantrag - Neuheit
D4 offenbare Pulver aus AABB Polyamiden. Gemäß Absatz [0031] könnten andere "conventional" Polymere beigemischt werden. In der ganzen Beschreibung sei mehrmals auf "conventional" Polymere hingewiesen worden. Beispiele von "conventional" Polymeren seien der Tabelle und Absatz [0143] auf Seite 6 des Dokuments zu entnehmen. Hierunter seien auch AB Polyamide aufgelistet. Somit gingen aus D4 Mischungen von AABB und AB Polymeren hervor, mit dem Ergebnis, dass Anspruch 1 nicht neu sei.
c) Hauptantrag - Erfinderische Tätigkeit
Als nächstliegender Stand der Technik sei entweder D4 oder D8 anzusehen.
D4 befasse sich im Absatz [0012] mit den gleichen Eigenschaften wie im Absatz [0030] des Patents besprochen.
Ausgehend von D4 unterscheide sich der Gegenstand des Anspruchs 1 dadurch, dass zusätzlich zu dem AABB Polyamid auch ein AB Polyamid anwesend sei.
Die Beispiele des Patents seien nicht geeignet, einen technischen Effekt über den gesamten Umfang des Anspruchs 1 zu belegen. In den Beispielen sei ausschließlich mit Cofällung gearbeitet worden. Anspruch 1 würde jedoch keine entsprechende Einschränkung enthalten. Wie aus D9 und D10 hervorgehe, beeinflusse die Art der Behandlung und Herstellung des Pulvers maßgeblich dessen Eigenschaften.
Die Beispiele 22-25 und 35 des Patents bezüglich Verarbeitung des Pulvers zu Formkörpern mittels Lasersintern seien nicht geeignet, einen technischen Effekt zu belegen, da jeweils unterschiedliche Bedingungen verwendet worden seien. So sei in den Beispielen 22-25 (anspruchsgemäß) zwar immer mit der gleichen Laserleistung gearbeitet worden, jedoch seien verschiedene Kammertemperaturen verwendet worden. Beispiel 35, welches PA1013 verwende und somit als Vergleichsbeispiel gemäß D4 anzusehen sei, verwende noch eine andere Kammertemperatur und verwende ferner eine unterschiedliche Laserleistung als in den Beispielen 22-25. Entgegen der Aussage der Beschwerdegegnerin, enthalte das Patent keine Aussage, dass die Bedingungen jeweils an das zu verarbeitende Polymer anzupassen seien.
Somit könne aus diesen Daten kein technischer Effekt abgeleitet werden.
Das Problem sei somit als die Bereitstellung weiterer Massen für den Einsatz in Lasersintern zu formulieren.
D4 selbst würde vorschlagen, weitere "conventional" Polymere in die Massen zu kombinieren.
Dieser Schritt sei ferner herkömmlich wie aus D5, D7, D9 und D10 hervorgehe, wobei D7 lehre, dass Mischungen von Polyamiden zu Verbesserungen in der Schlagzähigkeit gegenüber einzelnen Polyamide führen würden.
Somit sei der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht erfinderisch.
d) Hilfsantrag 1 - Erfinderische Tätigkeit
Die Aufnahme der Cofällung als zwingendes Verfahrensmerkmal ("Product-by-Process") ändere nichts an der obigen Beurteilung. Es sei immer noch kein Effekt für die Merkmalskombination nachgewiesen worden. D4 verwende Cofällung sowohl in den erfindungsgemäßen als auch in den Vergleichsbeispielen. Es stünden zwei alternative Vorgehensweisen zur Verfügung: entweder die Polymere getrennt auszufällen und anschließend zu vermischen, oder die Polymere zu mischen und die erhaltene Mischung der Polymere auszufällen. D4 in Absatz [0031] verweise auf D5, welches in der Tabelle in Spalte 4 unterschiedliche Mischverfahren offenbare, unter Anderem Cofällung. Auch wenn dies explizit nicht bevorzugt werde, gehe aus D5 hervor, dass Cofällung immerhin eine bekannte Methode zur Herstellung von Polymermischungen sei.
e) Hilfsanträge 2 und 3 - Erfinderische Tätigkeit
Es gelte analog das für den Hauptantrag und Hilfsantrag 1 Gesagte.
XI. Die Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Zulassung von D9 und D10
Weder D9 noch D10 würden Mischungen von Polyamiden betreffen. D9 befasse sich mit Cofällung aber enthalte keine Vergleiche mit anderen Methoden der Pulverherstellung z.B. Vermahlen. Ferner befasse sich D10 mit Wasserdampfbehandlung von Polymeren, nicht Cofällung. D9 und D10 seien ferner nicht als Antwort auf die mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Daten zu sehen.
Aus diesen Gründen seien D9 und D10 nicht zuzulassen.
b) Hauptantrag - Neuheit
D4 offenbare keine Mischungen von Polyamiden. Die Aussage im Absatz [0031], dass weitere "conventional" Polymere beigemischt werden könnten, stelle keine Offenbarung von Mischungen gemäß Anspruch 1 dar, weil in D4 nicht erläutert werde, was unter "conventional" Polymere zu verstehen sei. Die Polymere in der Tabelle im Absatz [0143] von D4 seien, entgegen der Aussage der Beschwerdeführerin, nicht als Beispiele der "conventional" Polymere beschrieben.
Somit lasse sich aus D4 keine anspruchsgemäße Mischung entnehmen.
c) Hauptantrag - erfinderische Tätigkeit
D4 stelle nicht den nächstliegender Stand der Technik dar, weil D4 sich mit Formstabilität und optischen Eigenschaften befasse. Dagegen befasse sich das Patent mit mechanischen Eigenschaften. Somit hätte der Fachmann D4 nicht in Betracht gezogen, da andere Probleme als im Patent angesprochen worden seien. Ferner gehe aus D4 nicht hervor, was die weitere "conventional" Polymere überhaupt seien.
Vielmehr sei D8 als nächstliegender Stand der Technik zu betrachten.
Auch wenn man von D4 ausgehen würde, käme man ohne eine ex post facto Betrachtungsweise nicht zum Gegenstand des Anspruchs. Keines der anderen Dokumente würde die im Patent nachgewiesene Eigenschaftsverbesserung durch Verwendung Mischungen von zwei Polyamiden lehren, oder dem Fachmann nahelegen, aus anderen Gründen solche Mischungen zu verwenden.
Die Beispiele, allen voran 22-25 und 35, würden eine Verbesserung der Eigenschaften der durch Verwendung der Polymermischungen hergestellten Gegenstände belegen. Es seien zwar in den Beispielen unterschiedliche Temperaturbedingungen verwendet worden, aber dies sei notwendig, weil die Pulver unterschiedliche Schmelzpunkte aufweisen würden. Die Bedingungen seien somit an die jeweils eingesetzten Pulver anzupassen, wie im Patent erläutert.
Somit sei eine erfinderische Tätigkeit anzuerkennen.
d) Hilfsantrag 1 - erfinderische Tätigkeit
Die Aufnahme des Merkmals der Cofällung in den Anspruch diene dazu, Einwänden über die Breite des Anspruchs zu entgegnen. Ansonsten bleibe die Argumentation die gleiche wie für den Hauptantrag.
e) Hilfsanträge 2 und 3
Es gelte das vorher Gesagte.
XII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der Entscheidung und den Widerruf des Patents.
XIII. Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen (Hauptantrag), hilfsweise, das Patent in geändertem Umfang auf Grundlage von einem der Hilfsanträge 1 bis 3, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung, aufrecht zu erhalten. Sie beantragte weiterhin, die Dokumente D9 und D10 nicht in das Verfahren zuzulassen.
1. Zulassung der Dokument D9 und D10
1.1 Anzuwendendes Recht
1.1.1 Die Kammer hat die von der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 8. Februar 2019 eingereichten Dokumente D9 und D10 durch die in der mündlichen Verhandlung am 30. Januar 2020 verkündete Entscheidung in das Verfahren zugelassen. Die Einreichung der Dokumente erfolgte damit nach Einreichung der Beschwerdebegründung am 3. März 2017 und vor der Zustellung der Ladung vom 1. Juli 2019 zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer.
1.1.2 Da die Entscheidung der Kammer in dem vorliegenden Fall nach dem Inkrafttreten der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) am 1. Januar 2020 getroffen und verkündet wurde, ist zu entscheiden, ob die Vorschriften der VOBK 2020 oder der bis zum Inkrafttreten der revidierten Fassung geltenden VOBK 2007 auf die Zulassung der Dokumente D9 und D10 Anwendung finden (vgl. T 634/16 vom 10. Januar 2020, Punkt 8 und 10 der Gründe).
1.1.3 Gemäß Artikel 25(1) VOBK 2020 ist die revidierte Fassung auf alle Fälle anzuwenden, die am Tag des Inkrafttretens anhängig sind, vorbehaltlich der in den Absätzen (2) und (3) genannten Ausnahmen. Nach Artikel 25(2) VOBK 2020 gilt Artikel 12 Absätze 4 bis 6 der revidierten Fassung u.a. nicht für vor dem Inkrafttreten der revidierten Fassung eingereichte Beschwerdebegründungen. Nach Artikel 25(3) VOBK 2020 ist Artikel 13(2) der revidierten Fassung nicht anzuwenden, wenn vor deren Inkrafttreten die Ladung zur mündlichen Verhandlung oder eine Mitteilung der Kammer nach Artikel 100(2) EPÜ zugestellt worden ist.
1.1.4 Da die Dokumente D9 und D10 mit Schreiben vom 8. Februar 2019 und somit nach Einreichung der Beschwerdebegründung am 3. März 2017 und vor der Zustellung der Ladung vom 1. Juli 2019 zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht worden sind, ist für die Entscheidung über deren Zulassung in das Verfahren nach Artikel 25(1) VOBK 2020 die Vorschrift des Artikels 13(1) VOBK 2020 anzuwenden. Artikel 13(1) VOBK 2020 hat folgenden Wortlaut:
"(1) Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung bedürfen rechtfertigender Gründe seitens des Beteiligten und ihre Zulassung steht im Ermessen der Kammer.
Artikel 12 Absätze 4 bis 6 gilt entsprechend.
Der Beteiligte muss die Gründe dafür angeben, weshalb er die Änderung erst in dieser Phase des Beschwerdeverfahrens einreicht.
Bei der Ausübung ihres Ermessens berücksichtigt die Kammer insbesondere den Stand des Verfahrens, die Eignung der Änderung zur Lösung der von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren in zulässiger Weise aufgeworfenen Fragen oder der von der Kammer selbst aufgeworfenen Fragen, ferner ob die Änderung der Verfahrensökonomie abträglich ist, und bei Änderung einer Patentanmeldung oder eines Patents, ob der Beteiligte aufgezeigt hat, dass die Änderung prima facie die von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren oder von der Kammer aufgeworfenen Fragen ausräumt und keinen Anlass zu neuen Einwänden gibt."
1.2 Sachliche Beurteilung
1.2.1 Im Rahmen der Ausübung des Ermessens hält die Kammer das Vorbringen der Beschwerdeführerin im Schreiben vom 8. Februar 2019 und in der mündlichen Verhandlung für plausibel und nachvollziehbar, dass die Einreichung der D9 und D10 in Reaktion auf die von der Beschwerdegegnerin in ihrer Beschwerdeerwiderung (Seite 4 oben) vorgelegten Versuchsdaten mit Polyamid 11-Anteilen, insbesondere der als erfindungsgemäß bezeichneten Beispiele 39 und 40 die verwendet wurden, um eine Umformulierung der gelöste Aufgabe zu stützen, und damit "zur Lösung der von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren in zulässiger Weise aufgeworfenen Fragen" im Sinne von Artikel 13(1), dritter Unterabsatz VOBK 2020, erfolgte.
1.2.2 Insbesondere betreffen D9 und D10 Verfahren zur Behandlung von Polymerpulvern, wobei D9 die Fällung und D10 die Behandlung mit Wasser oder Wasserdampf betrifft.
Aus D9 geht hervor, dass Fällung die Bulk bzw. Oberflächeneigenschaften des Polymerpulvers wie BET Oberfläche, Teilchengröße sowie Schuttdichte beeinflusst (D9, "Comparative Example 2", "Inventive example 3"). Aus D10 geht hervor, dass eine Behandlung mit Wasserdampf die thermische Eigenschaften des Polymers beeinflusst, insbesondere der Abstand der Schmelz- und Kristallisationstemperaturen (D10, Absatz [0007])
Die Einreichung dieser Dokumente kann als Reaktion auf das Vorbringen der Beschwerdegegnerin in der Beschwerdeerwiderung bezüglich Schmelzpunkte der unterschiedlichen Polyamidpulvern angesehen werden.
Die Kammer vermag nicht zu erkennen, dass es einen Grund gab, diese Dokumente zu einem früheren Zeitpunkt des Verfahrens einzureichen.
1.2.3 Für die Frage, ob und inwieweit die weitere Voraussetzung für die Zulassung der Dokumente hinsichtlich der Angabe rechtfertigender Gründe seitens der Beschwerdeführerin, die die Gründe dafür angeben muss, weshalb die Dokumente erst in dieser Phase des Beschwerdeverfahrens einreicht wurden, im Rahmen der Ermessensausübung als erfüllt anzusehen ist, sind für die Kammer folgende Erwägungen maßgeblich.
1.2.4 Die Beschwerdeführerin hat zur Begründung für die späte Einreichung der Dokumente lediglich angegeben, dass diese in Reaktion auf die von der Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdeerwiderung (Seite 4 oben) vorgelegten Versuchsdaten erfolge. Die Kammer hält diese Begründung im vorliegenden Fall für ausreichend und eine Forderung nach der Angabe weiterer rechtfertigender Gründe, wie sie in Artikel 13(1) VOBK vorgeschrieben ist, unter den gegebenen Umständen für nicht gerechtfertigt. Denn obwohl nach Artikel 25(1) VOBK 2020 die revidierte Fassung des Artikels 13(1) VOBK anzuwenden ist, ist zu berücksichtigen, dass diese Vorschrift tatsächlich zum Zeitpunkt der Einreichung der D9 und D10 noch nicht in Kraft oder gar in der jetzigen Fassung bekannt war und somit von der Beschwerdeführerin noch nicht beachtet werden konnte. Da im übrigen die Nichtzulassung der D9 und D10 von der Beschwerdegegnerin erstmals in der mündlichen Verhandlung beantragt wurde, bestand auch insoweit nach der Einreichung dieser Dokumente für die Beschwerdeführerin kein Anlass, rechtfertigende Gründe für die späte Einreichung vorzutragen.
2. Hauptantrag
2.1 Neuheit
D4 betrifft Polymerpulver aus Polyamid des AABB Typs (Absatz [0002}, Anspruch 54). Die Pulver werden durch Fällung erhalten (Absatz [0013]). Die Beispiele von D4 zeigen entweder AB Polyamide, z.B. PA 12 als Vergleich oder AABB Polyamide als erfindungsgemäß.
Es gibt kein Beispiel mit AB und AABB Polyamide in einer Mischung.
Gemäß Absatz [0031] können nicht näher definierte "conventional" Polymerpulver den erfindungsgemäßen Polymeren beigemischt werden. Der Begriff "conventional polyamide powders" (jedoch nicht "conventional polymer powders" wie im Absatz [0031]) wird zwar mehrmals in D4 verwendet (Absätze [0016], [0017]), aber es wird nicht erläutert, welche Polyamide hierunter zu verstehen sind.
In der Tabelle auf Seite 6 des Dokuments werden verschiedene erfinderische und nicht erfinderische Zusammensetzungen aufgelistet. Unter "non-inventive" werden sowohl AB Polyamide als auch ein AABB Polyamid aufgeführt. Dieser Tabelle ist jedoch keine Information zu entnehmen, wonach die aufgelisteten "non-inventive" Polyamide als Vertreter der in dem Dokument erwähnten "conventional" Polymere zu verstehen sind.
Somit kann das Argument der Beschwerdeführerin, D4 würde AB Polyamid als Vertreter der im Absatz [0031] erwähnten Gattung von "conventional" Polymerpulvern offenbaren, nicht durchgreifen.
Folglich ist der Gegenstand des Anspruchs 1 neu.
2.2 Erfinderische Tätigkeit
2.2.1 Streitpatent - Problemstellung
Das Streitpatent befasst sich mit der Bereitstellung von Polymerpulvern für die Verwendung im Lasersintern- Verfahren.
Gemäß Absatz [0010] besteht das Problem, z.B. bei Verwendung von Pulvern auf Basis von AB-Typ Polyamiden, in einer nicht ausreichenden Wärmeformbeständigkeit. Dieses Problem lässt sich zwar durch Beimischung eines AABB Polyamids verbessern, jedoch treten bei den Mischungen Probleme aufgrund der unterschiedlichen Schmelztemperaturen auf. Hierdurch werden inhomogene Produkte mit nicht befriedigender Zähigkeit erhalten.
Aufgabe des Patents ist somit ein Polymerpulver bereitzustellen, welches die Erzeugung möglichst zäher Formkörper mit erhöhter Wärmeformbeständigkeit ermöglicht (Absatz [0011].
2.2.2 Nächstliegender Stand der Technik.
D4 und D8 sind als nächstliegender Stand der Technik vorgeschlagen worden.
Sowohl D4 (Absätze [0001]-[0003]) als auch D8 (Absätze [0001]-[0005] betreffen Pulver für den Einsatz in Lasersintern Verfahren - siehe insbesondere D4, Absatz [0003] und D8, Absatz [0008].
D4 behandelt die Probleme der "Dimensional Accuracy", ausgedrückt durch die Vermeidung von "curl" und gute oberflächige und mechanische Eigenschaften (Absätze [0011]-[0013]). D8 behandelt ebenfalls das Problem der Formstabilität, in Bezug auf "Curl" (Absatz [0017]), welche zu Verformungen führt. In beiden Fällen wird die Temperaturkontrolle in der Prozesskammer als wesentlicher Faktor identifiziert (D4 Absatz [0011], D8, Absatz [0017]).
Folglich betreffen sowohl D4 und D8 das gleiche Fachgebiet wie das Patent und beide befassen sich mit dem gleichen Aspekt oder Teilproblem - nämlich Formstabilität - wie das Streitpatent.
Somit sind beide Dokumente D4 und D8 als relevant anzusehen.
In einer solchen Situation, bei der mehrere Dokumente als Alternativen für den nächstliegenden Stand der Technik in Frage kommen, ist es erforderlich, dass eine erfinderische Tätigkeit gegenüber jedem nachgewiesen wird, um die Erfordernisse von Artikel 56 EPÜ zu erfüllen. Die Feststellung, dass, ausgehend von einem dieser Dokumente keine erfinderische Tätigkeit anzuerkennen sei, verliert ihre Gültigkeit nicht, falls, ausgehend von einem anderen Dokument die gegenteilige Schlussfolgerung erreicht werden würde.
2.2.3 Analyse ausgehend von D4
a) Unterscheidendes Merkmal
D4 betrifft Pulverzusammensetzungen auf Basis eines AABB Polyamids. Die Pulver werden durch Fällung erhalten (siehe Beispiel 2).
Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich von D4 dadurch, dass das Polymerpulver zwei Polyamide - ein AABB Polyamid und ein AB Polyamid - enthält.
b) Technischer Effekt
In den Beispielen 22-25 des Patents werden Pulver auf Basis von PA12/PA1013, erhalten gemäß Beispiel 15 des Patents, verwendet. Diese werden durch Lasersintern bearbeitet. In allen Beispielen wird eine Laserleistung von 19 W verwendet. Die Beispiele 22-25 unterscheiden sich durch die verwendete Prozesskammerheizung (zwischen 164°C und 175°C).
Im Beispiel 35 des Patents wird ein Pulver auf Basis von PA1013, also nur ein Polyamid des Typs AABB, einem Lasersinterung unterzogen.
Jedoch sind die im Beispiel 35 verwendeten Bedingungen anders als bei den Beispielen 22-25.
Als Prozesskammertemperatur wird 169°C verwendet, welche in keinem der Beispiele 22-25 verwendet wird. Ferner wird als Laserleistung von 24 W anstelle von 19 W verwendet.
Die Ergebnisse zeigen zwar, dass die Produkte der Beispiele 22-25 im allgemeinen eine verbesserte Kerbschlagzähigkeit (zwischen 4.14 und 5.45 kJ/m**(2)) aufweisen als das Produkt des Beispiels 35 (2.92 kJ/m**(2)). Jedoch ist es aufgrund der unterschiedlichen Verarbeitungsbedingungen nicht möglich, diese Verbesserung der Beschaffenheit des Pulvers zuzuordnen.
Die Argumente der Patentinhaberin, die Bedingungen der Belichtung (Temperatur, Laserleistung) seien im Hinblick auf die Beschaffenheit des Pulvers anzupassen oder zu variieren, findet keine Grundlage oder Basis im Streitpatent; im Gegenteil, diese Thematik wird in keiner Weise behandelt. So steht im Absatz [0052] als Feststellung, dass die Pulver unterschiedliche Schmelzpunkte haben. Eine etwaige Anpassung der Sinternbedingungen in Bezug auf den Schmelzpunkt wird hier jedoch nicht - auch nicht implizit oder im allgemeinen - angesprochen oder angedeutet. Darüber hinaus werden in den Beispielen 22-25 für die selbe Mischung unterschiedliche Temperaturen verwendet, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Unter diesen Umständen ist es nicht möglich, einen technischen Effekt dem unterscheidenden Merkmal zuzuordnen.
c) Objektiv zu lösende technische Aufgabe
Im Anbetracht des Vorhergehenden kann die zu lösende technische Aufgabe lediglich als die Bereitstellung weiterer/alternativer Polymerpulver für Lasersintern formuliert werden.
d) Naheliegend
Im Hinblick auf diese Aufgabenformulierung ist jede Modifikation der bekannten Zusammensetzungen, die der Fachmann dem Stand der Technik entnehmen kann, als naheliegend anzusehen.
D4 selbst lehrt in Absatz [0031], dass weitere "conventional" Polymere beigemischt werden können, und das Dokument offenbart im Vergleichsbeispiel 1 ein AB Polyamid, ohne dieses explizit als "conventional" zu bezeichnen.
D4 betont jedoch Polyamide als geeignete Polymere (Absatz [0013]). Deshalb hätte der Fachmann sogar den Hinweis erhalten, dass, falls weitere "conventional" Polymere einzusetzen seien, Polyamide hierfür in Frage kämen.
Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 als naheliegend anzusehen.
3. Hilfsantrag 1
Anspruch 1 definiert zusätzlich, dass das Pulver durch Cofällung erhalten wird.
3.1 Neuheit
Das für den Hauptantrag Gesagte gilt ebenfalls für den Hilfsantrag 1.
3.2 Erfinderische Tätigkeit - Ausgehend von D4
3.2.1 Unterscheidungsmerkmal
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich von der Offenbarung von D4 dadurch, dass zwei Polyamide der Typen AABB und AB verwendet werden, und weiter dadurch, dass das Pulver durch Cofällung erhalten wird.
3.2.2 Technischer Effekt
Wie für den Hauptantrag erläutert, lässt sich aufgrund der vorhandenen Daten diesen Unterschieden kein technischer Effekt zuordnen.
3.2.3 Naheliegend
In D4 wird das Pulver durch Fällung erhalten. D4 ist keine Information zu entnehmen, wie vorzugehen ist, wenn, wie im Absatz [0031] offenbart, ein weiteres "conventional" Polymer mitverwendet wird.
Aus D5 sind Mischungen aus Polyamidpulvern bekannt. Diese werden zu Beschichtungen verarbeitet (D5, Spalte 1, Zeilen 14-19, Zeilen 53 - Spalte 2, Zeile 4, Abschnitt "Summary of the Invention"). Die Mischungen können durch unterschiedliche Methoden erzeugt werden.
Zwar steht in der Tabelle in der Spalte 4, dass die Pulver vermischt, die Mischung gelöst und die Lösung ausgefällt wird - also Cofällung, jedoch wird in Spalte 3, Zeilen 31-34 davor gewarnt, diese Methode zu verwenden. Dementsprechend ist Beispiel 4, bei dem diese Methode verwendet wurde, als Vergleichsbeispiel gekennzeichnet. Ebenso können die getrennt gefällten Pulver vermischt werden (Methode B). Auch ist die Vermahlung entweder der Polyamidmischung oder der getrennten Polyamide mit anschließender Mischung möglich (Methoden C und D).
Es geht aus D5 somit hervor, dass Cofällung eine bekannte Methode zur Herstellung von Mischungen aus Polyamiden ist, ungeachtet der Tatsache, dass dies in D5 nicht erwünscht ist.
Für den Fachmann, der sich lediglich die Aufgabe stellt, weitere Zusammensetzungen analog denen von D4 bereitzustellen, geht aus D5 hervor, dass Cofällung eine mögliche Methode, und somit, vor allem in Anbetracht der "minimalen" technischen Aufgabe, als naheliegend anzusehen ist.
4. Hilfsanträge 2 und 3
Da der jeweilige Anspruch 1 jenem des Hauptantrags bzw. des Hilfsantrags 1 entspricht, gilt das Obengesagte ebenfalls für die Hilfsanträge 2 und 3.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.