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T 0178/90 26-03-1992
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Hüftgelenkprothese mit einem in den Markkanal des Oberschenkelknochens einzusetzenden Schaft
The criteria "directly and unambiguously" and/or
"inevitably" to be applied in the novelty test
Kriterien "unmittelbar und eindeutig" bzw.
"zwangsläufig" bei der Neuheitsprüfung
I. Das europäische Patent Nr. 0 038 908 wurde am 14. August 1985 auf der Basis der am 11. Februar 1981 eingereichten Patentanmeldung Nr. 81 100 935.6 erteilt. Sein Anspruch 1 hat folgenden Wortlaut:
"Hüftgelenkprothese mit einem in den Markkanal des Oberschenkelknochens einzusetzenden, in der AP-Ebene gekrümmten Schaft mit posterior gelegenem Krümmungsmittelpunkt, dadurch gekennzeichnet, daß der Schaft (1) im proximalen Bereich eine Krümmung mit anterior gelegenem Krümmungsmittelpunkt aufweist, während die Krümmung mit posterior gelegenem Krümmungsmittelpunkt sich im distalen Schaftbereich befindet".
II. Ein gegen das Patent eingelegter, auf Artikel 100 a) EPÜ gestützter Einspruch wurde von der Einspruchsabteilung mit Entscheidung vom 18. September 1989, zur Post gegeben am 27. Dezember 1989, zurückgewiesen.
III. Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 21. Februar 1990 unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr eingelegte und am 27. April 1990 begründete Beschwerde.
Von den im Einspruchsverfahren genannten Druckschriften sind folgende während des Beschwerdeverfahrens aufgegriffen worden:
(1) US-A-3 995 323,
(2) P.S. Walker, Human joints and their artificial replacements, 1977, C.C. Thomas Publisher, Springfield, USA, Seiten 286 bis 305 und (9) Firmendruckschrift "SP-Hüftgelenk-Totalprothesen- System Modell Interplanta", Interplanta GmbH, 1979.
IV. Die von der Beschwerdeführerin schriftlich und während der mündlichen Verhandlung vom 26. März 1992 vorgebrachten Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Beim Nacharbeiten der Lehre der Druckschrift (1) gelange der Fachmann zwangsläufig zu einer Hüftgelenkprothese mit einem in der AP-Ebene proximal nach posterior und distal nach anterior S-förmig gekrümmten Schaft, also zu einer Prothese, die unter den Patentanspruch 1 des Streitpatents falle. Das nach dieser Druckschrift zunächst gefertigte Modell weise nämlich unstrittig die dem natürlichen Knochen entsprechende, aus Figur 7-7 der Druckschrift (2) ersichtliche und auch allgemein bekannte S-Form auf. Von diesem Modell würden nach Druckschrift (1), Spalte 3, Zeilen 1 bis 14 im intertrochantären Bereich lediglich der dem großen Trochanter entsprechende Teil sowie Teile, die nach dem Entfernen in diesem Bereich gegenüberliegende dreieckförmige Flächen zurücklassen, abgetrennt werden. Dadurch gehe die S-Form des Modells jedoch nicht verloren. Dies müsse auch vermieden werden, da gemäß Druckschrift (1) die auf der Basis dieses Modells hergestellte Hüftgelenkprothese zur sicheren Fixierung möglichst genau in den Knochenkanal passen solle.
Der Schaft der nach der bekannten Lehre gefertigten Hüftgelenkprothese besitze somit in der AP-Ebene zwangsläufig die gleiche S-förmige Krümmung wie der Gegenstand des Streitpatents. Diese Auffassung stehe nicht im Widerspruch zur Figur 3 der Druckschrift (1), in der die Prothese unter einem Blickwinkel von etwa 45° zur AP- oder LM-Ebene dargestellt sei. Denn unter einem solchen Blickwinkel würde auch der Schaft der erfindungsgemäßen Prothese als gerader Schaft erscheinen, wie die mit Eingabe vom 27. April 1990 vorgelegte Fotografie Nr. 3 zeige.
Die Druckschrift (1) stehe daher der Prothese gemäß Anspruch 1 neuheitsschädlich entgegen. Zumindest sei keine erfinderische Tätigkeit erkennbar, weil sich die Prothese automatisch aus dieser Druckschrift ergebe.
V. Die Beschwerdegegnerin hat dieser Argumentation widersprochen:
Die Druckschrift (1) offenbare weder im Text noch in den Figuren einen S-förmigen Prothesenschaft, und zwar auch nicht implizite. Sie enthalte außer für den intertrochantären Bereich keine konkreten Angaben darüber, wieviel Material vor der Prothesenfertigung vom Modell abgetragen werde. Im Hinblick auf die in der Druckschrift (1) angesprochene größtmögliche Erhaltung der Knochensubstanz des Patienten müsse aber davon ausgegangen werden, daß viel Modellmaterial entfernt werde. Dies stehe nicht im Widerspruch zu dem gewünschten guten Kontakt der Prothese mit dem Knochen, da vom Operateur im Trochanterbereich für den Prothesenschaft erst ein Kanal in der Spongiosa geschaffen werde. Wie die Figuren der Druckschrift (1) zeigen, bestehe ein erheblicher Unterschied zwischen dem Modell, das durch Ausgießen eines von spongiösem Gewebe befreiten Knochenhohlraums erhalten werde, und der nach dem Modell hergestellten Prothese. Es könne also aus der S-Form des Knochens nicht geschlossen werden, daß auch die Prothese S-förmig sein müsse. Ein solches Ergebnis sei durch die Druckschrift (1) weder unmittelbar noch eindeutig impliziert.
Die Figur 2 lasse in Verbindung mit der Figur 1 eine symmetrische Ausbildung des proximalen Schaftbereichs erkennen, und der Figur 3 entnehme der Fachmann, daß der Schaft durchgehend gerade ausgebildet sei. Hätte der Erfinder des Verfahrens gemäß Druckschrift (1) erkannt, daß der Prothesenschaft S-förmig gekrümmt sein könne, so wäre dies als bedeutende Abweichung von allem Herkömmlichen zweifellos nicht unerwähnt geblieben.
Die erfindungsgemäße Prothese beruhe auch auf erfinderischer Tätigkeit, da der Stand der Technik keinen Hinweis auf eine in der AP-Ebene S-förmige Schaftkrümmung und die damit erzielbare Sicherheit gegen Verdrehen enthalte.
VI. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerde.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Neuheit
2.1. Bei der Neuheitsprüfung gemäß Artikel 54 (1) und (2) EPÜ wird der beanspruchte Gegenstand mit dem in Artikel 54 (2) EPÜ definierten Stand der Technik verglichen. Die in diesem Artikel enthaltene Formulierung "der Öffentlichkeit zugänglich gemacht" ist dabei nach ständiger Amtspraxis wie folgt zu interpretieren:
"Die zum Stand der Technik gehörenden Dokumente sind für den beanspruchten Gegenstand neuheitsschädlich, wenn dieser unmittelbar und eindeutig aus einem Dokument hervorgeht, einschließlich der Merkmale, die darin zwar nicht ausdrücklich genannt sind, aber für den Fachmann vom Inhalt mit erfaßt sind." (vgl. Prüfungsrichtlinien C-IV, 7.2). "Im Falle eines früheren Dokuments kann sich die mangelnde Neuheit aus dem Dokument selbst eindeutig ergeben. Sie kann sich jedoch auch implizite dadurch ergeben, daß ein Fachmann bei Ausführung dessen, was sich aus dem früheren Dokument ergibt, zwangsläufig zu einem Ergebnis gelangt, das unter den Patentanspruch fällt. Einen Einwand wegen mangelnder Neuheit dieser Art sollte der Prüfer jedoch nur dann erheben, wenn kein berechtigter Zweifel hinsichtlich der praktischen Auswirkungen der früheren Lehre besteht." (vgl. Prüfungsrichtlinien C-IV, 7.5 sowie die Entscheidung T 12/81, ABl. EPA 1982, 296, Punkte 5, 7 und 8).
2.2. Nach Auffassung der Kammer sind die unter Ziffer 2.1 genannten Kriterien "unmittelbar und eindeutig" bzw. "zwangsläufig" im vorliegenden Fall aus folgenden Gründen nicht erfüllt.
2.3. Die Hüftgelenkprothese gemäß Anspruch 1 des Streitpatents, die einen in der AP-Ebene in bestimmter Weise S-förmig gekrümmten Schaft aufweist, geht nicht unmittelbar und eindeutig aus der Druckschrift (1) hervor, selbst wenn für den Fachmann vom Inhalt mit erfaßte Merkmale berücksichtigt werden. Bezüglich der Form des Schafts enthält die Druckschrift in Spalte 2 (vgl. auch Anspruch 2) folgende Information:
"The intertrochanteric part 2 has a compound profile that has, in the portion of transition of said part into the neck 1, the shape of a triangle with a base convexed outwardly, and in the portion corresponding to a base of the greater trochanter 4 on the bone, that of a frustum which base smoothly passes into the shaft 3 for intraosseous insertion. In the portion of transition from the intertrochanteric portion into the shaft, two opposite surfaces 5 and 6 of said shaft have the shape of conics, the convexities thereof facing each other."
In Figur 1 ist der proximale Teil eines in den Offenbarungsbereich der Druckschrift fallenden Schafts 3 und in Figur 3 der vollständige Schaft dargestellt. Der Figur 3 entnimmt der Fachmann nach Ansicht der Kammer die Lehre, daß der Schaft als Geradschaft ausgebildet ist. Die Figur 2 zeigt in Draufsicht zumindest, daß der proximale Schaftteil unterhalb des intertrochantären Teils seitlich nicht vorragt.
Weder im Text noch in den Figuren der Druckschrift (1) ist unmittelbar und eindeutig offenbart, daß der Prothesenschaft in der AP-Ebene eine S-Form aufweist.
Dem Argument der Beschwerdeführerin, daß unter der Blickrichtung von 45° zur AP-Ebene die in dieser Ebene vorhandene S-Form eines erfindungsgemäßen Schafts nicht erkannt werden könne, wie anhand der mit Eingabe vom 27. April 1990 eingereichten Fotografie Nr. 3 belegt, und deshalb Figur 3 der Druckschrift (1) nicht unbedingt einen geraden Schaft repräsentiere, kann die Kammer nicht zustimmen. Denn die Fotografie Nr. 3 vermittelt durch den Verlauf der Längskanten der Schmalseite des Schafts sehr wohl den Eindruck eines nicht-geraden Schafts. Zumindest kann die Figur 3 der Druckschrift (1) nicht als Beweis für die eindeutige Offenbarung der S-Form des dargestellten Schafts dienen.
2.4. Der Fachmann gelangt auch nicht bei Ausführung der Lehre der Druckschrift (1) zwangsläufig zu einer unter den Anspruch 1 des Streitpatents fallenden Prothese mit in der AP-Ebene in bestimmter Weise S-förmig gekrümmtem Schaft. Zwar führt das in dieser Druckschrift zunächst beschriebene Verfahren zur Herstellung eines Modells einer Hüftgelenkprothese, bei dem ein einer Leiche entnommener Femurknochen in zwei Längshälften zerteilt und nach Entfernen der Spongiosa als Form zum Gießen des Modells verwendet wird, nach übereinstimmender Auffassung der Parteien zu einem Modell, das die natürliche S-Form des Innenraums des von spongiösem Knochengewebe befreiten Femurs wiedergibt.
Das sich daran anschließende Verfahren zur Herstellung der Hüftgelenkprothese auf der Basis dieses Modells ergibt aber nicht zwangsläufig die im Streitpatent beanspruchte Prothese. Von dem Modell wird nämlich vor der Herstellung der Prothese Material abgetragen, und zwar an den Stellen, an denen später im Patienten Knochensubstanz erhalten bleiben soll. Der Beschwerdegegnerin ist darin zuzustimmen, daß im Hinblick auf die in der Druckschrift (1) angesprochene Notwendigkeit der größtmöglichen Erhaltung von Knochensubstanz davon auszugehen ist, daß viel Material vom Modell abgetragen wird. Bezüglich der Bearbeitung des intertrochantären Teils des Modells finden sich in Spalte 3 der Druckschrift nähere Angaben. Daß jedoch auch unterhalb dieses Teils spongiöse Knochensubstanz zu erhalten und daher vom Modell entsprechend Material zu entfernen ist, ergibt sich aus der Tatsache, daß im Trochanterbereich die Wandstärke der Corticalis sehr gering ist.
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin bleibt somit beim Bearbeiten des Modells seine S-Form nicht zwangsläufig bewahrt. Daraus folgt, daß auch die nach dem Modell gefertigte Prothese zumindest im proximalen Bereich nicht zwangsläufig eine Krümmung mit anterior gelegenem Krümmungsmittelpunkt aufweist. Dies wird für den proximalen, aber auch für den distalen Bereich insbesondere durch die Figuren 1 bis 3 der Druckschrift (1) bestätigt, die, da sie keinen S-förmigen Schaft zeigen, belegen, daß ein die bekannte Lehre nacharbeitender Fachmann nicht zwangsläufig zu einem unter den Anspruch 1 fallenden Ergebnis gelangt. Die Aussagekraft der Figuren kann bei der Ermittlung dessen, was sich bei der Ausführung der Lehre der Druckschrift zwangsläufig ergibt, nicht unbeachtet gelassen werden.
Die obige Schlußfolgerung über die sich nicht zwangsläufig ergebende Krümmung steht im Einklang mit den von der Beschwerdeführerin genannten Entscheidungen T 12/81 (ibid.) und T 124/87, ABl. EPA 1989, 491. Ihr steht auch nicht die Aussage in der Druckschrift (1) entgegen, daß die Prothese zur sicheren Fixierung im Knochen möglichst genau in den Knochenkanal passen soll. Im proximalen, mit Spongiosa gefüllten Femurbereich liegt nämlich kein natürlicher Knochenhohlraum vor; die zum Einsetzen der Prothese notwendige und an die Prothese anzupassende Höhlung wird erst vom Operateur durch Raspeln oder Bohren in der Spongiosa geschaffen, wodurch ein in diesem Bereich guter Kontakt der Prothese mit dem Knochen gewährleistet wird.
2.5. Nachdem somit die Prothese gemäß Anspruch 1 des Streitpatents nicht unmittelbar und eindeutig aus der Druckschrift (1) hervorgeht und der Fachmann bei Ausführung der Lehre dieser Druckschrift nicht zwangsläufig zu einer unter den Anspruch 1 fallenden Prothese gelangt, steht diese Druckschrift dem beanspruchten Gegenstand nicht neuheitsschädlich entgegen. Dasselbe gilt für die anderen Entgegenhaltungen. Die Hüftgelenkprothese gemäß Anspruch 1 ist gegenüber dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik neu.
3. Erfinderische Tätigkeit Ausgehend von einer aus der Firmendruckschrift (9) bekannten Hüftgelenkprothese, deren Schaft in der AP-Ebene eine Krümmung mit posterior gelegenem Krümmungsmittelpunkt besitzt und die den nächstkommenden Stand der Technik darstellt, liegt der Erfindung nach den Ausführungen der Beschwerdegegnerin insbesondere die Aufgabe zugrunde, eine Prothese zu schaffen, die eine geringere Verdrehungsneigung hat. Zur Lösung dieser Aufgabe wird erfindungsgemäß proximal von der genannten Krümmung eine zweite Krümmung in der AP-Ebene, die jedoch einen anterior gelegenen Krümmungsmittelpunkt aufweist, vorgesehen.
Die im Verfahren befindlichen Druckschriften (1), (2) und (9) geben weder einen Hinweis auf die Verringerung der Verdrehungsneigung einer Prothese noch einen Hinweis auf eine in der AP-Ebene S-förmige Schaftkrümmung. Es gibt auch keinen anderen Grund, auf der Basis allgemeiner physikalischer oder medizinischer Überlegungen eine S-Form überhaupt als vorteilhaft oder empfehlenswert in Betracht zu ziehen. Die Verdrehungsneigung ist auch von anderen Faktoren abhängig, und es war nicht vorhersehbar, daß die S-Form allein schon einen wesentlichen Effekt besitzt. Daher kann der Stand der Technik weder einzeln noch in Zusammenschau den Gegenstand des Streitpatents nahegelegt haben. Die erfinderische Tätigkeit ist somit anzuerkennen.
Die Kammer gelangt zu keinem anderen Ergebnis, wenn der Auffassung der Beschwerdeführerin gefolgt wird, die Druckschrift (1) als dem Erfindungsgegenstand am nächsten kommenden Stand der Technik zu betrachten. Da, wie unter Ziffer 2 dargelegt, durch diese Druckschrift der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden ist, den Prothesenschaft im proximalen Bereich mit einer Krümmung in der AP-Ebene mit anterior gelegenem Krümmungsmittelpunkt zu versehen, sondern durch die einen geraden Schaft zeigenden Figuren eher von einer derartigen Krümmung abgeraten wird, kann diese Schrift den Fachmann nicht dazu angeregt haben, den Prothesenschaft in der AP-Ebene mit einer S-förmigen Krümmung mit im proximalen Bereich anterior und im distalen Bereich posterior gelegenem Krümmungsmittelpunkt auszugestalten.
4. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des angefochtenen Patents, und damit auch der abhängigen Ansprüche 2 bis 4, erfüllt mithin die Voraussetzungen der Patentfähigkeit gemäß Artikel 52 (1) EPÜ.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.