T 0896/90 (Umfang des Einspruchs/JENTZSCH, SCHUPPLER) 22-04-1994
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Eine ausführliche Begründung des Einspruchs nur bezüglich eines erteilten unabhängigen Anspruchs bedeutet nicht, daß nur dieser Teil des Streitpatents angegriffen werden soll
Extent of opposition - limited to independent claims
Extent of examination - scope
Reimbursement of appeal fee (no) - substantial procedural violation (no)
I. In der Zwischenentscheidung im Sinne des Artikels 106 (3) EPÜ vom 21. September 1990 hat die Einspruchsabteilung festgestellt, daß der Einspruch der Beschwerdegegnerin (Einsprechenden) zulässig sei. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, daß die Beschwerdegegnerin den Umfang des Einspruchs (Regel 55 c) EPÜ) angegeben habe. Zur Begründung wurde folgendes ausgeführt:
- Auf Formblatt 2300, Seite 2, sei angegeben "in vollem Umfang", jedoch stehe in der ausführlichen Begründung, Seite 4, "wenigstens im Umfange des Anspruchs 1". Letzteres sei zwar eine Einschränkung des Antrags auf Widerruf, er könne aber dennoch zum Widerruf führen.
- Zwar fehle in den Einspruchsschriftsätzen eine detaillierte Begründung bezüglich der abhängigen Ansprüche 3 bis 12, es sei jedoch der direkte Hinweis gegeben, daß diese Ansprüche nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen würden.
- Da nach Wegfall des Anspruchs 1 auch die darauf rückbezogenen Ansprüche 2 bis 12 fallen würden, weil für sie keine eigenständige, patentbegründende Bedeutung erkennbar und auch nicht geltend gemacht worden sei, könne sich die Einspruchsabteilung nicht der Auffassung der Beschwerdeführer (Patentinhaber) anschließen, daß der Einspruch als unzulässig zurückzuweisen sei, weil die Begründung für einen Teil der abhängigen Ansprüche fehle.
II. Gegen diese Zwischenentscheidung haben die Beschwerdeführer unter gleichzeitiger Bezahlung der Beschwerdegebühr am 21. November 1990 gesonderte Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdebegründung wurde ebenfalls am 21. November 1990 eingereicht.
Die Beschwerdeführer machen im wesentlichen folgendes geltend:
- In Abschnitt 1 der angefochtenen Zwischenentscheidung werde angegeben, daß "Herr Horst Jentzsch in D-7447 Aichtal" Patentinhaber des Streitpatents sei. Dies sei unzutreffend, weil das Streitpatent zwei Patentinhaber habe. Demzufolge seien auch die weiteren Ausführungen der angefochtenen Zwischenentscheidung unzutreffend, soweit dort jeweils von "der Patentinhaber" die Rede sei, weil es "die Patentinhaber" heißen müsse.
- In Abschnitt 1 der angefochtenen Entscheidung werde in unzutreffender Weise angegeben, daß die Beschwerdegegnerin beantragt habe, das Streitpatent "in vollem Umfang zu widerrufen". Die Erklärungen der Beschwerdegegnerin zum Umfang ihres Einspruchs seien im Gegenteil höchst streitig. Eine klare Erklärung habe die Beschwerdegegnerin daher nicht abgegeben.
- In den Unterlagen des Streitpatents werde zu jedem einzelnen rückbezogenen Anspruch 2 bis 12 geltend gemacht, was die besonderen Vorteile seien und damit auch welches deren eigenständige patentbegründende Bedeutung sei. Die Feststellung in Abschnitt 4, Absatz 3, der angefochtenen Zwischenentscheidung, die Beschwerdeführer hätten eine eigenständige, patentbegründende Bedeutung der rückbezogenen Ansprüche 2 bis 12 "nicht geltend gemacht", sei daher unzutreffend.
- Diese vorstehend festgestellten Unrichtigkeiten in der angefochtenen Zwischenentscheidung in bezug auf den zugrundegelegten Tatbestand müßten daher zunächst korrigiert werden, ehe die angefochtene Zwischenentscheidung rechtlich überprüft werde.
- Die Beschwerdegegnerin habe es versäumt, klar anzugeben, in welchem Umfang gegen das Streitpatent Einspruch eingelegt werden sollte. Sofern die von ihr zunächst hierzu abgegebene Erklärung, wonach der Einspruch sich gegen das erteilte Patent "im gesamten Umfang" richte, gelten sollte, so fehle insoweit die Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel.
- Mit dem Hinweis in ihrem Schriftsatz vom 18. April 1989, beim EPA eingegangen am 19. April 1989, daß auf einen speziellen Angriff auf die Ansprüche 3 bis 12 verzichtet werde, habe die Beschwerdegegnerin dadurch eine vollkommene Verwirrung gestiftet, daß sie nun überhaupt nicht mehr habe erkennen lassen, ob nun der erhobene Einspruch sich in seinem Umfang auch gegen den Gegenstand der Ansprüche 3 bis 12 richten oder nur auf eine Begründung (Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel) hinsichtlich dieser Ansprüche verzichtet werden sollte. Die Beschwerdegegnerin habe es daher der Einspruchsabteilung nicht möglich gemacht, klar festzustellen, in welchem Umfang das Streitpatent nun angegriffen werde, da die Einspruchsabteilung naturgemäß nur in einem solchen Umfang überhaupt tätig werden könne.
- Die im Schriftsatz der Beschwerdegegnerin vom 18. April 1989, beim EPA eingegangen am 19. April 1989, enthaltene Aussage, daß die Ansprüche 3 bis 12 jedem Fachmann geläufige technische Lösungen zum Gegenstand hätten, die für sich gesehen keinerlei erfinderischen eigenständigen Gehalt aufwiesen, so daß nach Fortfall der ausdrücklich angegriffenen Ansprüche 1 und 2 auch die Ansprüche 3 bis 12 das gleiche Schicksal teilen müßten, da sie zur Lösung der gestellten Aufgabe für sich gesehen nichts beitrügen, stelle keine hinreichende Begründung dar.
- Die Vorschrift der Regel 55 c) EPÜ sei kein Formalismus mit deklaratorischem Inhalt. Dies werde schon durch die scharfe Sanktion in Regel 56 (1) EPÜ deutlich.
- Die Einspruchsschrift müsse nach Regel 55 c) EPÜ auch eine Erklärung darüber enthalten, auf welche Einspruchsgründe der Einspruch gestützt werde; ferner seien die zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel anzugeben. Nach wohl herrschender Meinung sei dies so zu verstehen, daß die technischen Zusammenhänge und die daraus von dem Einsprechenden bezogenen Folgerungen in der Weise darzulegen und die Begründung so abzufassen seien, daß der Patentinhaber und die Einspruchsabteilung den behaupteten Widerrufsgrund ohne eigene Ermittlungen abschließend prüfen könnten. Diesen Anforderungen sei aber die Beschwerdegegnerin zu keinem der rückbezogenen Ansprüche 2 bis 12 gerecht geworden.
- Wenn mit einem Einspruch ein europäisches Patent angegriffen werde, das beispielsweise nur einen unabhängigen Patentanspruch sowie mehrere rückbezogene Ansprüche umfasse, und es werde mit dem Einspruch beantragt, dieses Patent "im Umfang des Anspruchs 1" zu widerrufen, so bedeute dies im Gegensatz zur offensichtlich vorhandenen Ansicht der Beschwerdegegnerin und der Einspruchsabteilung nicht, daß dies einem Widerruf in vollem Umfange gleichkomme. Für einen Widerruf der rückbezogenen Ansprüche sei bei diesem Sachverhalt kein Raum, weil ein solcher Widerruf nicht beantragt worden sei und die Einspruchsabteilung sich nur im Rahmen der gestellten Anträge mit ihrer Entscheidung bewegen dürfe (vgl. T 9/87; ABl. EPA 1989, 438).
- In Abschnitt 4, letzter Absatz, der angefochtenen Zwischenentscheidung stelle die Einspruchsabteilung fest, daß nach Wegfall des Anspruchs 1 auch die darauf rückbezogenen Ansprüche 2 bis 12 fallen würden, weil für sie keine eigenständige, patentbegründende Bedeutung erkennbar und auch nicht geltend gemacht worden sei. Die Einspruchsabteilung nehme damit die sachliche Würdigung der Ansprüche 2 bis 12 vorweg und komme aufgrund dieser sachlichen Würdigung dann zu dem Ergebnis, daß der erhobene Einspruch zulässig sein müsse. Hier liege jedoch eindeutig eine Vermengung zwischen den Kriterien "Zulässigkeit" und "Begründetheit" vor. Aufgrund dieses offensichtlichen Verfahrensfehlers sei der Antrag auf Rückerstattung der Beschwerdegebühr gerechtfertigt.
III. Die Beschwerdegegnerin widersprach der in der Beschwerdebegründung zum Ausdruck kommenden Auffassung, daß sie es versäumt habe, klar anzugeben, in welchem Umfang gegen das Streitpatent Einspruch eingelegt werden sollte. Es sei nicht erkennbar, daß abhängige Ansprüche einen eigenen erfinderischen Gehalt, losgelöst vom Anspruch 1, aufwiesen, da alle abhängigen Ansprüche unmittelbar oder mittelbar auf Anspruch 1 zurückbezogen seien. Die Beschwerdegegnerin machte ferner geltend, daß sie nicht nur gegen den Anspruch 1 argumentiert habe, sondern auch gegen den Anspruch 2, nicht zuletzt, weil einige der Rückbeziehungen ausdrücklich auch auf Anspruch 2 gerichtet seien, wie beispielsweise die Ansprüche 4 und 11. Schließlich wies die Beschwerdegegnerin darauf hin, daß in der von den Beschwerdeführern zitierten Entscheidung T 9/87 (oben Abschnitt II) der Angriff sich auf drei unabhängige Ansprüche bezog. Derartige unabhängige Ansprüche gebe es aber im hier angegriffenen Streitpatent nicht.
IV. Mit Schreiben vom 10. Mai 1991 nahmen die Beschwerdeführer zu den Ausführungen der Beschwerdegegnerin Stellung. Sie stellten in Abrede, daß die in Entscheidung T 9/87 (oben Abschnitt II) angestellten Erwägungen nur im Zusammenhang mit mehreren unabhängigen Ansprüchen gelten.
V. Mit Bescheid gemäß Artikel 110 (2) EPÜ vom 5. August 1993 hat die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Auffassung mitgeteilt, daß die Aussage, die den von der Beschwerdegegnerin während der Einspruchsfrist abgegebenen Erklärungen über den Umfang des Einspruchs insgesamt zu entnehmen sei, den Erfordernissen der Regel 55 c) EPÜ genügen dürfte.
VI. In ihrer Stellungnahme zum Bescheid der Kammer, eingegangen am 14. August 1993, führten die Beschwerdeführer unter anderem folgendes aus:
- Es sei zwar zutreffend, daß die Beschwerdegegnerin zunächst Einspruch "im gesamten Umfang" eingelegt habe, diese klare Aussage sei von ihr jedoch später innerhalb der laufenden Einspruchsfrist wieder relativiert worden.
- Es komme nicht darauf an, ob bei einem erfolgreichen, isolierten Angriff auf den unabhängigen Anspruch 1 die Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Form gehindert sei. Da das EPÜ ausdrücklich einen Einspruch zulasse, der nur auf einen Teil des erteilten Patents gerichtet sei, ergebe sich daraus notwendig die Rechtsfolge, daß bei einem erfolgreichen eingeschränkten Einspruch auch nur ein Teilwiderruf erfolgen könne.
- Die gerügten Unrichtigkeiten seien im Ermessen der Kammer gemäß Regel 89 EPÜ zu berichtigen.
VII. Die Beschwerdeführer stellen folgende Anträge:
1. Die angefochtene Entscheidung aufzuheben;
2. den eingelegten Einspruch als unzulässig zu verwerfen;
3. die entrichtete Beschwerdegebühr in Höhe von DEM 680.-- zurückzuerstatten.
Die Beschwerdegegnerin beantragt sinngemäß die Zurückweisung der Beschwerde.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die angefochtene Zwischenentscheidung beruht nicht auf der Tatsache, daß nur einer der beiden Inhaber des Streitpatents im Verfahren vor der Einspruchsabteilung erwähnt worden ist. Folglich handelt es sich bei diesem Mangel nicht um einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ, der die Aufhebung der angefochtenen Zwischenentscheidung rechtfertigen würde.
3. Da ferner eine falsche Auslegung rechtserheblicher Tatsachen und Sachverhalte grundsätzlich auch keinen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ darstellt, sind die übrigen von den Beschwerdeführern geltend gemachten Unrichtigkeiten in der angefochtenen Zwischenentscheidung ebenfalls nicht geeignet, deren Aufhebung zu rechtfertigen.
4. Der Einspruch entspricht den Erfordernissen der Regel 55 c) EPÜ. Dazu ist im einzelnen folgendes auszuführen:
4.1. Entgegen der Meinung der Beschwerdeführer ist den unterschiedlichen Erklärungen der Beschwerdegegnerin über den Umfang des Einspruchs - insgesamt und objektiv betrachtet - eine eindeutige Aussage des Inhalts zu entnehmen, daß grundsätzlich in gesamtem Umfang gegen das Streitpatent in der erteilten Form Einspruch eingelegt wird. Da jedoch die Ansprüche 3 bis 12 nach Auffassung der Beschwerdegegnerin technische Lösungen zum Inhalt haben, die jedem Fachmann geläufig sind und daher für sich gesehen keinerlei eigenständigen erfinderischen Gehalt aufweisen, so daß nach Fortfall der ausdrücklich angegriffenen Ansprüche 1 und 2 auch die Ansprüche 3 bis 12. das gleiche Schicksal teilen müssen, verzichtet die Beschwerdegegnerin auf einen speziellen Angriff auf die Ansprüche 3 bis 12.
4.2. Die fehlende Patentfähigkeit des Gegenstands des einzigen unabhängigen Anspruchs 1 würde bereits zum vollumfänglichen Widerruf des Streitpatents in der erteilten Form führen (Artikel 102 (1) EPÜ); und der Eintritt dieser Rechtsfolge könnte nur durch Änderungen gemäß Artikel 102 (3) EPÜ verhindert werden. Aus dem Vorhandensein einer ausführlichen Begründung des Einspruchs (Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel) nur bezüglich des erteilten Anspruchs 1 kann daher nicht geschlossen werden, die Beschwerdegegnerin wolle nur diesen Teil des Streitpatents angreifen (siehe auch Aufsatz von B. Günzel: "Die Anforderungen an die Begründung eines zulässigen Einspruchs beim Europäischen Patentamt, Praxis des Amtes und Rechtsprechung der Beschwerdekammern" in Mitteilungen der deutschen Patentanwälte 1992, Heft 7/8/92, Seite 203). Der Einwand der Beschwerdeführer, daß bei einem derartigen Sachverhalt für einen Widerruf der rückbezogenen Ansprüche kein Raum sei, weil ein solcher Widerruf nicht beantragt worden sei, kann daher nicht durchgreifen.
4.3. Aus den Einspruchsschriftsätzen der Beschwerdegegnerin geht zumindest implizit hervor, daß sie die Auffassung vertritt, daß die Gegenstände der Ansprüche 1 bis 12 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen (Artikel 56 EPÜ). Der Einspruch ist mithin auf den Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 a) EPÜ gestützt.
5. Gemäß Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 9/91 "Prüfungsbefugnis/ROHM AND HAAS" (ABl. EPA 1993, 408), die für die Rechtsprechung des EPA maßgebend ist, können Ansprüche, die von einem im Einspruchsverfahren vernichteten unabhängigen Anspruch abhängig sind, auch dann auf die Patentierbarkeit ihres Gegenstands geprüft werden, wenn dieser nicht ausdrücklich angefochten worden ist, sofern ihre Gültigkeit durch das bereits vorliegende Informationsmaterial prima facie in Frage gestellt wird. Die von den Beschwerdeführern vertretene Auffassung, daß sich eine Einspruchsabteilung mit ihrer Entscheidung nur im Rahmen der gestellten Anträge bewegen dürfe, ist demzufolge nur bedingt zutreffend.
6. Da der Einspruch auch den übrigen im EPÜ statuierten Erfordernissen der Zulässigkeit genügt, ist die (gesonderte) Beschwerde zurückzuweisen. Aus diesem Grunde ist Regel 67 EPÜ nicht anwendbar, weil die Rückzahlung der Beschwerdegebühr eine Beschwerde, der von der Beschwerdekammer stattgegeben wird, voraussetzt. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr ist deshalb ebenfalls zurückzuweisen.
7. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen. Der Berichtigungs- antrag nach Regel 89 EPÜ kann im weiteren Verfahren vor der Einspruchsabteilung gestellt werden.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.
3. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird zurückgewiesen.