T 1008/95 19-10-1999
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Stranggießverfahren für die Erzeugung von Brammen mit einer gegenüber dem Gußzustand verringerten Dicke
I: Voest - Alpine Industrieanlagenbau GmbH
II: SMS Schloemann-Siemag AG
III: Siemens AG
Erfinderische Tätigkeit - unzulässige Ex-post-facto-Analyse
Inventive step (yes) - inadmissible ex-post-facto-analysis
I. In der mündlichen Verhandlung vom 17. Mai 1995 hat die Einspruchsabteilung das europäische Patent Nr. 0 350 431 in geändertem Umfang aufrechterhalten, wobei die schriftliche Entscheidung am 15. November 1995 erging.
II. Gegen vorgenannte Entscheidung haben die Einsprechenden I bis III - nachfolgend Beschwerdeführerinnen I bis III - am 20. Dezember 1995 bzw. 10. Januar 1996 bzw. 15. Januar 1996 unter gleichzeitiger Zahlung der Gebühr jeweils Beschwerde eingelegt und diese am 27. Januar 1996 bzw. 13. März 1996 bzw. 15. März 1996 begründet.
III. In der nach vorbereitender Mitteilung der Kammer am 19. Oktober 1999 durchgeführten mündlichen Verhandlung legte die Patentinhaberin - nachfolgend Beschwerdegegnerin - neue Ansprüche vor, deren Anspruch 1 nachfolgenden Wortlaut hat:
"1. Stranggießverfahren für die Erzeugung von Brammen mit einer gegenüber dem Gußzustand verringerten Dicke, wobei Stahl in eine Durchlaufkokille (1) gegossen und ein im Querschnitt teilweise erstarrter Strang zwischen Rollenpaaren (9, 9'; 12, 12') geführt, mittels angetriebener Rollen (5; 8) abgezogen und einzelne Rollen (9, 12, 15, 18) von Rollenpaaren hydraulisch, gegenüber dem Strang verformend wirkend anstellbar sind, ¨ dadurch gekennzeichnet, daß zur Herstellung eines Produktes mit hohem Anteil an Walzgefüge, das coilfähig ist, die Drehzahl, die Stromaufnahme der angetriebenen Rollen und der Anpreßdruck der Rollen erfaßt und je einem Regler (10, 10', 13, 13', 17, 19, 19') zugeführt wird,
daß jeder die Drehzahl einzelner angetriebener Rollen bestimmende Regler über einen übergeordneten Regler (20) derart einstellbar ist, daß durch mindestens ein, gegen Anschläge anstellbares, die Dicke des Stranges bestimmendes, auf einen bereits durcherstarrten Teil des Stranges verformend einwirkendes Rollenpaar (15, 15', 18, 18') das Endmaß und die Abzugsgeschwindigkeit des Stranges bestimmt wird und vorgeordnete und nachgeordnete Rollen in der Drehzahl und der Stromaufnahme ihrer Antriebe in Abhängigkeit von der durch die Anschläge anstellbaren Rollen erzeugten Formänderung des Stranges eingestellt werden, wobei aus den Meßwerten Stromaufnahme, Reaktionskraft des Stranges und Rollenabstand die Lage der Sumpfspitze (Ende der Erstarrungsstrecke) ermittelt und die Anpreßdrücke der anstellbaren Rollen derart eingestellt werden, daß die Sumpfspitze vor wenigstens einem gegen Anschläge auf einen vorbestimmten Abstand einstellbaren Rollenpaar liegt."
IV. Die Argumente der Beschwerdeführerinnen I und III sowie der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Beschwerdeführerin I:
- über die von der Kammer diskutierte Entscheidung T 0176/84 hinaus sei bezüglich des Fachmannes auch noch auf die Entscheidungen T 0032/81 und T 0422/93 zu verweisen, wonach der hier zu unterstellende Fachmann sich über das Gebiet des Gießens hinaus auch auf dem Gebiet des Walzens kundig machen würde, dergestalt, daß er in naheliegender Weise (E1) und (E3) in Kombination berücksichtigen würde;
- auch bei (E3) liege ursprünglich ein Gußgefüge vor, welches in wiederholten Walzstichen in ein Walzgefüge umgewandelt werde; mit Blick auf (E1) sei zu berücksichtigen, daß auch sie einen Regler "14" offenbare, der die Parameter Stahlsorte, Kühlrate, Temperatur und Gießgeschwindigkeit erfasse und gleichermaßen wie der beanspruchte Regler (20) wirksam werde;
- es komme hinzu, daß bei (E1) ebenfalls zwei Bereiche vorlägen, nämlich vor der Sumpfspitze mit wenig Verformung bzw. nach der Sumpfspitze mit viel Verformung; durch mehrfaches Walzen liege es ohne weiteres im Griffbereich des Fachmannes eine Walzgutdicke zu erzielen, die ein Coilen erlaube;
- zusammenfassend definiere Anspruch 1 kein Stranggießverfahren, das auf erfinderischem Tätigwerden des hier vorauszusetzenden Fachmannes beruhe, so daß der Widerruf des Patentes zu beschließen sei.
b) Beschwerdeführerin III:
- der Fachmann sei in vorliegendem Falle der Metallurge, dem sowohl das Gießen als auch das Walzen von Metall vertraut sei; mit Blick auf ein "coilfähiges" Produkt gemäß Anspruch 1 sei festzuhalten, daß Walzgefüge als Synonym für "coilfähig" anzusehen sei;
- die Neuheit des Verfahrens nach Anspruch 1 sei gegeben, nicht aber dessen erfinderische Eigenart; (E1) lehre bereits das Erfassen und Konstanthalten einer Sumpfspitze beim Stranggießen von Metall, indem die einzelnen Rollen gezielt angesteuert würden;
- nach der Sumpfspitze liege definitionsgemäß nur erstarrtes Material vor, so daß ein Walzen in diesem stromabwärtigen Strangbereich notwendigerweise zu Walzgefüge führe; dieses sei bekanntermaßen coilfähig;
- da der Fachmann die Regelung von (E3) ohne weiteres auf das Verfahren nach (E1) übertragen könne, fehle dem Verfahren nach Anspruch 1 eine patentbegründende erfinderische Tätigkeit, zumal das Adjektiv "coilfähig" nicht nur eine bestimmte Walzgut-Dicke, sondern auch ein geeignetes Gefüge impliziere und (E1) bereits das Walzen vor und nach der Sumpfspitze lehre, vgl. Abschnitt "Purpose";
- vorstehende Überlegungen zusammenfassend sei das Patent mangels erfinderischer Tätigkeit des Beanspruchten gemäß Anspruch 1 zu widerrufen.
c) Beschwerdegegnerin:
- zunächst sei zu beachten, daß Walzgefüge noch nichts über die Coilfähigkeit aussage, da dies vor allem eine Frage der Endwalzdicke sei; das Streitpatent sei auf endabmessungsnahes Gießen/Walzen abgestellt, d. h. auf Dünnbrammen;
- sowohl (E1) als auch (E5) liegen von ihren Veröffentlichungsdaten her Jahre vor der Einführung der Dünnbrammentechnologie; was ihnen entnehmbar sei, sei das Ermitteln und Regeln der Sumpfspitze, in deren Bereich nur wenig verformt werde, vgl. vor allem (E5);
- demnach dürfe in (E1) bzw. (E5) nicht hineininterpretiert werden, daß die zur Sumpfspitze stromabseitigen Walzen/Rollen etwas anderes bezweckten als eine Transportfunktion der Dünnbramme bzw. des Walzbandes;
- (E3) sei nur von begrenzter Relevanz, obwohl sie regelungstechnisch Übereinstimmungen mit dem Gegenstand gemäß Anspruch 1 zeige, aber gemäß ihrem Anspruch 1, vgl. Kennzeichenteil, die "rückgekoppelten" Parameter nicht dem laufenden, sondern dem darauf folgenden Walzband zugute kämen; das falle aber nicht unter die Anweisung gemäß geltendem Anspruch 1;
- das Verfahren nach Anspruch 1 basiere auf dem gezielten Ermitteln der Sumpfspitze und deren Einhaltung dergestalt, daß vor und nach ihr verformt werde, und zwar durch Regelung von der Abzugsgeschwindigkeit des Stranges her;
- ein Regeln der Rollen/Walzen über die Sumpfspitze hinweg, fehle im gesamten hier zu berücksichtigenden Stand der Technik, so daß dieser weder einzeln noch in Kombination einen direkten Weg zum Beanspruchten eröffne;
- bei diesen Gegebenheiten sei es irrelevant, wenn z. B. aus (E4) gegen Anschläge gedrückte Walzen bekannt seien, da bei Anspruch 1 die Gesamtkombination seiner Merkmale zu berücksichtigen sei.
V. Die Beschwerdeführerin II hatte mit Schriftsatz vom 19. August 1999 ihren Einspruch zugrundegenommen.
VI. Die Beschwerdeführerinnen I und III stellten den Antrag, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin stellte den Antrag, die Beschwerde mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß der Aufrechterhaltung des Patents die in der mündlichen Verhandlung vom 19. Oktober 1999 überreichten Patentansprüche 1 bis 4 sowie der ebenfalls überreichten Beschreibung und den Figuren 1 bis 3 wie erteilt zugrundegelegt werden.
1. Die Beschwerden der Beschwerdeführerinnen I und III sind zulässig.
2. Die Beschwerdeführerin II hat am 23. August 1999 ihren Einspruch zurückgenommen. Gemäß Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 0008/93, ABl. EPA 1994, 887, ist dies als Rücknahme ihrer Beschwerde zu interpretieren.
3. Neuheit
Die Frage der Neuheit des Verfahrens gemäß Anspruch 1 war von den Beschwerdeführerinnen I und III zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nicht mehr bestritten worden. Die Kammer ist ebenfalls der Auffassung, daß das beanspruchte Stranggießverfahren neu ist. Es erübrigen sich bei dieser Sachlage ins Detail gehende Ausführungen.
4. Erfinderische Tätigkeit
4.1. Der Ausgangspunkt der Erfindung ist mit (E1) bzw. (E5) gegeben, die jeweils das Stranggießen von Metall betreffen, dergestalt, daß die Sumpfspitze - das ist der Punkt, ab dem das flüssige Metall im Stranginneren erstarrt - ermittelt und regelungstechnisch in ihrer Lage gehalten wird. Beide Druckschriften zeigen Walzenpaare, die stromabwärts zur Sumpfspitze angeordnet sind, vgl. (E1) Walzenpaare "5, 6" in ihrer Figur 1 bzw. (E5) Walzenpaare der Figur 1, die rechts von der Sumpfspitze angeordnet sind.
4.2. Die Funktion der stromabwärts der Sumpfspitze angeordneten Walzenpaare war zentraler Punkt der Diskussion in der mündlichen Verhandlung. Die Kammer gelangte dabei zu der Auffassung, daß die in Rede stehenden Walzenpaare nicht an der Strangverformung teilnehmen, sondern Transportfunktion übernehmen.
4.3. (E1), vgl. Abschnitt "Purpose" und drittletzte Zeile des Abschnitts "Constitution", offenbart einerseits "pressing at the solidified end position by a prescribed rolling reduction force" und andererseits "by the prescribed reduction force near the solidified end position". Aus dem Gesamtzusammenhang heraus ist (E1) aber so auszulegen, daß nur im Bereich der Sumpfspitze verformt wird und nicht stromabwärts davon, so daß die Rollenpaare "5, 6" gemäß Figur 1 von (E1) lediglich Transportaufgaben am Strang übernehmen.
In (E5) sind die stromabwärtigen Rollenpaare "6" ohnehin als "Transportrollen(paare)" tituliert, vgl. z. B. Seite 7, Absatz 3, so daß daraus klar ist, welche Funktion sie haben.
4.4. Den Ausgangspunkt der Erfindung zusammenfassend, ergibt sich folgendes Bild: Es ist bekannt beim Stranggießen die Sumpfspitze zu erfassen und zu regeln; es wird lediglich im Bereich der Sumpfspitze verformend auf den Strang eingewirkt.
4.5. Davon ausgehend liegt der Erfindung die Aufgabe zugrunde, vgl. auch EP-B1-0 350 431, Seite 2, Zeilen 18 bis 20 (die unverändert blieb), ein Verfahren anzugeben, mit dem bereits mit der Stranggießanlage ein Produkt mit hohem Anteil (80 %) an Walzgefüge zur Verfügung gestellt wird, das mit der die Gießanlage verlassender Dickenabmessung coilfähig ist.
4.6. Die Lösung dieser Aufgabe ist Inhalt des Anspruchs 1, nämlich dadurch, daß jeder angetriebenen Rolle ein Regler zugeordnet ist, der auf die Parameter Drehzahl, Anpreßdruck und Stromaufnahme der Rollenantriebe auf Sollwerte hin regelt. Einem übergeordneten Regler ist als Istwert die Sumpfspitze bekannt; er stellt die Rollenpaare so an und die Stranggeschwindigkeit so ein, daß die Sumpfspitze vor wenigstens einem gegen Anschläge auf einen vorbestimmten Abstand einstellbaren Rollenpaar liegt. Es liegt mithin ein abhängiges Steuern von einem nach der Sumpfspitze angeordneten Rollenpaar vor, so daß sowohl vor als auch nach der Sumpfspitze angeordnete Rollenpaare geregelt werden.
Bezogen auf die erteilte Figur 2 wird auf das laufende Produkt eingewirkt und zwar vom Rollenpaar "15, 15'" aus auf den übergeordneten Regler "20", der wiederum die Rollen-Drehzahlen und die Anstelldrücke der (oberen) Rollen vorgibt und zwar über die Sumpfspitze hinweg stromaufwärts.
4.7. Dem hier zu berücksichtigenden Stand der Technik ist eine derartige Lehre fremd, da keine Druckschrift im Verfahren ist, die ein Regeln über die Sumpfspitze hinweg stromaufwärts zeigt oder nahelegt. Dies ist ein eindeutiger Beleg dafür, daß es erfinderischen Zutuns bedurfte, um von (E1) bzw. (E5) ausgehend, den Gegenstand von Anspruch 1 zu erzielen.
4.8. Mit Blick auf (E3), vgl. deren Anspruch 1 letztes Kennzeichenmerkmal, wird deutlich, daß die dortige Regeleinrichtung nicht auf das laufende Produkt, sondern auf das nächste zu walzende Produkt ausstrahlt. Damit verfolgt (E3) eine Regelphilosophie, die mit der Lehre gemäß Anspruch 1 nichts zu tun hat, ganz abgesehen davon, daß (E3) eine Sumpfspitze fremd ist.
Von daher fehlen die technologischen Voraussetzungen, die das Stranggießverfahren nach Anspruch 1 bestimmen.
4.9. Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit steht mithin nicht der Fachmann im Vordergrund - ob dieser das Gießen und das Walzen von Metall in seine Überlegungen einbezieht - vielmehr ist zu berücksichtigen, daß selbst die Fiktion, daß ein Fachmann auf (E3) zurückgreifen würde, dieser nicht auf das Verfahren von Anspruch 1 hingelenkt würde. Bei Fehlen der technologischen Randbedingungen, nämlich endabmessungsnahes Gießen und Walzen eines Metallstranges bis hin zu seiner Coilbarkeit sind alle Überlegungen und Definitionen des hier zu unterstellenden Fachmannes ohne Basis, so daß auch die von der Beschwerdeführerin I zusätzlich benannten Entscheidungen nicht weiterhelfen.
4.10. Da Anspruch 1 ganz klar auf eine Kombination von Merkmalen abgestellt ist, ist es irrelevant, wenn Einzelmerkmale dieser Kombination als bekannt nachweisbar sind, z. B. ein gegen Anschlag tätig werdendes Rollenpaar mit Blick auf (E4). Im Bezug auf (E3) ist bei Fehlen des technologischen Hintergrundes ohnehin kein Grund erkennbar, warum der Fachmann Regelungsmerkmale aus dem in (E3) angesprochenen Zusammenhang reißen und auf (E1/E5) übertragen sollte. Eine derartige Unterstellung setzt die Kenntnis der Erfindung voraus und ergibt sich nicht aus den Umständen des hier vorliegenden Einzelfalles. Die Brücke zwischen (E1/E5) und (E3) ist im Gegensatz zum Vorbringen der Beschwerdeführerin I auch nicht dadurch herzustellen, daß festgestellt wird, daß auch bei (E3) ein Guß- in ein Walzgefüge umgewandelt werde. Diese Feststellung ist per se nicht widerlegbar, bleibt aber weit hinter der Problemstellung des Streitpatents zurück, vgl. vorstehenden Abschnitt 4.5. Die weitere Feststellung der Beschwerdeführerin I , wonach auch bei (E1) Verformungsbereiche vor und nach der Sumpfspitze vorlägen, ist sachlich nicht haltbar, vgl. Ausführungen in den Abschnitten 4.1 bis 4.4.
4.11. Die Tatsache, daß Anspruch 1 ein Stranggießverfahren definiert, das auf einer Regelphilosophie beruht, die im Stand der Technik ohne Vorbild ist, macht auch die Diskussion über die Voraussetzungen der Coilbarkeit des Walzbandes hinfällig, weil es hierauf im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Artikel 100 a) und 56 EPÜ nicht mehr ankommt.
4.12. Vorstehende Ausführungen zusammenfassend ergibt sich, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 auch auf erfinderischer Tätigkeit beruht und in Kombination mit den abhängigen Ansprüchen 2 bis 4, der angepaßten Beschreibung und den erteilten Figuren den Rechtsbestand des Patents in seiner geltenden geänderten Fassung zu sichern vermag.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in geändertem Umfang mit den in der mündlichen Verhandlung überreichten Patentansprüchen 1 bis 4, der ebenfalls überreichten Beschreibung und den Figuren 1 bis 3 wie erteilt aufrechtzuerhalten.