3.4. Neue Einspruchsgründe
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 135/01 gelangte die Kammer zu der Auffassung, dass mit der bloßen Aussage eines Beteiligten oder der Einspruchsabteilung im Verlauf eines Einspruchsverfahrens, der Gegenstand eines Anspruchs sei gegenüber dem Stand der Technik neu, nicht der Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit eingeführt wird. Die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit beginnt nämlich im Allgemeinen mit einer Neuheitsprüfung, die die Feststellung impliziert, dass der Anspruchsgegenstand neu ist. Würde eine solche routinemäßige Neuheitsbestätigung als Einführung des Einspruchsgrunds der mangelnden Neuheit behandelt, so würde dieser damit zu einer den Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit begleitenden Konstanten gemacht, was der Entscheidung G 7/95 (ABl. 1996, 626 – s. dieses Kapitel IV.C.3.4.1) zuwiderliefe.
In dem Fall, in dem gegen ein Patent wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit Einspruch eingelegt wurde und nur der Einwand der mangelnden Neuheit begründet worden ist, ist eine gesonderte Begründung des Einwands der mangelnden erfinderischen Tätigkeit nicht erforderlich. Eine gesonderte Begründung des Einwands der mangelnden erfinderischen Tätigkeit ist überhaupt nicht möglich, denn die Untersuchung der erfinderischen Tätigkeit gegenüber einem Dokument des Stands der Technik setzt Neuheit voraus, d. h. einen Unterschied zwischen der beanspruchten Erfindung und diesem Stand der Technik, und dies würde der Begründung der mangelnden Neuheit widersprechen. Der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit stellt somit keinen neuen Einspruchsgrund dar und kann im Beschwerdeverfahren ohne das Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden (T 597/07; s. auch T 131/01, ABl. 2003, 115).
In T 635/06 hatte der Einsprechende den Einwand mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit gegen das Streitpatent erhoben, indem er die betreffenden Kästchen auf dem EPA-Standardformblatt angekreuzt und in der Einspruchsschrift beide Gründe ausdrücklich genannt hatte. Aufgrund der Konstellation im vorliegenden Fall konnte er seinen Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit jedoch nicht in einer Form substantiieren, die über seine Argumente zur Stützung des Neuheitseinwands hinausging. Er musste sich somit auf das Vorbringen beschränken, dass ein Vergleich des offenbarten Stoffgemischs und des beanspruchten Gegenstands kein Unterscheidungsmerkmal erkennen lasse, das aber seinerseits Voraussetzung für einen detaillierten Einwand gegen die erfinderische Tätigkeit wäre. Die Kammer erachtete den Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit daher für ausreichend behandelt und in der Einspruchsschrift ordnungsgemäß vorgebracht.
In T 620/08 war der Einspruch ursprünglich einzig und allein auf den Grund mangelnder erfinderischer Tätigkeit gestützt worden, doch reichte der Einsprechende im Laufe des Einspruchsverfahrens Dokumente und Vorbringen ein, wonach der Gegenstand des Streitpatents außerdem nicht neu sei. In ihrer Entscheidung legte die Einspruchsabteilung ausführlich die Gründe dar, aus denen sie den Gegenstand des Streitpatents gegenüber diesen Dokumenten für neu hielt und entschied daraufhin, den verspäteten Einspruchsgrund nicht zuzulassen. Vor der Beschwerdekammer machte der Patentinhaber geltend, beim Einwand mangelnder Neuheit, der von der Einspruchsabteilung nicht zum Verfahren zugelassen worden sei, handle es sich somit um einen neuen Einspruchsgrund, der ohne sein Einverständnis nicht in das Verfahren eingeführt werden könne. Mit Verweis auf T 986/93 (ABl. 1993, 215) stellte die Kammer fest, dass der Begriff "neuer Einspruchsgrund" laut G 10/91 einen erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Grund bezeichnet. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall. Des Weiteren sei eine Beschwerdekammer nicht daran gehindert, einen von der Einspruchsabteilung nicht berücksichtigten verspäteten Einspruchsgrund in Betracht zu ziehen, wenn sie der Auffassung sei, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen diesbezüglich fehlerhaft ausgeübt habe.