T 0798/05 (Neuer Einspruchsgrund, rechtliches Gehör) 30-07-2007
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Eisenaluminidbeschichtung und Verfahren zum Aufbringen einer Eisenaluminidbeschichtung
I. Die am 23. Juni 2005 unter gleichzeitiger Zahlung der vorgeschriebenen Gebühr eingegangene und am gleichen Tag begründete Beschwerde der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 9. Juni 2005, mit welcher der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. EP 0 922 781 zurückgewiesen wurde (Artikel 102 (2) EPÜ).
II. Als Einspruchsgründe waren in der Einspruchschrift zunächst Gründe nach Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) genannt worden. Mit ihrer am 8. April 2005, d.h. nach Ablauf der Einspruchsfrist, per Fax eingegangenen Eingabe machte die Beschwerdeführerin darüber hinaus als weiteren Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ geltend, das Patent offenbare die Erfindung nicht so deutlich und vollständig, daß ein Fachmann sie ausführen könne. Dieser letztere Grund wurde im Verfahren von der Einspruchsabteilung jedoch nicht berücksichtigt.
III. In ihrer Beschwerdebegründung trägt die Beschwerdeführerin vor, im Einspruchsverfahren sei sowohl ihr Anspruch auf rechtliches Gehör als auch das Gebot der Ermittlung von Amts wegen nicht beachtet worden. So habe die Einsprechende per Fax am 8. April 2005 ein Schreiben an das Europäische Patentamt und gleichzeitig an die Patentinhaberin übermittelt, in welchem der neue Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit vorgebracht wurde. Zur Stützung des neuen Einspruchsgrunds sei als Beweismittel auf ein Handbuch (D40: Gmelin) zur Dokumentierung des Wissens des auf dem Gebiet von Eisen- und Aluminiumlegierungen bewanderten Fachmanns hingewiesen worden. Da der neue Einspruchsgrund und das zugehörige Beweismittel 11 Tage vor der mündlichen Verhandlung eingereicht worden seien, hätten die Einspruchsabteilung und auch die Patentinhaberin ausreichend Zeit und Gelegenheit zum Studium der neuen Unterlagen gehabt.
Die Einspruchsabteilung habe jedoch keine Relevanzprüfung des neuen Einspruchsgrundes der mangelnden Ausführbarkeit vorgenommen und somit entgegen den Erfordernissen von Artikel 114 (1) EPÜ gehandelt. Im Übrigen sei die Relevanz des neuen Einspruchsgrunds entsprechend der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 10/91 auch prima facie ersichtlich. Ein kurzes Betrachten der Figur 382 von D40 hätte genügt, um zu erkennen, daß im beanspruchten Legierungsbereich keine Aluminidbeschichtung vorliegen könne und somit die angebliche Erfindung nicht ausführbar sei.
Während der mündlichen Verhandlung am 19. April 2005 habe die Einspruchsabteilung den neuen Einspruchsgrund rigoros abgelehnt, ohne der Einsprechenden die Gelegenheit einzuräumen, sich dazu auch nur kurz äußern zu können. Somit liege ein Verstoß gegen Artikel 113 und 114 EPÜ vor.
IV. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) trägt dazu vor, unter der Einhaltung von Regel 71a EPÜ hätte der mit dem Schriftsatz vom 8. April 2005 vorgebrachten neuen Einspruchsgrund sowie die zugleich eingereichten Druckschriften D35 bis D40 bis spätestens zum 17. Dezember 2004 eingereicht werden müssen. Nach Artikel 114 (2) EPÜ brauche das EPA von den Beteiligten verspätet vorgebracht Tatsachen und Beweismittel nicht zu berücksichtigen. Dies gelte auch für verspätet vorgebrachte Einspruchsgründe und die in diesem Zusammenhang vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel. Diese seien nur dann zu berücksichtigen, wenn sie prima facie relevant seien.
Nachdem dies jedoch nicht der Fall sei, habe die Einspruchsabteilung den neuen Einspruchsgrund zu Recht nicht ins Verfahren eingeführt. Wie aus der angefochtenen Entscheidung hervorgehe (siehe II. Gründe der Entscheidung, Punkt 2.5), habe die Einspruchsabteilung auch eine Relevanzprüfung der verspätet eingereichten Druckschriften durchgeführt. Dies gelte analog auch für den neuen Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit der Erfindung. Auch bilde Druckschrift D40 (Gmelins Handbuch) aus dem Jahr 1939 nicht den aktuellen Stand der Technik. Neuere Forschungsergebnisse aus den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts belegten den Einfluss verschiedener im Patent genannter Elemente auf die Eisenaluminid-Struktur Fe3Al, welche aus Figur 382 von D40 nicht einmal andeutungsweise zu entnehmen sei. Im Übrigen enthalte die Patentschrift unter Abschnitt [0020] ein Ausführungsbeispiel, bei dem die darin beschriebene Wärmebehandlung mit langsamer Ofenabkühlung zur Ausbildung der geordneten Eisenaluminid-Phase beitrage. Der Einwand der mangelnden Ausführbarkeit sei deshalb unbegründet.
V. Anträge
Die Beschwerdeführerin beantragt deshalb, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Sollte sich die Kammer dem Vorbringen der Einsprechenden nicht anschließen können, so wurde hilfsweise die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
Die Beschwerdegegnerin beantragt, das Patent aufrechtzuerhalten und die Beschwerde zurückzuweisen.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die Beschwerdeführerin hat erst nach dem Ablauf der Einspruchsfrist und auch nach Ablauf der in der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung gemäß Regel 71a EPÜ gesetzten Frist den neuen Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit der Erfindung nach Artikel 100 b) EPÜ vorgebracht. Somit ist der neue Einspruchsgrund verspätet geltend gemacht worden.
3. Die Beschwerdeführerin macht eine schwerwiegende Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Artikel 113 (1) EPÜ geltend. Die Verletzung bestehe darin, dass die Einspruchsabteilung es abgelehnt habe, den Einwand nach Artikel 83 EPÜ ins Verfahren einzuführen ohne ihn mit den Parteien zu erörtern und ohne zu prüfen, ob dieser Einwand entscheidungswesentlich sein könnte.
4. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Einspruchsabteilung zur Prüfung des neuen, verspätet vorgebrachten Einspruchsgrunds und zu dessen Erörterung mit den Parteien verpflichtet gewesen wäre.
5. Die Kammer stellt dazu fest, daß ein verspätet vorgebrachter Einspruchsgrund nicht schon allein wegen der Verspätung vom Verfahren ausgeschlossen ist.
Das Europäische Patentamt ist nach Artikel 114 (1) EPÜ zu einer Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen verpflichtet. Die Grosse Beschwerdekammer hat in den Entscheidungen G 9/91 und G 10/91 (OJ EPO 1993, 408; 420) die Bedeutung dieser Vorschrift für das Einspruchsverfahren bestätigt und die Anwendung des Grundsatzes der Amtsermittlung hinsichtlich eines durch die Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ nicht abgedeckten Einspruchsgrunds geklärt. Beide Entscheidungen führen unter Punkt 16 der Entscheidungsgründe aus, dass eine Einspruchsabteilung in Anwendung des Artikels 114 (1) EPÜ einen Einspruchsgrund entweder von sich aus vorbringen oder einen solchen vom Einsprechenden oder von einem Dritten nach Ablauf der Frist gemäß Artikel 99 (1) EPÜ vorgebrachten Grund prüfen kann, wenn prima facie triftige Gründe dafür sprechen, dass dieser Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des Patents ganz oder teilweise entgegenstehen.
Die Einspruchsabteilung hätte daher zumindest die Frage prüfen müssen, ob prima facie triftige Gründe dafür sprechen, dass der nach Artikel 100 b) EPÜ neu vorgebrachte Grund der mangelnden Ausführbarkeit der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht.
Da Entscheidungen des Europäischen Patentamts nach Artikel 113 (1) EPÜ nur auf Gründe gestützt werden dürfen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten, hätte die Einspruchsabteilung außerdem diese Frage mit den Parteien erörtern müssen.
6. Im vorliegenden Fall findet sich aber weder im Protokoll der mündlichen Verhandlung noch in der Entscheidung der Einspruchsabteilung ein Hinweis darauf, dass eine solche Prüfung und Erörterung mit den Parteien stattgefunden haben.
Da sie sowohl zu den oben ausgeführten Erfordernissen von Artikel 114 (1) als auch zu denen von Artikel 113 (1) EPÜ im Widerspruch steht, stellt diese Verfahrensführung eine Verfahrensverletzung dar.
7. Die Beschwerdegegnerin bestreitet den oben dargestellten Ablauf des Einspruchsverfahrens nicht. Sie vertritt allerdings die Ansicht, die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die ebenfalls verspätet zu anderen Einspruchsgründen vorgelegten Druckschriften (siehe Punkt 2.5 der angefochtenen Entscheidung) abzulehnen, sei so zu verstehen, dass damit analog auch der verspätet vorgebrachten Einspruchsgrund miterfasst werde.
Die Kammer kann sich dieser Argumentation aus den folgenden Gründen nicht anschließen. Die Voraussetzungen für die Zulassung von verspätet vorgebrachten Beweismitteln nach Artikel 114 (2) EPÜ unterscheiden sich von denen, die für verspätet vorgebrachte Gründe gelten. Außerdem können Entscheidungen weder im Wege der Auslegung auf andere Sachverhalte angewandt werden, auf die sie sich nicht beziehen, noch ohne Angabe von Gründen getroffen werden.
Auch das Argument der Beschwerdegegnerin, dass Regel 71a EPÜ eine absolute Sperre für verspätetes Vorbringen darstelle, so dass eine prima facie Prüfung ausgeschlossen sei, kann die Kammer nicht gelten lassen.
Regel 71a EPÜ kann den in Artikel 114 (1) EPÜ verankerten Grundsatz der Amtsermittlung nicht außer Kraft setzen oder einschränken, weil eine Regel der Ausführungsordnung im Rang niedriger ist als ein Artikel des Übereinkommens. Darüber hinaus weist die Kammer darauf hin, dass die Regel 71a EPÜ auch von ihrem Wortlaut her eine solche Auslegung nicht erlaubt, da sie ausdrücklich durch die Anwendung der Ausdrücke "brauchen, need not, peuvent" einen Ermessenspielraum für die Zulassung von verspätetem Vorbringen vorsieht. Regel 71a) EPÜ hat lediglich den Zweck, dem Europäischen Patentamt eine verfahrensleitende Maßnahme zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung zur Verfügung zu stellen.
8. Bei dieser Sachlage hält es die Kammer für geboten, die Sache zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen. Dabei ist zu prüfen und mit den Parteien zu erörtern, ob triftige Gründe dafür sprechen, dass der nach Artikel 100 b) EPÜ neu vorgebrachte Grund der mangelnden Ausführbarkeit der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht und ob die zur Stützung des neuen Einspruchsgrundes vorgelegten Beweismittel zu berücksichtigen sind oder nicht. Die Entscheidung darüber ist so zu begründen, dass es für die Parteien und für die Kammer nachvollziehbar ist, nach welchen Kriterien die Entscheidung getroffen worden ist.
9. Da die Kammer im Wesentlichen dem Vorbringen der Beschwerdeführerin folgt, war die Anberaumung der nur von der Beschwerdeführerin hilfsweise beantragten mündlichen Verhandlung nicht erforderlich.
10. Die vorliegende Verfahrensverletzung ist wesentlich, da sie das Verfahren objektiv beeinträchtigt und sich auf dessen Ausgang ausgewirkt hat. Die Beschwerdegebühr ist daher nach Regel 67 EPÜ zurückzuzahlen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zu weiteren Prüfung an die erste Instanz zurückverwiesen.
3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.