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T 0795/06 (Botulinum-Neurotoxin/MERZ) 18-03-2010
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Therapeutikum mit einem Botulinum-Neurotoxin
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung mit der das Europäische Patent EP 1 185 291 mit der Bezeichnung "Therapeutikum mit einem Botulinum-Neurotoxin" (Anmeldenummer 00 943 666.8; veröffentlicht als WO 2000/074703) gemäß Artikel 102(1) EPÜ 1973 widerrufen wurde.
Ansprüche 8 and 10 der veröffentlichten Anmeldung lauteten:
"8. Verwendung der Botulinum-Neurotoxine von Clostridium botulinum der Typen A, B, C, D, E, F oder G oder eines Gemisches von zwei oder mehr dieser Neurotoxine für die kosmetische Behandlung.
10. Verwendung nach einem der Anspruche 6 bis 9, dadurch gekennzeichnet, dass die mit dem Neurotoxin von Clostridium botulinum bzw. dem Gemisch der Neurotoxine zu behandelnde Person ein Mensch oder Tier ist, der/das bereits neutralisierende Antikörper gegen einen Botulinum-Neurotoxin-Komplex, insbesondere gegen den Komplex von Clostridium botulinum Typ A oder B, oder gegen mehrere Komplexe, insbesondere gegen die Komplexe von Clostridium botulinum Typ A und B, aufweist."
II. Das Patent wurde mit Ansprüchen 1 bis 6 erteilt. Anspruch 1 des erteilten Patents lautete:
"1. Verwendung der Botulinum-Neurotoxine von Clostridium botulinum der Typen A, B, C, D, E, F, oder G oder eines Gemisches von zwei oder mehr dieser Neurotoxine, dadurch gekennzeichnet, daß das Neurotoxin bzw. das Gemisch der Neurotoxine frei ist von den komplexierenden Proteinen, die auf natürlicher Weise Komplexe mit den Botulinum-Neurotoxinen bilden, zur Herstellung eines Pharmazeutikums zur kosmetischen Behandlung oder zur Behandlung von Dystonien oder von Erkrankungen des Nervensystems in tierischen oder menschlichen Patienten, die bereits neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxin Komplexe gebildet haben."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 6 bezogen sich auf bevorzugte Ausführungsformen.
III. Gegen das Patent war von der Einsprechenden (Beschwerdegegnerin) wegen fehlender Neuheit (Artikel 54 EPÜ) und fehlender erfinderischer Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ) gemäß Artikel 100 a) EPÜ Einspruch erhoben worden.
IV. Mit der Beschwerdebegründung vom 16. August 2006 reichte die Beschwerdeführerin, neben dem Antrag das Patent in unveränderter Form aufrechtzuerhalten, dreizehn Hilfsanträge ein.
V. Die Beschwerdegegnerin hat den Einspruch mit Schreiben vom 6. September 2007 zurückgenommen.
VI. Am 18. März 2010 fand eine mündliche Verhandlung statt. Während der mündlichen Verhandelung reichte die Beschwerdeführerin einen neuen Hauptantrag ein.
Ansprüche 1 und 2 des neuen Hauptantrags lauten:
"1. Verwendung der Botulinum-Neurotoxine von Clostridium botulinum der Typen A, B, C, D, B, F oder G oder eines Gemisches von zweien oder mehreren dieser Neurotoxine, dadurch gekennzeichnet, dass das Neurotoxin bzw. das Gemisch der Neurotoxine frei ist von den komplexierenden Proteinen, die auf natürliche Weise Komplexe mit den Botulinum-Neurotoxinen bilden, zur Herstellung eines Pharmazeutikums zur Behandlung von Dystonien oder von Erkrankungen des Nervensystems in tierischen oder menschlichen Patienten, die bereits neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxin Komplexe gebildet haben.
2. Verwendung eines Pharmazeutikums umfassend Botulinum-Neurotoxine von Clostridium botulinum der Typen A, B, C, D, B, F oder G oder eines Gemisches von zweien oder mehreren dieser Neurotoxine, dadurch gekennzeichnet, dass das Neurotoxin bzw. das Gemisch der Neurotoxine frei ist von den komplexierenden Proteinen, die auf natürliche Weise Komplexe mit den Botulinum-Neurotoxinen bilden, zur kosmetischen Behandlung in tierischen oder menschlichen Patienten, die bereits neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxin Komplexe gebildet haben."
Die abhängigen Ansprüche 3 bis 7 beziehen sich auf bevorzugte Ausführungsformen der Verwendung gemäß den Ansprüchen 1 und 2.
VII. In dieser Entscheidung werden folgende Entgegenhaltungen erwähnt:
(D1): US 5,512,547
(D2): Göschel et al. (1997), Experimental Neurology, Vol. 147, p. 96-102
VIII. Die Argumente der Beschwerdeführerin können folgendermaßen zusammengefasst werden:
Änderungen (Artikel 84 und 123(2),(3) EPÜ)
- Anspruch 1 sei identisch mit dem medizinischen Aspekt des erteilten Anspruchs 1 und genüge deshalb den Anforderungen von Artikel 84 EPÜ und Artikel 123(2), (3) EPÜ.
- Ansprüche 8 und 10 der ursprünglich eingereichten Anmeldung stützten Anspruch 2. Der Anspruch genüge den Anforderungen von Artikel 123(2) EPÜ und sei klar im Sinne von Artikel 84 EPÜ.
- Der Gegenstand eines Anspruchs, der sich auf die Verwendung eines Produkts in einem Herstellungsverfahren beziehe, entspreche dem Gegenstand eines Anspruchs der sich auf ein Herstellungsverfahren unter Verwendung desselben Produkts beziehe. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung sei insoweit richtig als sie bestätige, dass sich der erteilte Anspruch 1, bezüglich seines kosmetischen Aspekts, auf ein Verfahren zur Herstellung eines Pharmazeutikums unter Verwendung von Neurotoxinen beziehe.
- Gemäß den Erfordernissen von Artikel 64(2) EPÜ erstrecke sich der Schutzumfang des erteilten Anspruchs 1 auch auf die durch dieses Verfahren unmittelbar hergestellten Pharmazeutika. Die Breite dieses Schutzes richte sich nach der Breite des Anspruches der auf das Herstellungsverfahren gerichtet sei. Da dieser im vorliegenden Fall ausschließlich technische Merkmale die das hergestellte Produkt und dessen Verwendung betreffen beinhalte, würde er gemäß Artikel 64(2) EPÜ Schutz für alle Pharmazeutika verleihen, die das reine Botulinum-Toxin beinhalten. Folglich entspreche der Schutzbereich des erteilten Anspruchs 1 dem eines Anspruchs der auf diese Pharmazeutikum gerichtet sei.
- Anspruch 2 des Hauptantrages richte sich auf die Verwendung eines Pharmazeutikums umfassend Botulinum-Neurotoxine zur kosmetischen Behandlung in tierischen oder menschlichen Patienten. Eine Änderung der Anspruchskategorie sei nach Artikel 123(3) EPÜ nicht zu beanstanden wenn die erteilten Ansprüche auf einen Stoff oder ein Stoffgemisch gerichtet seien und so geändert würden, dass die geänderten Ansprüche auf die Verwendung dieses Stoffes oder Stoffgemisches für einen bestimmten Zweck gerichtet seien (G 2/88, Leitsatz 2). Anspruch 2 erfüllt deswegen die Anforderungen von Artikel 123(3) EPÜ.
Neuheit (Artikel 54 EPÜ)
- Obwohl Entgegenhaltungen (D1) und (D2) reine Botulinum-Neurotoxine gemäß Anspruch 1 und 2 offenbarten, beschrieben sie nicht die Behandlung von tierischen oder menschlichen Patienten, die bereits neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxin Komplexe gebildet hätten. Solche Patienten würden im Stand der Technik vielmehr als nicht behandelbar angesehen.
- Der Gegenstand der Ansprüche 1 (schweizerische Anspruchsform) und 2 beträfe daher eine Patientengruppe für die im Stand der Technik keinerlei Behandlung beschrieben werde.
Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)
- Der nächstliegende Stand der Technik sei Entgegenhaltung (D2), worin wünschenswerte Eigenschaften einer neuen Generation von Botulinum-Toxin Präparationen angeführt werden. Diese Präparate sollten, unter anderem, frei von Proteinen sein, die auf natürliche Weise Komplexe mit den Botulinum-Neurotoxinen bilden.
- Das zu lösendes Problem sei es somit, ein Botulinum-Neurotoxin enthaltendes Pharmazeutikum zur Verfügung zu stellen, das sich für die Verwendung in tierischen oder menschlichen Patienten eignet, die bereits neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxin Komplexe gebildet haben.
- Weder Entgegenhaltung (D2) noch Entgegenhaltung (D1) oder eine andere zitierte Entgegenhaltung, beschrieben oder suggerierten die Verwendung von reinem Botulinum-Toxin bei solchen Patienten.
IX. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und das Patent auf der Basis der Ansprüche 1 - 7 des Hauptantrages eingereicht in der mündlichen Verhandlung aufrechtzuerhalten.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Hauptantrag
Änderungen (Artikel 84 und 123(2),(3) EPÜ)
2. Anspruch 1 des erteilten Patents bezieht sich auf zwei unterschiedliche Verwendungen der Botulinum-Neurotoxine von Clostridium botulinum der Typen A, B, C, D, E, F, oder G oder eines Gemisches zweier oder mehrerer dieser Neurotoxine, welche frei sind von den komplexierenden Proteinen, welche auf natürlicher Weise Komplexe mit den Botulinum-Neurotoxinen bilden.
Die erste Verwendung ist die Herstellung eines Pharmazeutikums zur kosmetischen Behandlung in tierischen oder menschlichen Patienten, die bereits neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxin Komplexe gebildet haben. Die zweite Verwendung ist die Herstellung eines Pharmazeutikums zur Behandlung von Dystonien oder von Erkrankungen des Nervensystems in derselben Patientengruppe.
3. Der Gegenstand des vorliegenden Anspruchs 1 ist in identischer Weise als Teil des erteilten Anspruchs 1 vorhanden (zweite Verwendung). Er ist daher nicht bezüglich der Erfordernisse der Artikel 84 EPÜ und Artikel 123(2) EPÜ zu prüfen und entspricht den Anforderungen von Artikel 123(3) EPÜ.
4. Der vorliegende Anspruch 2 richtet sich auf die Verwendung eines Pharmazeutikums umfassend Botulinum-Neurotoxine zur kosmetischen Behandlung der im erteilten Anspruch 1 definierten Patienten.
5. Die Kammer ist davon überzeugt, dass Anspruch 2, insofern er gegenüber dem erteilten Anspruch 1 geändert wurde, klar ist und somit die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ erfüllt. Mit Hinblick auf Ansprüche 8 und 10 der ursprünglich eingereichten Anmeldung, genügt der Anspruch auch den Anforderungen von Artikel 123(2) EPÜ.
6. Anspruch 2 - Artikel 123(3) EPÜ
6.1 Artikel 123(3) EPÜ verbietet im Einspruchsverfahren Änderungen der erteilten Anspruche, die den Schutzbereich des europäischen Patents erweitern. Wie in der Entscheidung G 2/88 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 1990, 93, Leitsatz 1) bestätigt wurde, muss deswegen bei Überlegungen unter Artikel 123(3) EPÜ, der Schutzbereich der Ansprüche vor und nach den Änderungen verglichen werden. Der erste dabei notwendige Schritt ist die Bestimmung des Schutzbereichs der erteilten Ansprüche, da unbedingt festgestellt werden muss, worauf sich der Schutz des Patents ohne Änderung bezieht. Die Bestimmung des Schutzbereichs eines Patents ist gemäß Artikel 69(1) EPÜ und dem dazu ergangenen Protokoll vorzunehmen, das eine Anleitung gibt, auf welche Weise die technischen Merkmale des Anspruchs auszulegen sind (Entscheidung G 2/88, supra, Punkt 4).
6.2 Interpretation von Verwendungs- und Verfahrensansprüche
6.2.1 Das EPÜ lässt sowohl Verfahrensansprüche als auch Verwendungsansprüche zu. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung G 1/83 (ABl. EPA 1985, 60, Punkt 11) ist es meist nur eine Frage der individuellen Wahl, ob der Anmelder eine Tätigkeit als Verfahren zur Ausführung der Tätigkeit unter Angabe verschiedener Verfahrensschritte beansprucht oder ob er diese Tätigkeit, zu der naturgemäß eine Folge von Verfahrensschritten gehören kann, als Anwendung oder Verwendung einer Sache für einen bestimmten Zweck in einem Anspruch geschützt erhalten will. Die Große Beschwerdekammer sah hierin keinen sachlichen Unterschied.
6.2.2 In der Entscheidung T 958/94 (ABl. EPA 1997, 241, Punkt 3.4) untersuchte die Kammer ob es zwischen einem Anspruch auf ein "durch die Verwendung des Stoffs gekennzeichnetes Verfahren zur Herstellung eines Arzneimittels für die neue therapeutische Anwendung" und einem Anspruch auf die "Verwendung eines Stoffs zur Herstellung eines Arzneimittels für eine neue therapeutische Anwendung" einen sachliche Unterschied gibt. Die Kammer kam, in Anbetracht der Tatsache, dass bei der Herstellung eines Arzneimittels in der Praxis eine Folge zwingend vorgegebener, einheitlicher Verfahrensschritte durchgeführt wird, zum Schluss, dass beide Ansprüche nach der Entscheidung G 1/83, supra, den Vorgang der Formulierung des Wirkstoffs für ein Arzneimittel, also das Verfahren zur Herstellung des Arzneimittels, gleichermaßen mit einschließen. Der Gegenstand der beanspruchten Erfindung blieb derselbe, was bedeutete, dass die beiden Ansprüche sachlich gleichwertig waren.
6.2.3 Im Fall der der Entscheidung T 292/04 vom 17. Oktober 2005 zugrunde lag (siehe Punkte 5 und 6), bezog sich Anspruch 1 auf die Verwendung eines Stoffes zur Herstellung eines antimikrobiellen Wirkstoffs und war in der schweizerischen Anspruchsform abgefasst. Der Wirkstoff war einerseits zur Verwendung in den in Artikel 52(4) EPÜ genannten Verfahren bestimmt, andererseits aber zur Verwendung in nicht unter diese Vorschrift fallenden Verfahren, so etwa zur Formulierung einer Kontaktlinsenlösung. Bei der Überlegungen ob dieser Anspruch im Hinblick auf der Stand der Technik nach den Grundsätzen der Entscheidung G 1/83, supra, neu und erfinderisch war, urteilte die Kammer, dass der Anspruch, insofern er nicht auf eine therapeutische Verwendung des hergestellten Wirkstoffs beschränkt sei, dahin gehend zu verstehen sei, dass er sich auf ein Verfahren zur Herstellung eines flüssigen antimikrobiellen Wirkstoffs beziehe.
6.3 Schutzbereich von Anspruch 1 des Patents wie erteilt
6.3.1 Angesichts dieser Rechtsprechung der Beschwerdekammern, und nach Meinung dieser Kammer, ist der Aspekt des erteilten Anspruchs 1 der sich auf die Verwendung der Botulinum-Toxine zur Herstellung eines Pharmazeutikums zur kosmetischen Behandlung in tierischen oder menschlichen Patienten bezieht, sachlich nicht zu unterscheiden von einem Anspruch auf ein Verfahren zur Herstellung eines Pharmazeutikums unter Verwendung der Botulinum-Toxine. Da diese beiden Ansprüche die gleiche Tätigkeit betreffen und naturgemäß die gleichen Verfahrensschritte beinhalten, haben sie auch den gleichen Schutzbereich (siehe auch T 279/93 vom 12. Dezember 1996, Punkt 4).
6.3.2 Artikel 64(2) EPÜ besagt, dass, wenn der Gegenstand eines europäischen Patents ein Verfahren ist, sich der Schutz auch auf die durch das Verfahren unmittelbar hergestellten Erzeugnisse erstreckt, auch wenn diese per se nicht patentierbar sind. Folglich erstreckt sich der Schutzbereich eines Anspruchs auf ein Verfahren zur Herstellung eines Pharmazeutikums unter Verwendung der Botulinum-Toxine auch auf die durch dieses Verfahren unmittelbar hergestellten Pharmazeutika.
6.3.3 Der von Artikel 62(4) EPÜ verliehene Schutz für die unmittelbaren Produkte eines Verfahrens richtet sich nach der Breite der Formulierung des beanspruchten Herstellungsprozesses. Im vorliegendem Fall ist der einzige den Herstellungsprozess charakterisierende Schritt die Verwendung der Botulinum-Toxine. Die Kammer stellt daher fest, dass sich der von Artikel 64(2) EPÜ verliehene Schutz auf alle Pharmazeutika erstreckt, die die unmittelbaren Produkte eines beliebigen, Botulinum-Neurotoxin verwendenden Herstellungsprozesses sind.
6.3.4 Wie aus der Entscheidung G 2/88 (supra, siehe Punkt 5, 3. Absatz) zu entnehmen ist, wird es als ein dem EPÜ zugrundeliegendes Prinzip angesehen, dass der durch einen Stoffanspruch gewährte Schutz als "absolut" angesehen wird, d.h. er umfasst, unter anderem, jede Art der Verwendung des Stoffes, unabhängig davon ob sie vom Erfinder offenbart oder erkannt worden ist. In Anbetracht dieses Prinzips kam die Große Kammer zu der Einsicht, dass, wenn erteilte Ansprüche die auf einen Stoff oder ein diesen Stoff enthaltendes Stoffgemisch gerichtet sind, so geändert werden, dass die geänderten Ansprüche auf die Verwendung dieses Stoffes oder Stoffgemisches für eine bestimmten Zweck gerichtet sind, diese geänderte Ansprüche nicht nach Artikel 123(3) EPÜ zu beanstanden sind (Leitsatz 2).
6.3.5 Zusammenfassend stellt die Kammer fest, dass sich ein Teil des erteilten Anspruchs 1 in sachlicher Äquivalenz auf ein Verfahren zur Herstellung eines Pharmazeutikums unter Verwendung von Botulinum-Neurotoxin bezieht. In Anwendung von Artikel 64(2) EPÜ und in Anbetracht der Tatsache, dass der erteilte Anspruch 1 keinerlei Merkmale enthält, die dieses Herstellungsverfahren näher definieren (siehe Punkt 6.3.3, oben), würde sich der Schutz dieses Anspruchs auf jegliches Botulinum-Neurotoxin enthaltende Pharmazeutikum erstrecken. Angesichts der von der Grossen Beschwerdekammer in G 2/88, supra, aufgestellten Prinzipien wäre der vorliegende Anspruch 2, der sich auf die Verwendung eines Pharmazeutikums umfassend Botulinum-Neurotoxine zur kosmetischen Behandlung bestimmter Patienten bezieht, nicht nach Artikel 123(3) EPÜ zu beanstanden.
6.4 Anwendbarkeit von Artikel 64(2) EPÜ
6.4.1 In Anbetracht des Ergebnisses der oben durchgeführten Analyse, ist die Anwendbarkeit von Artikel 64(2) EPÜ zur Bestimmung des Schutzbereichs von Anspruch 1 entscheidungsrelevant.
6.4.2 In der Entscheidung G 2/88 (supra, Punkt 3.3) hat die Große Beschwerdekammer festgestellt, dass ein klarer Unterschied zwischen dem Schutzbereich eines Patents und den Rechten aus einem europäischen Patent besteht. Während der Schutzbereich eines Patents durch den Inhalt der Patentansprüche (Artikel 69(1) EPÜ) und insbesondere durch deren Kategorie und die technischen Merkmale bestimmt wird, ergeben sich die Rechte, die ein europäisches Patent seinem Inhaber verleiht (Artikel 64 (1) EPÜ), aus den Rechtsvorschriften der benannten Vertragsstaaten.
6.4.3 Artikel 64(2) EPÜ bezieht sich auf die "Rechte aus dem europäischen Patent". Es ist daher zu beantworten ob Artikel 64(2) EPÜ bei der Bestimmung des Schutzbereichs eines erteilten Anspruchs zu beachten ist.
6.4.4 In ihre Entscheidung G 2/88, supra (Punkt 5.1) hat die Große Beschwerdekammer geprüft, wie sich Artikel 64(2) EPÜ auf die Beantwortung der Frage auswirkt, ob eine Änderung, die beispielsweise in einem Wechsel von einem Stoffanspruch zu einem Anspruch für eine Verwendung dieses Stoffes besteht, zu einer Erweiterung des Schutzbereichs führt. Sie hat damit angedeutet, dass bei der Beurteilung des Schutzbereiches eines Anspruchs Artikel 64(2) EPÜ zu berücksichtigen ist.
Die Grosse Beschwerdekammer stellte fest, dass ein geänderter "Verwendungsanspruch" der einem Anspruch gleich kommt, der sich auf ein Herstellungsverfahren unter Verwendung des ursprünglich beanspruchten Stoffes bezieht, gemäß Artikel 64(2) EPÜ den Schutz auf das Erzeugnis dieses Verfahrens erweitern würde, was einer Erweiterung des Schutzbereichs im Sinne des Artikels 123 (3) EPÜ gleichkommen würde. In dem der Große Beschwerdekammer aber tatsächlich vorliegendem Fall, in dem der geänderte "Verwendungsanspruch" einem Anspruch entsprach, der sich auf ein Verfahren unter Verwendung des ursprünglich beanspruchten Stoffes zur Erzielung einer Wirkung (und nicht zur Herstellung eines Erzeugnisses), kam sie zum Schluss, dass eine solche Wirkung des Artikels 64(2) EPÜ in der Regel nicht eintritt, da dieser Verwendungsanspruch kein Verfahrensanspruch im Sinne des Artikels 64 (2) EPÜ war.
6.4.5 Eine Reihe von Entscheidungen der Beschwerdekammern sind der Großen Beschwerdekammer bezüglich dieser Anwendung von Artikel 64(2) EPC gefolgt (siehe z.B. die Entscheidungen T 5/90 vom 27. November 1992, Punkt 4.1; T 73/92 vom 25 März 1996, Punkt 7; T 20/94 vom 4. November 1998, Punkt 4.3.1; T 277/95 vom 16. April 1999, Punkt 7; T 401/95 vom 18. Januar 1999, Punkt 4.3.2; T 570/96 vom 20. August 1998, Punkte 2.3 bis 2.6; T 1013/96 vom 11. November 1998, Punkt 2; T 651/03 vom 10. Mai 2007, Punkt 4.2; T 423/04 vom 11. April 2006, Punkt 3; T 1026/04 vom 11. August 2005, Punkt 23.2 und T 304/08 vom 26 August 2009, Punkt 3.3.2).
6.4.6 Die Kammer hat Kenntnis der Entscheidung T 1286/05 vom 1. April 2008, in der die zuständige Kammer in Punkt 2.5, in einer nicht entscheidungsrelevanten Überlegung bezüglich Artikel 123(3) EPÜ, folgendes ausführt: "the change from the only independent claim of the patent as granted relating to a process of preparation ("Use of a lipophilic surfactant component for the manufacture of a pharmaceutical composition ) to a claim referring to a use for achieving a particular effect ("Use of a lipophilic surfactant component for reducing the inhibitory effect of the hydrophilic surfactant ) would extend the protection conferred." Da diese Meinung in der Entscheidung T 1286/05 aber nicht begründet ist, sieht sich die Kammer nicht in der Lage ihre Korrektheit zu überprüfen.
6.4.7 Die Kammer gelangt daher zur Überzeugung, dass Artikel 64(2) EPÜ bei Überlegungen bezüglich des Schutzbereichs von Ansprüchen zu berücksichtigen ist. Dies trifft sowohl auf die Beurteilung des Schutzbereichs eines geänderten Anspruchs, wie in dem der Große Beschwerdekammer in G 2/88, supra, vorliegenden Fall, wie auch bei der Beurteilung des Schutzbereichs eines erteilten Anspruchs zu.
6.5 Wie in Punkt 6.3.5 oben bereits ausgeführt, ist die Kammer deswegen der Überzeugung, dass Anspruch 2 die Erfordernisse von Artikel 123(3) EPÜ erfüllt.
Neuheit (Artikel 54 EPÜ)
7. Entgegenhaltung (D1) beschreibt eine pharmazeutische Zusammensetzung die reines Botulinum-Neurotoxin beinhaltet (Spalte 3, Zeilen 20 bis 30 und Anspruch 1), mit der laut Tabelle 3 Kaninchen behandelt werden.
Entgegenhaltung (D2) beschreibt ein Hämaglutinin-freies Botulinum-Neurotoxin (Seite 98, linke Spalte, Zeilen 22 bis 23 und Seite 99, rechte Spalte, Zeilen 18 bis 20), das in in vitro Experimenten verwendet wird.
Keine dieser Entgegenhaltungen offenbart die Verwendung der Neurotoxine zur kosmetischen oder therapeutischen Behandlung von tierischen oder menschlichen Patienten, die bereits neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxin Komplexe gebildet haben.
8. Anspruch 1 ist auf eine zweite oder weitere medizinische Verwendung eines an sich bekannten Stoffes gerichtet und in der sogenannten schweizerischen Anspruchsform abgefasst. Er bezieht sich auf die Behandlung einer speziellen Patientengruppe, die im Stand der Technik nicht genannt ist. Laut ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 5. Auflage, 2006, I.C.5.2.2.a), die in der Entscheidung G 2/08 der Großen Beschwerdekammer vom 19. Februar 2010 (noch nicht publiziert, siehe Punkt 5.10.7) bestätigt wurde, begründet diese neue Patientengruppe eine neue therapeutische Anwendung, die gemäß der in der Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer, supra, aufgestellten Grundsätze, dem Gegenstand von Anspruch 1 die Neuheit verleiht.
9. Anspruch 2 bezieht sich auf die Verwendung eines Pharmazeutikums, das die an sich bekannten reine Neurotoxine beinhaltet, zur kosmetischen Behandlung tierischer oder menschlicher Patienten, die bereits neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxin Komplexe gebildet haben. Diese Verwendung wird in keiner der zitierten Entgegenhaltungen beschrieben.
10. Der Gegenstand der Ansprüche ist daher neu gemäß Artikel 54 EPÜ.
Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)
11. Die Beschwerdekammern haben, dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz folgend, bestimmte Kriterien aufgestellt, anhand deren der nächstliegende Stand der Technik bestimmt werden kann. Der zur Bewertung der erfinderischen Tätigkeit heranzuziehende nächstliegende Stand der Technik ist in der Regel ein Dokument des Stands der Technik, das einen Gegenstand offenbart, der zum gleichen Zweck oder mit demselben Ziel entwickelt wurde wie die beanspruchte Erfindung und die wichtigsten technischen Merkmale mit ihr gemein hat.
12. Die Kammer ist der Überzeugung, dass die Entgegenhaltung (D2) den nächstliegende Stand der Technik für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit der beanspruchte Erfindung darstellt.
13. Entgegenhaltung (D2) beschreibt Patienten die BOTOX oder Dysport erhalten haben und im Laufe der Behandlung neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxin Komplexe gebildet haben (siehe Tabelle 2). Es wurde gefunden, dass diese neutralisierende Antikörper exklusiv gegen der Neurotoxin Komponenten des verabreichten Komplexes gerichtet sind (Seite 99, letzter Zeile bis Seite 100, linke Spalte, Zeile 2). Auf Seite 101, rechte Spalte, Zeilen 1 bis 7, berichtet Entgegenhaltung (D2), dass es bei Patienten mit unbefriedigendem Therapieerfolg wichtig war den Antikörper-Status festzustellen, da dies hilfreich für das weitere Vorgehen in der Therapie war. Es wurde gefunden, dass 15 sogenannte "non-responder" keine neutralisierenden Antikörper produzierten und dass, ungeachtet der Ursache für den ursprünglichen Therapie-Misserfolg, die Wiederaufnahme der Therapie ein Erfolg war. Entgegenhaltung (D2) berichtet auch, dass anhand von Versuchen mit Dysport gefunden wurde, dass die Bildung von neutralisierenden Antikörpern umso wahrscheinlicher ist, je mehr Neurotoxin verabreicht wurde (Seite 101, rechte Spalte, Zeilen 37 bis 40). Die Autoren der Entgegenhaltung (D2) ziehen aus ihren Studien den Schluss, dass eine zweite Generation von Botulinum Toxin Präparationen wünschenswert wäre, die frei sein sollten (i) von Toxoiden (möglicherweise inaktive Derivate des Toxins) und (ii) von Proteinen, die auf natürlicher Weise Komplexe mit den Botulinum-Neurotoxinen bilden (siehe Seite 102, linke Spalte, Zeilen 13 bis 18).
14. Ausgehend von dem in Entgegenhaltung (D2) beschriebenen nächste Stand der Technik ist das der Erfindung zugrunde liegende Problem die Bereitstellung eines Pharmazeutikums zur Verwendung bei der Behandlung von tierischen oder menschlichen Patienten, die bereits neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxine Komplexe gebildet haben. Die Behandlung ist einerseits die Behandlung von Dystonien oder von Erkrankungen des Nervensystems (Anspruch 1) oder eine kosmetische Behandlung (Anspruch 2).
15. Beispiele 7 und 8 des Patents belegen, dass dieses Problem durch den Gegenstand der Ansprüchen 1 und 2 gelöst wird.
16. Die Entgegenhaltungen (D1) und (D2) legen beide die Verwendung von gereinigten Botulinum-Toxinen zur Behandlung von Patienten nahe, die noch keine neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxin Komplexe gebildet haben, um eben die Bildung solcher Antikörpern zu vermeiden (siehe Entgegenhaltung (D1) in Spalte 7, Zeilen 29 bis 34 und Entgegenhaltung (D2) auf Seite 102, linke Spalte, Zeilen 13 bis 18). Sie enthalten jedoch keinen Hinweis darauf, dass diese gereinigten Botulinum-Toxine zur Behandlung tierischer oder menschlicher Patienten geeignet sind, die bereits neutralisierende Antikörper gegen Botulinum-Neurotoxin Komplexe gebildet haben. Vielmehr stützen sie die Ansicht dass solche Patienten (sogenannte "secondary non-responder") für die Therapie mit Botulinum-Toxinen verloren seien (siehe Entgegenhaltung (D1), Spalte 1, Zeilen 49 bis 55, und Entgegenhaltung (D2), Abstrakt, Zeilen 1 bis 4).
17. Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 2, sowie der davon abhängigen Ansprüche 3 bis 7, beruht auf einer erfinderische Tätigkeit und erfüllt somit die Erfordernisse von Artikel 56 EPÜ.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in folgendem Umfang aufrechtzuerhalten:
- Beschreibung: Seiten 2 - 7 wie erteilt
- Ansprüche: 1 - 7 des Hauptantrages eingereicht in der mündlichen Verhandlung.