T 1222/16 06-04-2020
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VERFAHREN UND VORRICHTUNG ZUM ABSCHEIDEN VON OVERSPRAY EINES FLÜSSIGEN BESCHICHTUNGSMATERIALS
Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach Aufhebung der mündlichen Verhandlung
Zulässigkeit der Beschwerde - Beschwerde hinreichend begründet (ja)
Einspruchsgründe - Ermessen der Einspruchsabteilung
Neuheit - (nein)
Hilfanträge - nicht zugelassen (unbegründet)
I. Die Einsprechende hat gegen die Entscheidung, mit der der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. EP 2 180 955 zurückgewiesen wurde, form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt.
II. Mit dem Einspruch war das Patent in vollem Umfang unter Geltendmachung der Einspruchsgründe der mangelnden Neuheit sowie der mangelnden erfinderischen Tätigkeit nach Artikel 100 a) EPÜ angegriffen worden.
Während der mündlichen Verhandlung wurde der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 b) EPÜ erhoben, der von der Einspruchsabteilung nicht zugelassen wurde.
III. Die vorliegende Entscheidung stützt sich auf die folgenden Dokumente:
D1: US 4 496 374 A;
D2: US 4 130 674 A;
D6: US 3 782 080 A;
D7: US 3 119 675 A;
D12: BASF-Handbuch Lackiertechnik, Seiten 90 und 91
mit Markierungen.
IV. Die verfahrensbestimmenden Anträge der Parteien zu Beginn des Beschwerdeverfahrens waren wie folgt:
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte,
die angefochtene Entscheidung aufzuheben und
das Streitpatent in vollem Umfang zu widerrufen,
hilfsweise,
eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.
Die Beschwerdeführerin beantragte ebenfalls,
den Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 b) EPÜ
ins Verfahren zuzulassen.
V. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte,
die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise,
die Beschwerde zurückzuweisen, d.h. das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten,
weiter hilfsweise,
bei Aufhebung der angefochtenen Entscheidung das Streitpatent in geänderter Fassung gemäß einem der Hilfsanträge 1 bis 3 aufrechtzuerhalten,
weiter hilfsweise,
eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.
Die Beschwerdegegnerin beantragte ferner,
den Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ
nicht ins Verfahren zuzulassen.
VI. Mit einer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2007 teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtslage mit, derzufolge die Beschwerde zulässig sei, die Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung, den verspäteten Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ nicht zuzulassen, nicht aufzuheben sei, und der Gegenstand des Anspruchs 1 des erteilten Patents als nicht neu gegenüber der Offenbarung der Entgegenhaltung D1 angesehen werde.
VII. Mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2019 bzw. 21. Januar 2020 zogen die Beschwerdegegnerin und die Beschwerdeführerin ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück.
VIII. Der entscheidungserhebliche Vortrag der Parteien wird im Detail in den Gründen dieser Entscheidung diskutiert.
IX. Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung lautet:
Verfahren zum Abscheiden von Overspray eines flüssigen Beschichtungsmaterials aus einer durch einen Applikationsbereich (108) einer Anlage zur Beschichtung von Werkstücken fließenden Luft- oder anderen Gasströmung,
wobei der in dem Applikationsbereich (108) in die Gasströmung gelangte Overspray mit mindestens einem in die Gasströmung eingeführten Hilfsmittel beaufschlagt wird,
dadurch gekennzeichnet, dass als Hilfsmittel zur Bindung des Oversprays wenigstens zum Teil ein chemisch mit dem Overspray reagierendes Partikelmaterial oder Fluid verwendet wird.
X. Anspruch 15 des Patents in der erteilten Fassung lautet:
Vorrichtung zum Abscheiden von Overspray eines flüssigen Beschichtungsmaterials aus einer durch einen Applikationsbereich (108) einer Anlage zur Beschichtung von Werkstücken fließenden Luft- oder anderen Gasströmung, mit einer Abtrennvorrichtung (168), in welcher der in dem Applikationsbereich (108) in die Gasströmung gelangte Overspray mit mindestens einem in die Gasströmung eingeführten Hilfsmittel beaufschlagt wird,
dadurch gekennzeichnet, dass als Hilfsmittel zur Bindung des Oversprays wenigstens zum Teil ein chemisch mit dem Overspray reagierendes Partikelmaterial oder Fluid vorgesehen ist.
XI. Da die Hilfsanträge 1 bis 3 aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht in das Verfahren zugelassen werden, ist es nicht erforderlich, den Wortlaut der Ansprüche dieser Anträgen zu wiedergeben.
1. Verfahrensaspekte
Die vorliegende Entscheidung ergeht im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung gemäß Artikel 12 (8) VOBK 2020.
Der Grundsatz des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ ist uneingeschränkt gewahrt, da diese Vorschrift nur die Möglichkeit bietet, gehört zu werden. Durch die ausdrückliche Erklärung ihrer jeweiligen Absicht, an der mündlichen Verhandlung, zu der beide Parteien ordnungsgemäß geladen waren, nicht teilzunehmen, gaben beide Parteien diese Gelegenheit auf (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage 2019, III.B.2.7.3 und V.A.4.5.3).
Die Beschwerdesache ist auf der Grundlage der zu überprüfenden angefochtenen Entscheidung und des wechselseitigen umfänglichen schriftsätzlichen Vorbringens der Parteien (Artikel 15 (3) VOBK 2020) unter Wahrung deren Rechte gemäß Artikel 113 und 116 EPÜ entscheidungsreif, so dass der Termin zur mündlich Verhandlung aufgehoben wird.
2. Zulässigkeit der Beschwerde
2.1 Die Beschwerdegegnerin argumentiert, dass die Beschwerde aus folgenden Gründen unzulässig sei.
Die Beschwerdebegründung lasse nicht erkennen, warum die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 b) EPÜ nicht ins Verfahren zuzulassen, unrichtig sei. Es sei nur die neue Behauptung vorgebracht, dass der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 b) EPÜ schon im Verfahren diskutiert worden wäre.
In Bezug auf die Neuheit argumentiert die Beschwerdegegnerin weiter, dass der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen sei, wo die einzelnen Merkmale der Anspruch 1 und 15 in D1 offenbart seien.
In Bezug auf die erfinderische Tätigkeit argumentiert die Beschwerdegegnerin, dass der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen sei, wo die einzelnen Merkmale des Oberbegriffs der unabhängigen Ansprüche in D6 oder D7 offenbart seien, sowie wo die kennzeichnenden Merkmale der unabhängigen Ansprüche des Streitpatents D2 zu entnehmen seien.
Die Beschwerdegegnerin argumentiert, dass die Beschwerdebegründung sich nicht substantiiert mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinander setze, weshalb die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen sei.
2.2 Die Kammer kann sich der Argumentation der Beschwerdegegnerin nicht anschließen.
Die angefochtene Entscheidung ist in Bezug auf den Zeitpunkt des Vorbringens und auf die Relevanz des Einwands der mangelnden Offenbarung in der Beschwerdebegründung ausführlich diskutiert worden (siehe Seite 1 bis 6 der Beschwerdebegründung, Punkt A.I. bis A.V).
Die Beschwerdeführerin hat im Punkt B., Seiten 6 und 7, der Beschwerdebegründung argumentiert, wo die kennzeichnenden Merkmale der Ansprüche 1 und 15 ihrer Meinung nach und entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung der D1 zu entnehmen seien und inwieweit die Entscheidung bezüglich der Neuheit unrichtig sei. Es ist anzumerken, dass eine Argumentation bezüglich der Merkmale des Oberbegriffs der Ansprüche 1 und 15 seitens der Beschwerdeführerin nicht erforderlich ist, weil die Entscheidung von der Beschwerdeführerin diesbezüglich als korrekt angesehen wird (siehe Punkt 2.2.3, zweiter Absatz der Entscheidungsgründe).
Die Beschwerdeführerin hat im Punkt C., Seite 7 und 8, der Beschwerdebegründung argumentiert, wieso die kennzeichnenden Merkmale des Anspruchs 1 entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung aus der D2 zu entnehmen seien und daher die Entscheidung der Einspruchsabteilung in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit unrichtig sei.
Die Beschwerdeführerin hat mithin in ihrer Beschwerdebegründung hinreichend dargelegt, aus welchen Gründen die angefochtene Entscheidung aufzuheben sei und auf welche Tatsachen und Beweismittel sie ihr Beschwerdebegehren stützt.
Die Auffassung der Kammer wurde den Parteien mit der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2007 mitgeteilt.
Keine der Parteien hat hierzu Stellung genommen oder Einwände erhoben. Die Kammer bestätigt nach erneuter Prüfung aller relevanten Elemente des Falls ihre Beurteilung, dass die Beschwerde gemäß Artikel 108 EPÜ und Regel 101 (1) EPÜ zulässig ist.
3. Zulassung ins Verfahren des Einspruchsgrunds gemäß Artikel 100 b) EPÜ
3.1 Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung der Einwand mangelnder Ausführbarkeit zwar erst nach Ablauf der Einspruchsfrist, jedoch deutlich vor der mündlichen Verhandlung erfolgt wäre.
Insbesondere sei spätestens mit Schriftsatz vom 27. Februar 2015 die Ausführbarkeit des Gegenstandes des Streitpatents in Frage gestellt worden.
Der Einwand mangelnder Offenbarung sei hoch relevant, weil im Streitpatent keine Lehre angegeben sei, auf welche Weise die reaktiven Gruppen chemisch mit dem Overspray reagieren. Auch wenn die von der Einspruchsabteilung angegebene Textpassage in Absatz [0011] und in Spalte 3, Zeilen 38 bis 41, des Streitpatents eine chemische Reaktion ansprechen, so werde gleichwohl eine Erläuterung eines möglichen Reaktionsmechanismus nicht angegeben. Die Diskrepanz zwischen der chemischen Reaktivität von bekannten chemischen reaktiven Gruppen und Aeroxide Alu C 805, welches auf einem physikalischen Wege arbeitet, bleibe offen.
Ferner hätte die Einspruchsabteilung den Einspruchsgrund gemäß dem Artikel 100 b) EPÜ vom Amts wegen aufgrund der Erfordernisse des Artikels 114 (1) EPÜ prüfen sollen.
3.2 Die Kammer kann sich der Beschwerdeführerin nicht anschließen und folgt im Wesentlichen der Argumentation der Beschwerdegegnerin, dass die Einspruchsabteilung nicht fehlerhaft ihr Ermessen ausgeübt habe.
Wie von der Beschwerdegegnerin argumentiert, ist der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung (siehe insbesondere Punkt 3 und 16 bis 22) und den entsprechenden Entscheidungsgründen (siehe Punkt 3 der Entscheidungsgründe) eindeutig zu entnehmen, dass der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ erstmals in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht wurde.
Dass das Merkmal "ein chemisch mit dem Overspray reagierendes Partikelmaterial" auch früher im Verfahren diskutiert wurde, ist dabei irrelevant, weil die Geltendmachung eines (verspäteten) Einspruchsgrundes eindeutig erfolgen muss.
Es ist anzumerken, dass im Punkt I.3 des Schriftsatzes der Beschwerdegegnerin vom 27. Februar 2015 ausdrücklich erklärt wurde, dass die Ausführbarkeit der Erfindung nicht in Frage gestellt werde.
Ferner sollte die Einspruchsabteilung nicht die Relevanz der nicht vorgelegten Einspruchsgründe prüfen. Artikel 114 (1) EPÜ ist zusammen mit Regel 81 EPÜ zu berücksichtigen, wonach die Einspruchsabteilung "von Amts wegen auch vom Einsprechenden nicht geltend gemachte Einspruchsgründe prüfen [kann], wenn diese der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenstehen würden". Die Einspruchsabteilung kann, muss allerdings nicht, jeden vom Einsprechenden nicht zulässigerweise vorgebrachten Einspruchsgrund prüfen.
Die Zulassung von spät vorgelegten Einspruchsgründen steht im Ermessen der Einspruchsabteilung. Im Fall einer Ermessenentscheidung einer Einspruchsabteilung sollte sich eine Beschwerdekammer nur dann über die Art und Weise, in der die Einspruchsabteilung ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nicht nach Maßgabe der richtigen Kriterien oder in unangemessener Weise ausgeübt und damit den ihr eingeräumten Ermessenspielraum überschritten hat (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, supra, IV.C.4.5.2, insbesondere mit Hinweis auf G 7/93, ABl. EPA 1994, 775, und T 640/91, ABl.EPA 1994, 918).
Die Kammer ist der Auffassung, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach Maßgabe der richtigen Kriterien ausgeübt hat.
Die Einspruchsabteilung hat in richtiger Weise die prima facie Relevanz des Einwands der unzureichender Offenbarung geprüft, und hat argumentiert, dass im Absatz [0011] und in Spalte 3, Zeilen 38-41, des Streitpatents dem Fachmann Beispiele für Hilfsmittel genannt werden, die mit dem Overspray chemisch reagieren können, womit keine prima facie Relevanz für die Einführung des verspäteten Einspruchsgrunds zu erkennen sei. Der Stand des Verfahrens und die Gründe für die verspätete Vorlage wurden ebenfalls von der Einspruchsabteilung berücksichtigt. Den maßgeblichen Kriterien wurden daher gefolgt (siehe die Richtlinien, Stand November 2015, E-V, 2., und G 10/91, ABl. 1993, 420).
Es ist ferner aus der Niederschrift der mündlichen Verhandlung, aus den Entscheidungsgründen sowie aus der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen in unangemessener Weise ausgeübt hätte.
Es ist anzumerken, dass die von der Beschwerdeführerin erwähnte Diskrepanz der AEROXIDE Alu C 805 nicht relevant für die Überprüfung der Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung ist, weil im Einspruchsverfahren die angebliche Diskrepanz nicht in Bezug auf die Erfordernisse des Artikels 100 b) EPÜ vorgetragen wurde.
Ferner, auch wenn eine Diskrepanz zwischen einem in der Beschreibung angegebenen Produkt, wie z.B. AEROXIDE Alu C 805, und einem Merkmal des Anspruchs vorhanden wäre, folgte daraus nicht unbedingt und unmittelbar die mangelnde Ausführbarkeit der Erfindung, insbesondere wenn der Fachmann trotz der angegebenen Diskrepanz durch die gesamte Lehre des Streitpatents mit Hilfe des allgemeinen Fachwissens die beanspruchte Erfindung ausführen kann. Dass dies für das Streitpatent nicht der Fall wäre, ist von der Beschwerdeführerin nicht vorgebracht worden.
Die Auffassung der Kammer wurde den Parteien mit der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2007 mitgeteilt.
Keine der Parteien hat hierzu Stellung genommen oder Einwände erhoben. Die Kammer bestätigt nach erneuter Prüfung aller relevanten Elemente des Falls ihre Beurteilung, die Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung, den verspäteten Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ nicht zuzulassen, nicht aufzuheben.
4. Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung Hauptantrag (Artikel 100 a) und 54 EPÜ)
4.1 Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass in D1 die dortige Waschlösung unter anderem mit einer Polyhydroxydverbindung, wie beispielweise einer Glykolverbindung, versetzt werde; somit offenbare die D1 ein Material, welches reaktive Hydroxylgruppen habe, wie es auch das Streitpatent lehre. Wie aus dem Auszug der Seiten 90-91 aus D12 zu entnehmen sei, reagierten Moleküle mit Hydroxylgruppen mit Isocyanat-Gruppen des Lacksystems, daher reagiere Glycol, das reaktive Hydroxylgruppen aufweise, mit Isocyanat, das Bestandteil vom Overspray sei. Somit offenbare D1 ein Fluid, welches chemisch mit dem Overspray reagiere gemäß des kennzeichnenden Teils des Anspruchs 1 des Streitpatents.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei daher nicht neu.
4.2 Die Beschwerdegegnerin argumentiert, dass in D1 ein partikelförmige Hilfsmaterial verwendet werde, nämlich Talkpulver, das lediglich eine physikalische Denaturierung des Oversprays bewirke, während die zugemischte Polyhydroxydverbindung zur Verbesserung der Dispersion des eigentlichen Hilfsmaterial zu tun habe und nichts mit der erfindungsgemäßen Bindung des Oversprays.
Die Beschwerdegegnerin argumentiert weiter, dass in D1 nicht offenbart werde, dass das Overspray ein Isocyanat enthalte.
Ferner sei dem Fachmann bekannt, dass chemische Reaktionen durch Stellgrößen wie Temperatur, Druck und pH-Wert beeinflusst werden können und dass, selbst wenn zwei Substanzen vorhanden seien, die theoretisch miteinander reagieren könnten, daraus nicht folge, dass eine chemische Reaktion zwingend stattfinde.
Von einer chemischen Reaktion eines Hilfsmittels mit dem Overspray gemäß Anspruch 1 sei in D1 keine Rede, so dass der Gegenstand des Anspruchs 1 neu sei.
4.3 Die Kammer kann sich der Beschwerdegegnerin nicht anschließen und folgt im Wesentlichen der Argumentation der Beschwerdeführerin.
Es scheint unstreitig zu sein, dass D1 ein Verfahren gemäß dem Oberbegriff des Anspruchs 1 offenbart. Was zwischen den Parteien streitig ist, ist, ob D1 ebenfalls die kennzeichnenden Merkmale des Anspruchs 1 offenbart, nämlich:
"...dass als Hilfsmittel zur Bindung des Oversprays wenigstens zum Teil ein chemisch mit dem Overspray reagierendes Partikelmaterial oder Fluid verwendet wird...".
In D1, Spalte 2, Zeilen 47-53, wird offenbart, dass eine Polyhydroxydverbindung zusammen mit dem partikelförmigen Hilfsmaterial, d.h. das Tankpulver, verwendet wird. Die Polyhydroxydverbindung fällt unter die in Absatz [0011] des Streitpatents erwähnten reaktiven Gruppen, nämlich unter die Hydroxylgruppe. Dies scheint ebenfalls zwischen den Parteien unstreitig zu sein.
Der entscheidende Punkt ist, ob die Polyhydroxydverbindung der D1 mit dem Overspray zur Bindung derselben reagiert.
Es ist zuzustimmen, dass in D1 es nicht erwähnt wird, dass die Polyhydroxidverbindung mit dem Overspray chemisch reagiert und dass im Allgemeinen eine Vielzahl von Bedingungen, wie Temperatur, Druck, pH, u.s.w. erfüllt werden sollen, so dass die äußerlich beobachtbare Reaktionsgeschwindigkeit nicht null ist.
Allerdings werden im Streitpatent nicht die diversen Bedingungen angegeben, die erfüllt sein sollen, damit die reaktiven Gruppen reagieren.
Die Kammer folgert daher, dass unter den normalen Arbeitsbedingungen einer Beschichtungsanlage, wie unter den Arbeitsbedingungen der Beschichtungsanlage gemäß D1 (siehe dazu D1, Spalte 4, ab Zeile 48), das Gleichgewicht der chemischen Reaktion der Polyhydroxylverbindungen mit dem Overspray eher auf der Seite der Produkte liegt, weil Polyhydroxylverbindungen und Overspray ständig zur Verfügung gestellt werden und die Reaktionsprodukte ständig weggetragen werden (D1, Spalte 5, Zeilen 1-6).
Es ist anzumerken, dass es nicht relevant ist, dass in D1 nicht offenbart wird, dass das Lacksystem Isocyanat-Gruppe aufweist, weil dies weder in Anspruch 1 noch in der Beschreibung des Streitpatents angegeben ist.
Die in Absatz [0011] des Streitpatents erwähnten reaktiven Gruppen zur Bindung des Oversprays werden unabhängig von der Art des spezifischen Lacks bzw. Beschichtungsmaterials angegeben.
Die Kammer ist daher der Meinung, dass die Polyhydroxydverbindung der D1 mit dem Overspray zur Bindung derselben implizit reagiert.
Die Auffassung der Kammer wurde den Parteien mit der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2007 mitgeteilt.
Keine der Parteien hat hierzu Stellung genommen oder Einwände erhoben. Die Kammer bestätigt nach erneuter Prüfung aller relevanten Elemente des Falls ihre Beurteilung und stellt fest, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht neu ist, so dass entgegen der Feststellung der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung der Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ begründet ist.
5. Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 15 des Patents in der erteilten Fassung Hauptantrag (Artikel 100 a) und 54 EPÜ)
Die Parteien argumentieren, dass für Anspruch 15 die gleichen Argumente wie für Anspruch 1 sinngemäß gelten.
Die Kammer sieht keinen Grund, sich den Parteien nicht anzuschließen, mit der Folge, dass der Gegenstand des Anspruchs 15 ebenfalls als nicht neu angesehen wird und der Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ auch insoweit durchgreift.
6. Die Beschwerdeführerin hat mithin in überzeugender Weise die Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung im Hinblick auf den in zulässiger Weise geltend gemachten Einspruchsgrund mangelnder Neuheit der Gegenstände der unabhängigen Ansprüche 1 und 15 des Patents in der erteilten Fassung dargetan.
7. Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 3
Mit der Beschwerdeerwiderung hat die Beschwerdegegnerin Ansprüche gemäß den Hilfsanträge 1 bis 3 eingereicht.
Obwohl die Beschwerdegegnerin erläutert hat, auf welche Fundstelle der Beschreibung die Hilfsanträge basieren, hat sie keine Argumente vorgebracht, wieso die vorgenommenen Anspruchsänderungen zur Neuheit und erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands der Ansprüche beitragen sollen, falls die Kammer den Gegenstand des Anspruchs 1 bzw. 15 des Patents in der erteilten Fassung als nicht neu oder als nicht erfinderisch ansähe.
Mit der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2007 hat die Kammer den Parteien mitgeteilt, dass aus den oben genannten Gründen die Hilfsanträge als unsubstantiiert und damit nicht prüffähig angesehen werden könnten.
Die Beschwerdeführerin hat dazu keine Stellung genommen oder Einwände erhoben, und die Kammer sieht nach erneuter Prüfung aller relevanten Elemente des Falls keine Veranlassung, von ihrer vorläufigen Stellungnahme abzuweichen.
Die Hilfsanträge werden daher als unsubstantiiert und damit nicht prüffähig angesehen, weshalb sie gemäß Artikel 12 (2) VOBK 2007, der seinem Regelungsgehalt nach Artikel 12 (3) VOBK 2020 entspricht, und Artikel 12 (4) VOBK 2007 in Verbindung mit Artikel 25 (1) und (2) VOBK 2020 nicht ins Verfahren zugelassen werden.
8. Da der einzige von der Beschwerdegegnerin in zulässiger Weise vorgelegte Anspruchssatz nicht gewährbar ist und die übrigen als Hilfsanträge eingereichten Anspruchssätze nicht in das Verfahren zugelassen werden, kann das Streitpatent entsprechend dem Antrag der Beschwerdegegnerin nicht aufrechterhalten bleiben, sondern ist bei Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zu widerrufen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.