T 0238/19 13-05-2022
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POLYURETHANE BASIEREND AUF POLYESTERDIOLEN MIT VERBESSERTEM KRISTALLISATIONSVERHALTEN
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Zulassung und Substantiierung von Hilfsanträge
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Zurückverweisung an die erste Instantz (nein)
Begründetheit der Rüge nach Regel 106 EPÜ
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung bezüglich der Aufrechterhaltung des Patents EP 2 331 598 in geänderter Fassung auf Grundlage der Ansprüche 1 bis 11 des Hauptantrags, welche mit Schriftsatz vom 22. November 2017 eingereichten wurden, sowie einer angepassten Beschreibung.
II. Im Einspruchsverfahren wurden unter anderem folgende Dokumente herangezogen:
D1: Y. Liu et al., J. Polym. Sci., Part A: Polymer
Chemistry, Vol. 39, Seiten 630-639, 2001
D2: US 5 237 000
D3: JP 2006-182874 A
D3a: Automatisierte Übersetzung ins Englische von
D3
D3b: Menschliche Übersetzung ins Englische von
Passagen der D3
D4: EP-A2-0 397 121
D5: Textbook of Polymer Science, Billmeyer,
3rd Edition, 1984, Chapter 12, Polymer
Structure and Physical Properties,
Seiten 330-333
D6: Brydson's Plastics Materials, Butterworth-
Heinemann, 2017, Eighth Edition, Seiten 68-69
und 494-495
D7: Castable Polyurethane Elastomers,
I.R. Clemitson, CRC Press, 2015, Second Edition D8: A Handbook of Applied Biopolymer Technology:
Synthesis, Degradation and applications,
S. K. Sharma, A Mudhoo, J. H. Clark, 2011,
Seiten 177-181
D9: Beyer/Walter, Organic Chemistry, 1997,
Seite 324
D10: G. Z. Papageorgiou and D.N. Bikiaris,
Environmental Biodegradation Research Focus,
Chapter 7, Biodegradable Aliphatic Polyesters
Derived from 1,3-propanediol: Current Status
and Promises, Seiten 189-215, 2007
D12: US 5 925 697
D13: Declaration, B. Galisteo, 28. März 2017
III. In der angefochtenen Entscheidung wurde die Erfindung als ausreichend offenbart (Artikel 100 b) EPÜ) angesehen. Ferner befand die Einspruchsabteilung, dass der Gegenstand der Ansprüche des Hauptantrags sowohl neu gegenüber D2 und D3 (wobei D3b ins Verfahren zugelassen wurde und der Inhalt von D3 anhand von D3a und D3b ermittelt wurde) als auch erfinderisch ausgehend von D10 als nächstliegendem Stand der Technik gegebenenfalls in Kombination mit D1, D2, D4 oder D12 sei. Eine erfinderische Tätigkeit wurde ferner ausgehend von entweder D1, D2, D4 oder D12 jeweils in Kombination mit einem der im Verfahren befindlichen Dokumente anerkannt. Somit wurde entschieden, dass das Patent in geänderter Fassung auf Grundlage der Ansprüche des Hauptantrags den Erfordernissen des EPÜ genüge.
IV. Gegen diese Entscheidung erhob die Einsprechende (Beschwerdeführerin) Beschwerde.
V. Mit ihrer Beschwerdeerwiderung beantragte die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) die Zurückweisung der Beschwerde als Hauptantrag und reichte einen Hilfsantrag 6 ein.
VI. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK teilte die Kammer ihre vorläufige Meinung zur Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung mit.
VII. Mit Schriftsatz vom 14. März 2022 reichte die Beschwerdegegnerin die Hilfsanträge 1 bis 5 ein.
VIII. Mit Schriftsatz vom 13. April 2022 reichte die Beschwerdegegnerin nochmals die Hilfsanträge 1 bis 6 ein.
IX. Die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 13. Mai 2022 in Anwesenheit beider Parteien statt (Videokonferenz). Am Ende der mündlichen Verhandlung, nachdem der Vorsitzende die Entscheidung der Beschwerdekammer, die Hilfsanträge 1 bis 5 nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen, verkündet hatte, erhob die Beschwerdegegnerin einen Einwand gemäß Regel 106 EPÜ, welcher von der Kammer zurückgewiesen wurde.
X. Die Schlussanträge der Parteien lauteten wie folgt:
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag) oder hilfsweise in dieser Reihenfolge:
- die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage des mit dem Schriftsatz vom 13. April 2022 eingereichten Hilfsantrags 6;
- die Zurückverweisung an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung auf Basis eines der mit dem Schriftsatz vom 13. April 2022 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 5;
- die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage eines der mit dem Schriftsatz vom 13. April 2022 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 5.
XI. Anspruch 1 des Hauptantrags lautete wie folgt:
"1. Thermoplastisches Polyurethan auf Basis
i) wenigstens eines Isocyanates A
ii) wenigstens eines Polyesterdiols B und
iii) gegebenenfalls Kettenverlängerern C und weiteren Hilfsstoffen, dadurch gekennzeichnet, dass das Polyesterdiol B auf einer Dicarbonsäure mit einer geradzahligen Anzahl von C-Atomen basiert und das dem Polyesterdiol B zugrundeliegende Diol 1,3-Propandiol ist und die dem Polyesterdiol B zugrunde liegende Dicarbonsäure folgender Formel entspricht.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
worin bedeuten
n eine gerade Zahl, ausgewählt aus 4, 6, 8, 10, 12, 14,
16
m 0 oder eine ganze Zahl von 1 bis 2n, vorzugsweise 0,
1 oder 2
R Alkyl mit 1 bis 18 C-Atomen.".
XII. Der Wortlaut der Ansprüche der Hilfsanträge 1 bis 5 ist für die vorliegende Entscheidung nicht relevant.
XIII. Anspruch 1 des Hilfsantrags 6 unterschied sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass ferner definiert wurde, dass das Isocyanat A ein Diisocyanat ist.
XIV. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin sind den Entscheidungsgründen zu entnehmen. Die Beschwerdeführerin trug folgende Einwände vor:
a) Was Anspruch 1 des Hauptantrags betreffe, sei eine erfinderische Tätigkeit ausgehend von der Lehre von entweder D1 oder D10, gegebenenfalls Bezug nehmend auf D5 bis D9 oder D13, nicht gegeben.
b) Der Hilfsantrag 6 sei nicht ins Verfahren zuzulassen.
c) Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 6 sei aus den gleichen Gründen wie Anspruch 1 des Hauptantrags nicht erfinderisch.
d) Die Hilfsanträge 1 bis 5 seien nicht ins Verfahren zuzulassen.
e) Es sei nicht gerechtfertigt, die Sache an die erste Instanz zurückzuverweisen.
f) Der Antrag der Beschwerdegegnerin gemäß Regel 106 EPÜ sei nicht gerechtfertigt, da die Hilfsanträge 1 bis 5 wegen mangelnder oder verspäteter Substantiierung nicht zuzulassen seien.
XV. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin sind den Entscheidungsgründen zu entnehmen. Zusammenfassend brachte die Beschwerdegegnerin folgendes vor:
a) Eine erfinderische Tätigkeit ausgehend von der Lehre von entweder D1 oder D10 sei, selbst im Licht der von der Beschwerdeführerin zitierten Dokumenten, gegeben.
b) Der Hilfsantrag 6 sei ins Verfahren zuzulassen.
c) Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 6 sei aus den gleichen Gründen wie Anspruch 1 des Hauptantrags erfinderisch.
d) Die Hilfsanträge 1 bis 5 seien ins Verfahren zuzulassen.
e) Im vorliegenden Fall sei gerechtfertigt, die Sache an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen.
f) Ein Einwand gemäß Regel 106 EPÜ werde erhoben, da der Anspruch der Beschwerdegegnerin auf rechtliches Gehör durch die Nichtzulassung in das Beschwerdeverfahren der Hilfsanträge 1 bis 5 und die darauffolgende Nicht-Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung verletzt worden sei.
Hauptantrag
1. Erfinderische Tätigkeit von Anspruch 1
1.1 Nächstliegender Stand der Technik
1.1.1 Die Beschwerdegegnerin brachte schriftlich vor, dass die Argumentation der Beschwerdeführerin bezüglich fehlender erfinderischer Tätigkeit ausgehend von D10 als nächstliegendem Stand der Technik in der Beschwerdebegründung nicht substantiiert worden sei (Beschwerdeerwiderung: Seite 8, vorletzter Absatz).
Nachdem die Kammer in ihrem Bescheid dargelegte, dass dieser Einwand der mangelnden Substantiierung nicht überzeugend erscheine (Abschnitte 8.1.1 und 8.1.2), wurde er während der mündlichen Verhandlung nicht weiterverfolgt. Die Beschwerdeführerin und die Beschwerdegegnerin waren sogar während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer im Einklang, dass ein thermoplastisches Polyurethan gemäß entweder D1 (siehe insbesondere Seite 630: Zusammenfassung; Seite 631, rechte Spalte, erster Absatz; Seite 634, "Scheme 1"; Seite 636, linke Spalte, erster Absatz; Seite 638, linke Spalte, letzter Absatz und rechte Spalte, Unterabsätze 1 bis 3) oder D10 (Seite 205, letzter Absatz; Seite 206, Abbildung 17, wobei Zitat [42] sich auf D1 bezieht) einen geeigneten nächstliegenden Stand der Technik für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des Anspruchs 1 des Hauptantrags darstelle. Die Kammer sieht keinen Grund, davon abzuweichen. In der vorliegenden Entscheidung wird - wie in der angefochtenen Entscheidung (Seite 12, letzter voller Absatz) - D10 als nächstliegender Stand der Technik betrachtet, wobei ein Polyurethan gemäß Abbildung 17 besonders relevant ist. Jedoch gilt die Argumentation ausgehend von einem Polyurethan gemäß "Scheme 1" von D1 (Seite 634) gleichermassen.
1.2 Unterscheidungsmerkmal(e)
Es war unstrittig, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sich von einem Polyurethan gemäß Abbildung 17 der D10 dadurch unterscheidet, dass für den Polyesterdiol B eine bestimmte Dicarbonsäure gemäß der im Anspruch 1 angegebenen Formel (mit n = 4, 6, 8, 10, 12, 14, 16 und m = 0 oder eine ganze Zahl von 1 bis 2n) anstatt von Bernsteinsäure (welche einer Dicarbonsäure gemäß der Formel des geltenden Anspruchs 1 mit n = 2 und m = 0) gewählt wird. Somit unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags mit m = 0 von einem Polyurethan gemäß Abbildung 17 der D10 lediglich durch die Kettenlänge der dem Polyesterdiol B zugrunde liegende Dicarbonsäure.
1.3 Die gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik gelöste Aufgabe
1.3.1 Die Beschwerdegegnerin brachte vor, dass aus den Beispielen und Vergleichsbeispielen des Streitpatents (Seite 6: Tabellen 1 bis 3) hervorgehe, dass ein anspruchsgemäß aufgebauter Polyester zu einem thermoplastischen Polyurethan (TPU), welches eine verringerte Glasübergangstemperatur (Tg) aufweise und zudem transparent sei, führe. Daher werde die zugrunde liegende Aufgabe in der Bereitstellung eines verbesserten TPU mit niedriger Tg und optischer Transparenz gesehen.
1.3.2 Gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern soll bei Vergleichsversuchen der Vergleich mit dem nächstliegenden Stand der Technik so angelegt sein, dass die geltend gemachte Wirkung überzeugend und allein auf das kennzeichnende Unterscheidungsmerkmal zwischen beanspruchter Erfindung und nächstliegendem Stand der Technik ursächlich zurückgeführt werden kann.
Jedoch entspricht im vorliegenden Fall keine der im Streitpatent hergestellten Polyurethane einem Polyurethan gemäß der Lehre der D10, welches auf Basis eines Polyesterdiols aus 1,3-Propandiol und Bernsteinsäure besteht (gemäß Tabelle 1 bis 3 des Streitpatents wurden entweder Sebazinsäure, Korksäure oder Dodecandisäure - und nicht Bernsteinsäure - als Dicarbonsäure für die Herstellung des Polyesterdiols eingesetzt). Somit kann eine von der Beschwerdegegnerin berücksichtigte Verbesserung (bezüglich optischer Eigenschaften wie Transparenz oder bezüglich Tg) gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik nicht nachgewiesen werden und kann für die Formulierung der objektiv gelösten Aufgabe nicht aufgenommen werden.
1.3.3 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern sollen ferner Vorteile, die nicht hinreichend belegt sind, bei der Festlegung der objektiven Aufgabenstellung des Streitpatentes und der Beurteilung dessen erfinderischer Qualität unberücksichtigt bleiben. In diesem Zusammenhang beruht die von der Beschwerdegegnerin vorgeschlagene Formulierung der gelösten Aufgabe auf zwei Vorteilen, nämlich Transparenz und Tg, die im Folgenden beurteilt werden.
a) Was die Transparenz betrifft, ist - wie während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer von der Beschwerdegegnerin anerkannt - festzustellen, dass ausschließlich Beispiel 10 des Streitpatents zeigt, dass das dort hergestellte TPU tatsächlich transparent ist (wie auf Seite 6, Zeilen 47-48 angegeben; für die TPU gemäß Beispiele 2, 6 und 8 wurde nicht bestritten, dass nicht gezeigt wurde, dass sie transparent sind). Also enthält das Streitpatent ein einziges Beispiel, das zeigt, dass die beanspruchte Transparenz tatsächlich vorhanden ist. Es ist daher zu beurteilen, ob dieser Effekt auf der gesamten Breite des geltenden Anspruchs glaubhaft ist, was von der Beschwerdeführerin bestritten wurde.
Diesbezüglich ist aus D1 (Seite 630: Zusammenfassung; Seite 631, rechte Spalte, erster Absatz; Seite 634 "Scheme 1"; Seite 636, linke Spalte, erster Absatz) zu entnehmen, dass die Eigenschaften eines TPUs von der Menge der zur Herstellung eingesetzten Verbindungen abhängen. Insbesondere wird in D1 auf den Einfluss des Verhältnisses der Weich- und Hartsegmente auf die optischen Eigenschaften/Transparenz hingewiesen (Seite 636, linke Spalte, erster Absatz, letzter Satz).
Diese Tatsache ist im Einklang mit der Ansicht der Einspruchsabteilung, dass die Menge und Struktur der Ausgangsverbindungen einen Einfluss auf die Transparenz haben (Seite 7, erster und zweiter voller Absatz). Jedoch ist festzustellen, dass Anspruch 1 des Hauptantrags keine Einschränkung bezüglich der Menge der dort beschriebenen Komponenten A (Polyisocyanat) und B (Polyesterdiol) - die wie von den Parteien während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgetragen bekannterweise den Hart- und Weichsegmenten des TPUs entsprechen - angibt. Ferner ist der geltende Anspruch 1 weder bei der Definition der Natur des Polyisocyanats (siehe Anmerkung der Einspruchsabteilung bezüglich der Struktur der Ausgangsverbindungen), noch bei dem Molekulargewicht des Polyesterdiols (was angesichts Absatz 25 des Streitpatents, zweiter Unterabsatz, "so dass Prüfplatten mit höheren Molekulargewichten des Polyesterdiols B transparent sind", eine Rolle für die Transparenz spielt) eingeschränkt. Aus diesen Gründen ist für die Kammer nicht glaubhaft, dass alle TPU gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags transparent sein können.
Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer wandte die Beschwerdegegnerin ein, dass das Beispiel 10 des Streitpatents die beanspruchte Transparenz aufweise und dass die Beschwerdeführerin keinen Gegenbeweis vorgelegt habe, dass dieser Effekt nicht auf der gesamten Breite des Anspruchs vorhanden sei. Somit sei der Effekt anzuerkennen.
Jedoch ist wie oben dargelegt sowohl aufgrund der Lehre der D1, als auch des allgemeinen Fachwissens (siehe die in der angefochtenen Entscheidung angegeben Gründe) zu erwarten, dass nicht alle beanspruchte TPUs transparent sind. Aus diesem Grund und in Abwesenheit von weiteren Beweisen oder einer überzeugenden Begründung, warum dieser Effekt glaubhaft sei, wird im vorliegenden Fall das Argument der Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.
Unter solchen Umständen ist der von der Beschwerdegegnerin erwähnte Effekt der Transparenz auf der gesamten Breite des geltenden Anspruchs 1 nicht glaubhaft und kann bei der Formulierung der gegenüber D10 tatsächlich gelösten Aufgabe nicht berücksichtigt werden.
b) Was die Glasübergangstemperatur betrifft, wird sowohl in D1 (Seite 631, rechte Spalte, erster Absatz; Seite 636, linke Spalte, erster Absatz) als auch in der angefochtenen Entscheidung (Seite 7, erster und zweiter voller Absatz) angegeben, dass aus den gleichen Gründen wie oben in Bezug auf die Transparenz dargelegt, weder eine Verbesserung gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik, noch eine absolute Höhe der Tg anerkannt werden kann.
Jedoch wurde von der Beschwerdeführerin nicht bestritten, dass angesichts der Beispiele 2, 6, 8 und 10 des Streitpatents, die beanspruchten TPU eine zufriedenstellende Tg aufweisen (wie im Absatz 44 der Beschwerdebegründung angegeben und während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer weiterhin dargelegt). In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Beispiele 2, 6, 8 und 10 verglichen mit den Beispielen 3, 7, 9 und 11 des Streitpatents zeigen, dass ein TPU gemäß geltendem Anspruch 1 eine niedrigere Glasübergangstemperatur als die eines vergleichbar hergestellten TPUs mit entsprechend nächsthöheren geraden Diol bzw. ungeraden Dicarbonsäuren im Polyesterdiol aufweist. In diesem Zusammenhang wurde während des Verfahrens Bezug auf den sogenannten "Odd-Even-Effekt" genommen, welcher zeigt, dass der Fachmann erwarten würde, dass eine Verbindung/Polymer mit einer Kette mit ungerader Anzahl an Methyleneinheiten im Vergleich zu einer vergleichbaren Verbindung/Polymer mit einer Kette mit der nächstnäheren gerade Anzahl an Methyleneinheiten eine niedrigere Glasübergangs-temperatur aufweist (angefochtene Entscheidung: Seite 13, vierter bis siebter Absatz; Seite 14, erster, dritter und vierter Absatz; Abschnitte 50 bis 64 der Beschwerdebegründung mit Bezug auf D5 bis D10 und D13; beide Parteien während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer). Insbesondere wurde gezeigt, dass der "Odd-Even-Effekt" für unterschiedliche Polymerfamilien (Polyester, Polyamide, Polyurethane) oder Verbindungen wie Dicarbonsäure relevant ist (D5: Abbildung 12-2; D6: Seite 68, zweiter und dritter Absatz sowie Abbildung 4.9; D7: Absatz unter Tabelle 2.3; D8: Seite 177, Zeile 14ff, "In general, an odd-even effect..."; D9: Abbildung 92; D10: Seite 189, Zusammenfassung, "The odd number..." und Seite 190, Abschnitt 1, letzter Absatz; D13: Seite 1, "Background", Punkte 4 bis 7). Es wurde diesbezüglich ferner nicht bestritten, dass der in D5 bis D10 und D13 angesprochene Odd-Even-Effekt zum allgemeinen Fachwissen gehört. In Bezug auf Polyurethane ist zwar anzumerken, dass die Anzahl an Methylengruppen in D6 und D7 sich auf das Diisocyanat (siehe Formel in dem zweiten Absatz des Abschnitts 4.4 auf Seite 68 der D6 und der letzte Satz des Absatzes unter Tabelle 2.3 auf Seite 26 der D7) und nicht auf das Polyesterdiol wie im Streitpatent bezieht. Jedoch findet die Kammer glaubhaft, dass angesichts der Pluralität an Verbindungen und Polymeren, die auf den Odd-Even-Effekt hindeuten und angesichts der technischen Erklärung für diesen Effekt (siehe Hinweis auf unterschiedliche Kristallstrukturen, welche durch die ungerade und gerade Anzahl von Kohlenstoffatomen verursacht wird in D5: Seite 333, oben), dieser Effekt für die im geltenden Anspruch 1 definierten TPU vorhanden ist.
Somit vertritt die Kammer die Meinung, dass der für die Beispiele 2, 6, 8 und 10 gezeigte Effekt (niedrigere Glasübergangstemperatur als die eines vergleichbar hergestellten TPUs mit entsprechend nächsthöheren geraden Diol bzw. ungeraden Dicarbonsäure im Polyesterdiol) auf der gesamten Breite des Anspruchs 1 des Hauptantrags glaubhaft ist. Zur Vereinfachung wird dieser Effekt nachfolgend bei der Formulierung der gelösten Aufgabe als die Bereitstellung eines TPUs "mit zufriedenstellender Glasübergangstemperatur" bezeichnet, wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen.
1.3.4 In Anbetracht der vorstehenden Überlegungen liegt die gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik tatsächlich gelöste Aufgabe in der Bereitstellung eines weiteren TPUs mit zufriedenstellender Glasübergangstemperatur.
1.4 Naheliegen der Lösung
1.4.1 Die Frage ist, ob es für den Fachmann naheliegend war, den nächstliegenden Stand der Technik so abzuändern, dass man zum beanspruchten Gegenstand kommt, mit dem Zweck, die oben definierte Aufgabe zu lösen.
1.4.2 Die Beschwerdegegnerin brachte vor, dass ausgehend von D10 alleine die Verwendung einer anspruchsgemäßen Dicarbonsäure nicht nahegelegt sei, da in D10 ausschließlich Bernsteinsäure zum Einsatz komme und andere Dicarbonsäuren nicht genannt worden seien.
Jedoch ergibt sich schon aus der Überschrift der D10 ("Biodegradable aliphatic polyesters derived from 1,3-propanediol..."), dass dieses Dokument in erster Linie Polyester betrifft, wobei die Natur der Diolverbindung des Polyesterdiols eine wesentliche Rolle im Vergleich zu der Art der Dicarbonsäure spielt. Somit hätte die Fachperson, ausgehend von D10 und auf der Suche nach einem anderen TPU mit zufriedenstellender Tg, wohl nach unterschiedlichen Polyesterdiole gesucht, wobei er/sie einen guten Grund gehabt hätte, die Dicarbonsäure und nicht 1,3-Propandiol zu ersetzen. Ferner ist es z.B. aus D2 (Spalte 4, Zeilen 33-40 und 48-53) ersichtlich, dass der Fachperson wohl bekannt ist, dass weitere TPU durch Ersetzen der Dicarbonsäure hergestellt werden können. Aus diesen Gründen wird das Argument der Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.
1.4.3 Aus z.B. D2 (Ansprüche 1 und 3; Spalte 4, Zeilen 33-40 und 48-53) ist ferner ersichtlich, dass der Fachmann, ohne selbst erfinderisch tätig zu sein, weitere TPU als Alternative zu denen des nächstliegenden Standes der Technik herstellen würde und zwar bei der Herstellung des Polyesterdiols durch Ersetzen von Bernsteinsäure (succinic acid) durch z.B. Adipinsäure (adipic acid), Korksäure (suberic acid) oder Sebazinsäure (sebacic acid), wobei diese Dicarbonsäure der im Anspruch 1 angegebenen Formel entsprechen (mit n = 4, 6 oder 8 und m = 0). Diese Schlussfolgerung ergibt sich auch daraus, dass diese Dicarbonsäuren strukturell der Bernsteinsäure sehr ähnlich sind und sich nur durch die Anzahl an Methylengruppen in der linearen Kette unterscheiden. Darüber hinaus ist die Kammer der Meinung, dass angesichts des Odd-Even-Effekts (siehe Abschnitt 1.3.3.b oben; wobei dieser Effekt in D10 selbst in Bezug auf Polyestern angesprochen wird: Seite 189, Zusammenfassung; Seite 190, Abschnitt 1, letzter Absatz), die Fachperson einen guten Grund gehabt hätte, beim Ersetzen der Dicarbonsäure auf die gleiche Parität der Anzahl an Kohlenstoffatomen in der Methylenkette zu achten und dabei bei einer geraden Zahl zu bleiben. Dass auf diese Weise eine zufriedenstellende Glasübergangstemperatur des TPUs erzielt wird, kann angesichts der geringfügigen Änderung der eingesetzten Ausgangsmaterialien (nämlich eine etwas längere Methylenkette der eingesetzten Dicarbonsäure) nicht überraschend sein und kann eine erfinderische Tätigkeit nicht untermauern.
Es ist ferner zu berücksichtigen, dass diese Schlussfolgerung bereits von der Einspruchsabteilung gezogen wurde (angefochtene Entscheidung: Seite 13, siebter Absatz "führt ... zu höheren Tg, was noch mit dem "Even-Odd-Effekt" zu erklären wäre"; Seite 14, Mitte: "Auch wenn es der "Odd-Even-Effekt" dem Fachmann erlaubt, gewisse Tendenzen hinsichtlich Schmelz- und Kristallisationsverhalten abzuschätzen"), wobei in der angefochtenen Entscheidung eine erfinderische Tätigkeit angesichts des Vorhandseins der Transparenz (und nicht aufgrund des Glasübergangstemperaturverhaltens) anerkannt wurde (angefochtene Entscheidung: Seite 13, fünfter bis siebter Absatz), eine Ansicht die von der Kammer nicht geteilt wird (wie im Abschnitt 1.3.3.a dargelegt). Die Kammer ist jedoch der Auffassung, dass die von der Beschwerdegegnerin diesbezüglich im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Argumente keinen Grund darstellen, die Schlussfolgerung der Einspruchsabteilung bezüglich der Glasübergangstemperatur zu ändern.
Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer wandte die Beschwerdegegnerin ein, dass die in Bezug auf den Odd-Even-Effekt zitierten Dokumente nicht die spezifischen TPU, wie im geltenden Anspruch 1 definiert, betreffen. Somit könne sich das Naheliegen dieses Effekts aus diesen Dokumenten nicht ergeben.
Jedoch wurde die Formulierung der tatsächlich gelösten Aufgabe dadurch begründet, dass es glaubhaft sei, dass der in den Beispielen des Streitpatents gezeigte Effekt auf der gesamten Anspruchsbreite vorhanden ist. Aus dem gleichen Grund kann folglich nur geschlossen werden, dass der gezeigte Effekt für die im geltenden Anspruch 1 des Hauptantrags definierten TPU angesichts der Lehre des Standes der Technik naheliegend ist.
1.4.4 Aus diesen Gründen ist es, ausgehend von dem TPU gemäß D10 naheliegend, die o.g. Aufgabe durch Ersetzen der Bernsteinsäure durch eine andere Dicarbonsäure wie z.B. Adipinsäure (Formel gemäß geltendem Anspruch 1 mit n = 4 und m = 0), Korksäure (n = 6; m = 0) oder Sebazinsäure (n = 8; m = 0), bei der Vorbereitung des Polyesterdiols, zu lösen.
1.5 Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags ausgehend von D10 nicht erfinderisch.
Hilfsantrag 6
2. Zulassung
2.1 Die Beschwerdeführerin beantragte, den Hilfsantrag 6 nicht ins Verfahren zuzulassen.
2.2 Im vorliegenden Fall ist die Frage der Nichtzulassung des Hilfsantrags 6, der von der Beschwerdegegnerin zusammen mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht wurde, nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 zu beurteilen (Artikel 25 (2) VOBK 2020). Dabei ist zu berücksichtigen, dass es das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens ist, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, wie nunmehr in Artikel 12 (2) VOBK 2020 explizit angegeben. Artikel 12(4) VOBK 2007 lautet wie folgt:
"Unbeschadet der Befugnis der Kammer, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind, wird das gesamte Vorbringen der Beteiligten nach
Absatz 1 von der Kammer berücksichtigt, wenn und soweit es sich auf die Beschwerdesache bezieht und die Erfordernisse nach Absatz 2 erfüllt."
Somit ist die Frage zu beantworten, ob es gerechtfertigt wäre, den Hilfsantrag 6 nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 vom Verfahren auszuschließen, weil dieser bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung hätte eingereicht werden können und müssen.
2.3 In diesem Zusammenhang stimmt die Kammer der Beschwerdeführerin zu, dass die Frage der Neuheit gegenüber D3 bereits zu Beginn des Einspruchsverfahrens aufgebracht worden war und sogar in der vorläufigen Meinung der Einspruchsabteilung als erfolgsversprechender Einwand angesehen wurde (siehe Abschnitt 2.2 der vorläufigen Meinung der Einspruchsabteilung). Somit hätte die Beschwerdegegnerin gute Gründe gehabt, vor oder während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung auf diesen Einwand der fehlenden Neuheit bereits im Einspruchsverfahren zu reagieren.
Es ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass dieser Hilfsantrag zum frühestmöglichen Zeitpunkt im Beschwerdeverfahren, d.h. mit der Beschwerdeerwiderung, vorgebracht wurde - also gemäß Artikel 12 (3) VOBK 2020 (welches Artikel 12 (2) VOBK 2007 entspricht). Ferner hat sich angesichts des Verlaufs der mündlichen Verhandlung das Einreichen eines solchen Hilfsantrags durch die Meinungsänderung der Einspruchsabteilung während der mündlichen Verhandlung, in der die Neuheit gegenüber D3 doch anerkannt wurde, erübrigt. Somit kann das Einreichen des Hilfsantrags 6 mit der Beschwerdeerwiderung, d.h. zu Beginn des Beschwerdeverfahrens, angesichts des in der Beschwerdebegründung weiterhin vorgebrachten Einwands der fehlenden Neuheit gegenüber D3 des von der Einspruchsabteilung zugelassenen Antrags, als angemessene Reaktion auf die Entwicklung des Falles angesehen werden. Dabei kann die Kammer keinen Verfahrensmissbrauch erkennen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das Verfahren dadurch absichtlich verzögert wurde.
Aus diesen Gründen erachtete es die Kammer für nicht angebracht, den Hilfsantrag 6 nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 vom Verfahren auszuschließen. Somit ist dieser Hilfsantrag im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen.
3. Erfinderische Tätigkeit
Anspruch 1 des Hilfsantrags 6 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass das Polyisocyanat A) als Diisocyanat definiert wird. Jedoch wurde von der Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer anerkannt, dass diese Änderung kein weiteres Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik darstellt und/oder keine andere Aufgabe löst als jene, die für den Hauptantrag formuliert wurde. Somit wurde von der Beschwerdegegnerin weder dargelegt noch argumentiert, dass diese Änderung zur erfinderischen Tätigkeit beiträgt. Unter diesen Umständen gibt es für die Kammer keinen Grund, im Hinblick auf Hilfsantrag 6 zu einer anderen Schlussfolgerung bzgl. der erfinderischen Tätigkeit als für den Hauptantrag zu gelangen. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 6 beruht daher nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
Hilfsanträge 1 bis 5 - Zulassung - Zurückverweisung - Rüge nach Regel 106
4. Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 5 und Antrag auf Zurückverweisung
Die Beschwerdegegnerin beantragte in ihrer Beschwerdeerwiderung die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung "sollte die Beschwerdekammer nicht beabsichtigen das Patent im Rahmen des Hauptantrages bzw. des neu eingereichten Hilfsantrages 6 der ausschließlich klarstellenden Charakter hat, aufrechtzuerhalten ... um bei Entscheidung über die bislang nicht im Detail diskutierten Hilfsanträge eine weitere Entscheidungsinstanz zu haben" (Seite 9, Punkt 5).
4.1 Gemäß Artikel 11 VOBK 2020 verweist eine Kammer die Angelegenheit nur dann zur weiteren Entscheidung an das Organ zurück, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wenn besondere Gründe dafür sprechen. Besondere Gründe liegen in der Regel vor, wenn das Verfahren vor diesem Organ wesentliche Mängel aufweist.
Die Kammer ist der Auffassung, dass auch eine unabsehbare Änderung der Sachlage in einem späteren Verfahrensstadium als besondere Gründe im Sinne von Artikel 11 VOBK 2020 angesehen werden kann. Allerdings kann die Kammer im vorliegenden Fall keine solche Umstände feststellen.
4.2 Der bedingte Antrag der Beschwerdegegnerin auf Zurückverweisung, damit nicht weiter konkretisierte Anträge in zwei Instanzen diskutiert werden können, setzt normalerweise voraus, dass zumindest ein weiterer Anspruchsatz (i) entweder schon Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist, (ii) oder in das Beschwerdeverfahren zugelassen wird.
(i) Keine der vorliegenden Hilfsanträge 1 bis 5 war Gegenstand der Entscheidung der Einspruchsabteilung.
Im Einspruchsverfahren sind insgesamt 4 Hilfsanträge eingereicht worden. Die Einspruchsabteilung hat diese Hilfsanträge weder diskutiert noch darüber entschieden, denn das Patent wurde in der Fassung des Hauptantrags aufrechterhalten.
Somit liegt keiner der im Einspruchsverfahren eingereichten Hilfsanträge 1 bis 4 dem Beschwerdeverfahren im Sinne des Artikels 12(1) a) VOBK 2020 automatisch zugrunde.
Gemäß Artikel 12 (1) b) und c) VOBK 2020, stellen darüber hinaus die Beschwerde und die Beschwerdebegründung, sowie alle schriftlichen Erwiderungen, die innerhalb von vier Monaten nach Zustellung der Beschwerdebegründung einzureichen sind, die Grundlage des Beschwerdeverfahrens dar.
Im vorliegenden Fall enthielt die Beschwerdeerwiderung der Patentinhaberin, außer dem Hilfsantrag 6, keine weiteren Hilfsanträge, so dass offen gelassen wurde, welche Hilfsanträge für eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung in Frage hätten kommen sollen (alle vier im Einspruchsverfahren eingereichten, oder nur einige davon, oder ganz neue Hilfsanträge?).
Ferner fehlte in der Beschwerdeerwiderung die in Artikel 12 (3) VOBK 2020 geforderte Substantiierung, warum die - nicht weiter konkretisierten - Hilfsanträge die Einwände, die in der Beschwerdebegründung der Einsprechenden erhoben worden waren, ausräumen sollten.
Artikel 12 (3) VOBK 2020, der inhaltlich identisch zum Artikel 12 (2) VOBK 20007 geblieben ist, lautet wie folgt:
"Die Beschwerdebegründung und die Erwiderung müssen das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten. Dementsprechend müssen sie deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen; sie sollen ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel im Einzelnen anführen...."
Diese Vorschrift dient dem Zweck, ein faires Verfahren für alle Beteiligten sicher zu stellen und es der Kammer zu ermöglichen, ihre Arbeit auf der Basis eines vollständigen Vorbringens beider Seiten zu beginnen. Im zweiseitigen Verfahren sollen sowohl die Rechte als auch die Pflichten zwischen den Parteien gleich verteilt sein.
Das Argument der Beschwerdegegnerin, es hätte keine Veranlassung bestanden, nach der Entscheidung der Einspruchsabteilung diese Hilfsanträge 1 bis 4 des Einspruchsverfahrens weiterzuverfolgen, kann eine Rechtfertigung für die Frage sein, warum die Patentinhaberin keine Beschwerde eingelegt hatte.
Jedoch hätte es Anlass gegeben für die Pateninhaberin, auf die Einwände der Einsprechenden, die in der Beschwerdebegründung (Seite 20) gegen jeden der Hilfsanträge 1 bis 4 erhoben worden waren, zu reagieren. Stattdessen hat die Beschwerdegegnerin in ihrer Beschwerdeerwiderung inhaltlich zu diesen Einwänden nicht Stellung genommen und ansonsten nur geänderte Ansprüche gemäß Hilfsantrag 6 eingereicht. Sie beantragte lediglich die Zurückverweisung der Angelegenheit zur weiteren Behandlung an die Einspruchsabteilung. Die Kammer findet, dass, wenn die Beschwerdegegnerin die Absicht gehabt hätte, die Hilfsanträge 1 bis 4 weiter zu verteidigen, es ihre Pflicht gewesen wäre, sie mit der Beschwerdeerwiderung formell zu stellen und ordnungsgemäß zu begründen, warum sie die Einwände der Gegenpartei beheben. Das Erfordernis der Substantiierung der Anträge gemäß Artikel 12 (3) VOBK 2020 kann nicht durch einen Antrag auf Zurückverweisung ersetzt werden.
Daraus folgt, dass die Hilfsanträge 1 bis 4 auch nicht gemäß Artikel 12 (1) b) und c) VOBK 2020, Gegenstand des Beschwerdeverfahrens waren. Dies gilt umso mehr für den Hilfsantrag 5, der zum ersten Mal im Beschwerdeverfahren eingereicht wurde.
(ii) Die Hilfsanträge 1 bis 5 werden nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen.
Die Stellung der im Beschwerdeverfahren geltend gemachten Hilfsanträge 1 bis 5, zusammen mit der Anführung der Tatsachen und Argumente, warum sie die vorgebrachten Einwände beheben, fand erst mit Schreiben vom 14. März 2022 (Seiten 2, 3 und 9 bis 14) statt. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammer gelten Änderungen der Ansprüche, die bei der Stellung nicht begründet worden sind und nicht aus sich heraus verständlich sind, als nicht wirksam eingereicht. Sie werden erst an dem Tag wirksam, an dem sie begründet werden, und gelten als am diesem Tag eingereicht (siehe auch T 319/18 vom 20. Januar 2021, Punkt 2.1 der Gründe, T 1732/10 vom 19. Dezember 2013, Punkt 1.5 der Gründe).
Folglich steht die Zulassung der Anträge im Ermessen der Kammer gemäß der Vorschriften des Artikels 13 (2) VOBK, die nach den in Artikel 25(1) und (3) VOBK 2020 geregelten Übergangsbestimmungen anzuwenden sind.
Artikel 13 (2) VOBK 2020 setzt die sogenannte dritte Stufe des im Beschwerdeverfahren anzuwendenden Konvergenzansatzes um und sieht deshalb die am weitesten reichenden Beschränkungen für Beschwerdevorbringen vor, das erst in einem vorgerückten Verfahrensstadium erfolgt (siehe Dokument CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Artikel 13 (2), erster Absatz, erster Satz; siehe auch Zusatzpublikation 2, ABl. EPA 2020, Seite 17 ff.). Nach dem Wortlaut des Artikels 13 (2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen. Stichhaltige Gründe für das Vorliegen solcher Umstände können z.B. gegeben sein, wenn die Kammer einen Einwand erstmals in einer Mitteilung erhoben hat (siehe Dokument CA/3/19, Sektion VI, Erläuterungen zu Artikel 13 (2), dritter Absatz, dritter Satz). Wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, kann die Kammer in Ausübung ihres Ermessens entscheiden, eine Änderung zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt des Verfahrens zuzulassen (siehe Dokument CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Artikel 13 (2), dritter Absatz, letzter Satz) (siehe auch T 709/16 vom 21. Oktober 2020, Entscheidungsgründe, Punkt 5.2 bis 5.4 und T 1786/16 vom 28. September 2021, Entscheidungsgründe, Punkt 3.2).
Es wurde nicht bestritten, dass die Hilfsanträge 1 bis 5 eine technische Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdegegnerin darstellen.
Die Beschwerdegegnerin konnte keine außergewöhnlichen Umstände darlegen, die das Vorbringen der Hilfsanträge 1 bis 5 erst mit Schreiben vom 14. März 2022 rechtfertigen könnten. Es wurde zwar argumentiert, dass erst durch die Ausführungen in der vorläufigen Meinung der Kammer deutlich geworden sei, dass die Kammer nicht beabsichtigte, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückzuweisen, sollte der Hauptantrag bzw. Hilfsantrag 6 nicht für gewährbar erachtet werden.
Die Mitteilung der Kammer kann jedoch keine außergewöhnlichen Umstände begründen. In der Tat enthielt diese Mitteilung (siehe Abschnitt 10) keine neuen Einwände oder Fragen, durch die die Beschwerdegegnerin mit einer neuen Verfahrenssituation konfrontiert wurde. Die Kammer hatte in ihrer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 lediglich festgestellt, dass weitere Hilfsanträge, außer dem Hilfsantrag 6, weder zusammen mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht, noch in der Beschwerdeerwiderung substantiiert wurden. Somit waren die Hilfsanträge nicht Teil des vorliegenden Beschwerdeverfahrens. Außerdem bestand gemäß ständiger Rechtsprechung kein grundsätzliches Recht der Parteien auf die Prüfung eines Sachverhalts in zwei Instanzen. Daher beabsichtigte die Kammer, den Antrag auf Zurückverweisung abzulehnen.
Die beabsichtigte Ablehnung des Antrags auf Zurückverweisung war nur eine unmittelbare Folge der Feststellung des Fehlens jeglicher Hilfsanträge, mit der die Beschwerdegegnerin gemäß Artikel 11 VOBK 2020 hätte rechnen müssen. Auch hinsichtlich des Hauptantrags hatte die Kammer nur zu den von der Beschwerdeführerin erhobenen Einwänden Stellung genommen. Daher kann mit der Mitteilung der Kammer keine geänderte Verfahrenslage entstanden sein, die im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK 2020 eine verspätete Reaktion auf die Beschwerdebegründung der Einsprechenden rechtfertigen könnte.
Die Hilfsanträge 1 bis 5 sind daher nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen. Daraus folgt, dass ohne jegliche Hilfsanträge, die eine Grundlage für eine weitere Entscheidung bilden könnten, auch dem Antrag auf Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung nicht stattgegeben werden kann.
Ferner liegen sonst keine besonderen Gründe im Sinne des Artikels 11 VOBK 2020 vor, wie eine verspätete Änderung der Sachlage im Beschwerdeverfahren oder wesentliche Verfahrensmängel in der ersten Instanz, die eine Zurückverweisung rechtfertigen können.
5. Einwand nach Regel 106 EPÜ
Nachdem die Kammer in der mündlichen Verhandlung die Entscheidung verkündet hatte, ihr Ermessen nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 dahingehend auszuüben, die mit Schreiben vom 14. März 2022 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 5 nicht in das Verfahren zuzulassen, erhob die Beschwerdegegnerin einen Einwand nach Regel 106 EPÜ. Sie war der Auffassung, dass ihr in Artikel 113 (1) EPÜ verankertes Recht auf rechtliches Gehör verletzt worden sei. Sie vertrat die Auffassung, dass ihr durch die Nichtzulassung der Hilfsanträge 1 bis 5 ihr keine Gelegenheit gegeben worden sei, weder im Einspruchsverfahren noch im Beschwerdeverfahren, diese Anträge zu verteidigen und somit ihr Recht auf rechtliches Gehör verletzt wurde.
Das Recht auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ soll sicherstellen, dass kein Beteiligter in einer seinem Antrag nicht entsprechenden Entscheidung durch Gründe und Beweismittel, zu denen er sich nicht äußern konnte, überrascht wird (R 2/14 vom 22. April 2016, Punkt 6. der Gründe). Im mehrseitigen Verfahren ergibt aus dem Prinzip der Fairness gegenüber den anderen Beteiligten, dass das Recht nach Artikel 113 (1) EPÜ untrennbar mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung verbunden ist, so dass jeder Verfahrensbeteiligte ausreichend Gelegenheit haben muss, zum Vorbringen einer Gegenpartei Stellung zu nehmen.
Die Beschwerdegegnerin wurde zur Frage der Zulassung ihrer Hilfsanträge gehört und konnte diesbezüglich ihre Argumente uneingeschränkt vorbringen. Diese Argumente sind von der Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung berücksichtigt worden. Die Beschwerdegegnerin hat dies nicht bestritten. Die Kammer ist daher der Ansicht, dass das Recht der Beschwerdegegnerin auf rechtliches Gehör in Bezug auf die Frage der Zulassung ihres geänderten Beschwerdevorbringens nicht eingeschränkt oder missachtet wurde. Der Einwand der Beschwerdegegnerin richtet sich eigentlich gegen die Ermessensentscheidung der Kammer, die mit Schreiben vom 14. März 2022 vorgebrachten Hilfsanträge und Argumentationslinien nicht in das Verfahren zuzulassen.
Die Beschwerdegegnerin argumentierte insbesondere, dass die Verfahrensordnung, insoweit als sie die Nicht-Berücksichtigung von geändertem Vorbringen im Beschwerdeverfahren vorsieht, im Widerspruch zu dem Recht eines Beteiligten auf rechtliches Gehör steht.
In diesem Zusammenhang merkt die Kammer an, dass das Recht auf rechtliches Gehör gemäß Artikel 113 (1) EPÜ keinen Anspruch beinhaltet, Anträge zu jedem beliebigen Zeitpunkt des Beschwerdeverfahrens einreichen zu können.
Ziel des Beschwerdeverfahrens ist es, eine unabhängige gerichtliche Überprüfung der früheren administrativen Entscheidung des EPA auf ihre Richtigkeit in tatsächlicher wie verfahrens- und materiellrechtlicher Hinsicht zu ermöglichen (vgl.: T 26/88, OJ EPO 1991, 30, Punkt 12 der Gründe; T 611/90, OJ EPO 1993, 50, Punkt 3 der Gründe; T 34/90, OJ EPO 1992, 454, Punkt 2 der Gründe; T 506/91, Punkt 2.1 der Gründe). Das Beschwerdeverfahren stellt daher nicht eine Fortsetzung des Einspruchsverfahrens dar. Daraus folgt, dass die Parteien im Beschwerdeverfahren bei ihrer Verfahrensführung gewissen Grenzen unterworfen sind, die sich aus den Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Verfahren ergeben. Es obliegt jedem Verfahrensbeteiligten selbst, alle für seine Rechtsverfolgung bzw. -verteidigung relevanten Tatsachen, Beweismittel, Argumente und auch Anträge so frühzeitig und vollständig wie möglich vorzulegen (siehe auch Artikel 12(3) VOBK 2020, identisch zu Artikel 12(2) VOBK 2007). Verletzt eine Beteiligte diese Pflicht, dann läuft sie Gefahr, dass ihr geändertes Vorbringen nicht mehr berücksichtigt wird. Werden Änderungen erst nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht, bleiben sie grundsätzlich unberücksichtigt es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor, wie in Artikel 13(2) VOBK 2020 vorgesehen.
Folglich kann die Kammer der Argumentation der Beschwerdegegnerin, nach der die Verfahrensordnung und insbesondere Artikel 13(2) VOBK 2020, im Widerspruch zu dem Recht auf rechtliches Gehör stehen, nicht folgen. Das Recht auf rechtliches Gehör wird nicht durch Artikel 13(2) VOBK 2020 beschränkt. Diese Vorschrift regelt nur die strengen Erfordernisse für die Berücksichtigung nachträglicher Änderungen, wenn der Beteiligte versäumt hat, die ihm gegebene Möglichkeit zur Äußerung zu einem früheren Zeitpunkt zu nutzen.
Im vorliegenden Fall hätte die Beschwerdegegnerin, wie oben dargelegt (siehe Punkt 4.2), die Pflicht gehabt, bereits zu Beginn des Beschwerdeverfahrens, und zwar in Erwiderung auf die mit der Beschwerdebegründung erhobenen Einwände gegen die Hilfsanträge 1 bis 4, diese Hilfsanträge einzureichen und zu verteidigen, wenn sie es für notwendig erachtete. Ebenso hätte sie, wenn sie die Absicht gehabt hätte, weitere Änderungen als den vorgelegten Hilfsantrag 6 einzureichen, dies bereits mit der Beschwerdeerwiderung tun müssen (siehe Artikel 12 (3) VOBK 2020). Sie hätte nicht bis zu einem späteren Verfahrensstadium warten dürfen, insbesondere nicht auf die vorläufige Stellungnahme der Kammer, um eine inhaltliche Erwiderung einzureichen. Umso weniger durfte sie das weitere Verfahren zu einer eventuellen Zurückverweisung abwarten sollen.
Aus obigen Gründen ist der Einwand nach Regel 106 EPÜ zurückzuweisen.
6. Da der Hauptantrag und der Hilfsantrag 6 nicht gewährbar sind und die Hilfsanträge 1 bis 5 nicht zugelassen werden, ist das Patent zu widerrufen und die Kammer braucht über weitere Einwände nicht zu entscheiden.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.