T 0122/84 (Metallic-Lackierung) 29-07-1986
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Fehlende Ausführbarkeit als Einspruchsgrund
Verspätetes Vorbringen
Ermittlung von Amts wegen
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
Glücklicher Griff
I. Auf die europäische Patentanmeldung 80 103 580.9, die am 25. Juni 1980 unter Inanspruchnahme der Priorität aus der Voranmeldung vom 30. Juni 1979 (DE 2 926 584) angemeldet worden war, ist am 23. Juni 1982 das europäische Patent 21 414 mit 9 Ansprüchen erteilt worden. Ansprüche 1 und 6 lauteten:
"1. Mit Wasser verdünnbare Bindemittelmischung zur Herstellung von Basis-Metallic-Lacken, dadurch gekennzeichnet, daß sie als Basis
A) ein wasserlösliches Kondensationsprodukt aus
a) gesättigten oder ungesättigten ölfreien, OH-Gruppen enthaltenden Polyestern aus mindestens einer Polycar bonsäure und mindestens einem mehrwertigen Alkohol,
b) einem von Trimellithsäure abgeleiteten und diese noch enthaltendem Polycarbonsäuregemisch,
c) mindestens einem epoxydierten Öl und
d) basischen Verbindungen und
B) Metallpulver,
C) mit Wasser mischbare Lösungsmittel und gegebenenfalls
D) andere Pigmente und/oder Farbstoffe sowie gegebenenfalls
E) weitere übliche Zusätze enthält, wobei das Festkörpergewichtsverhältnis der Komponenten a) zu Komponente b) 50 : 50 bis 90 : 10 beträgt.
6. Verwendung der Bindemittelmischung nach einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 5 in wäßrigen Lacken zur Herstellung einer Zweischichten-Metallic-Lackierung aus Basis- und Decklackschicht."
II. Gegen die Erteilung des europäischen Patents hat die Einsprechende am 16. März 1983 gestützt auf eine Reihe neuer Entgegenhaltungen Einspruch eingelegt und den Widerruf des Patents wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit beantragt.
III. Durch Entscheidung vom 30. März 1983 hat die Einspruchsabteilung den Einspruch zurückgewiesen und dazu im wesentlichen ausgeführt, daß die Entgegenhaltungen keinen Anlaß geben, die Neuheit und den erfinderischen Charakter des Patentgegenstandes in Frage zu stellen.
Die DD-PS 55 099 (1) beschreibe zwar wasserlösliche Bindemittel auf der Basis von Polyestern aus Dicarbonsäuren, Monocarbonsäuren, Polyalkoholen und epoxidierten Fettsäure estern. Die Bindemittel des angegriffenen Patentes enthielten jedoch zusätzlich Metallpulver und würden in Abwesenheit von Monocarbonsäuren hergestellt. Es sei daher nicht anzunehmen, daß die bekannten Bindemittel für die Metallic-Lackierung Verwendung finden könnten.
Ferner betreffe die DE-A 2 707 018 (2) Mischungen der Komponenten a, b und c des angegriffenen Patents, die mit dem Kondensationsprodukt nach dem vorliegenden Patent nicht vergleichbar seien. Diese Lehre könne daher nicht mit der nach (1) kombiniert werden.
IV. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin am 23. Mai 1984 unter gleichzeitiger Entrichtung der vorgesehenen Gebühr Beschwerde erhoben und diese am 2. August 1984 begründet. Hierin wird geltend gemacht, die Eigenschaften, die sich aus der Modifizierung eines Polyesters mit Monocarbonsäuren ergeben, seien dem Fachmann bekannt und ein Verzicht auf eine derartige Modifizierung bedürfe keiner erfinderischen Tätigkeit.
Eine erfinderische Tätigkeit könne auch nicht darin gesehen werden, die Eignung eines bekannten Bindemittels für Metallic-Lacke festzustellen. Wenngleich (2) nur Mischungen beschreibe, so sei es für den Lackfachmann doch naheliegend, Bindemittelbestandteile zu kondensieren.
V. In ihrer Beschwerdebegründung hatte die Beschwerdeführerin (Einsprechende) erstmals geltend gemacht, daß die Nacharbeitung der Erfindung, die das Streitpatent zum Gegenstand hat, für den Fachmann mit Hilfe der dort enthaltenen Angaben nicht möglich sei. Diese Erfindung - eine Bindemittelmischung zur Herstellung von Lacken - solle nach Beispiel 1 der Beschreibung unter Verwendung eines als handelsüblich bezeichneten Kondensationsprodukts hergestellt werden. Über die Beschaffenheit dieses Ausgangsprodukts sind in der Beschreibung einige Angaben gemacht. Ein solches als handels üblich bezeichnetes Kondensationsprodukt sei der Einsprechenden aber nicht bekannt. Sie habe versucht, mit einem Produkt, das den gemachten Angaben entspreche, die Erfindung in einigen Versuchen nachzuarbeiten und lege einen Versuchsbericht vor. Dieser zeige, daß ein Festharz entstehe, das als Bindemittel ungeeignet sei. Ohne die Angabe, von welchem handelsüblichen Kondensationsprodukt ausgegangen werde, sei daher die angebliche Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, daß ein Fachmann sie ausführen kann.
VI. Die Beschwerdegegnerin hingegen betont, daß der Verzicht auf eine Modifizierung der Polyester mit Monocarbonsäuren nicht nahegelegen habe, weil hierdurch u.a. auch die physikalische Trocknung und das rheologische Verhalten beeinflußt würden, was gerade bei Metallic-Lacken wichtig sei. Selbst wenn man eine Verbindung zwischen den Entgegenhaltungen (1) und (2) herstellen könnte, so ergebe sich daraus immer noch nicht mangelnde erfinderische Tätigkeit des Patentgegenstandes. Es sei nämlich nicht zu erwarten gewesen und völlig überraschend, daß sich unter Verwendung der Komponenten (A) bis (E) ein Metallic-Basislack herstellen läßt, der neben einwandfreier Verarbeitbarkeit, optimalem Metalleffekt, Zwischenhaftung, Wetter- sowie Lichtbeständigkeit auch noch die Wasserlöslichkeit bei einem pH-Wert um 7, rasche physikalische Trocknung und für Metallic-Basislacke günstiges rheologisches Verhalten aufweist.
VII. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) ist in ihrer Beschwerdeerwiderung auf den Einwand der fehlenden Ausführbarkeit nicht eingegangen.
VIII. In der am 29. Juli 1986 durchgeführten mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdeführerin noch geltend gemacht, daß die Komponente A der Bindemittelmischung nach dem Streitpatent aus dem vorläufigen Merkblatt "RESHYDROL VWA 1283" (3) der Patentinhaberin, ausgegeben im Februar 1979, bekannt und dort für die Anwendung als wasserlöslicher Einbrennlack empfohlen sei. Hierin sei für den Fachmann eine Einladung zu sehen, dieses Bindemittel für Zweischicht-Metallic-Lacke zu erproben.
In der mündlichen Verhandlung kam die Beschwerdeführerin ferner auf ihren Einwand der fehlenden Ausführbarkeit zurück. Sie bezeichnete ihn im Hinblick auf die Versuchsergebnisse als hinreichend und überzeugend dargelegt und vertrat die Meinung, daß die Beschwerdekammer nun von Amtswegen prüfen müsse, ob die Erfindung i.S.v. Artikel 83 bzw. 100 b) EPÜ so deutlich und vollständig offenbart sei, daß ein Fachmann sie ausführen kann.
IX. Die Beschwerdegegnerin widerspricht dem Vorbringen, daß es naheliegend war, das aus (3) bekannte Bindemittel für Zweischicht-Metallic-Lacke zu erproben, und beruft sich auf die besondere Spezifikation von Metallic-Lacken, die es nicht erlaube, Voraussagen über die Eignung der mindestens 50 bis 60 gängigen wasserverdünnbaren Binder für diesen Anwendungszweck zu machen.
X. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragt dagegen, die Beschwerde zurückzuweisen.
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPÜ; sie ist daher zulässig.
2. Die Erfindung betrifft eine Bindemittelmischung für Zweischichten-Metallic-Lackierungen. Es ist zwischen den Parteien unstreitig, daß das dabei Anwendung findende Zweischichten-Metallic-Lackierungsverfahren nach dem sogenannten "Naß-in-Naß-Verfahren" sowie die hierzu verwendete Bindemittelmischung, wie sie in der Beschreibung des Streitpatents (Seite 1, Zeilen 1 - 18) beschrieben sind, jeweils für sich zum Stand der Technik gehören.
Es ist ferner unstreitig, daß sich mit diesem Verfahren und der hierzu bislang verwendeten Bindemittellösung Metallic-Lackschichten von hervorragender Qualität herstellen lassen. Das bekannte Verfahren ist jedoch insofern unbefriedigend, als der hohe Anteil an Lösungsmittel im Basislack (etwa 85%) eine beachtliche Belastung für die Umwelt darstellt und zudem hohe Kosten verursacht, um diese umweltschonend zu beseitigen.
3. Es bestand daher die technische Aufgabe, umweltfreundliche Basislacke für das "Naß-in-Naß"-Verfahren vorzuschlagen, welche die Beibehaltung der bislang erreichten hohen Qualität der Metallic-Lackierung gewährleisten.
Diese Aufgabe wird nach dem Streitpatent durch die Bereitstellung einer mit Wasser verdünnbaren Bindemittelmischung zur Herstellung von Basis-Metallic-Lacken der im Anspruch näher angegebenen Zusammensetzung gelöst.
Diese Aufgabe ist nach Überzeugung der Kammer glaubhaft gelöst, weil aus Beispiel 1 hervorgeht, daß zur Herstellung des Basislacks nur untergeordnete Mengen, übrigens wasserlöslicher organischer Lösungsmittel benötigt werden, die Lacke beim Auftrag durch Spritzen nicht ablaufen und schnell trocknen und so eine einwandfreie Metalleffektlackierung mit hohem Glanz erzielt wird.
4. Keine der genannten Entgegenhaltungen beschreibt eine Bindemittelmischung, die alle Parameter der im Anspruch 1 genannten Bindemittelmischung aufweist. Das am nächsten kommende Dokument (3) beschreibt im wesentlichen nur die Komponente A der Bindemittelmischung nach dem Streitpatent. Nähere Ausführungen zur Neuheit des Gegenstandes des Streitpatents erübrigen sich, da dieser Sachverhalt unbestritten ist.
5. Es ist daher zu untersuchen, ob es für den Fachmann angesichts der Aufgabe, umweltfreundliche Basislacke unverändert hoher Qualität anzugeben, nahelag, hierfür die mit Wasser verdünnbaren Bindemittelmischungen nach dem Streitpatent vorzuschlagen.
Wie bereits ausgeführt, ist der Fachwelt durch das Merkblatt (3) ein Bindemittel auf wäßriger Basis bekannt und angeboten worden, das unstreitig unter die Definition der Komponente A des Basis-Lacks nach dem Streitpatent fällt. Nach diesem Merkblatt handelt es sich bei (R) Reshydrol VWA 1283 um ein emulgatorfreies, bei pH etwa 8 unbeschränkt in Wasser lösliches und von organischen Lösungsmitteln freies Hydrosol. Es besitzt eine gute Pigmentaufnahmefähigkeit für elektrolytfreie, inerte Pigmente und Füllstoffe, läßt sich in der Hitze härten und wird als Alleinbindemittel für die Herstellung von Einbrennlacken empfohlen.
Diese Angaben reichen für den Fachmann nicht aus, um die Brauchbarkeit dieses Bindemittels für die Herstellung eines Metallic-Basislacks zu erkennen. Die Beschwerdegegnerin hat in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung der Kammer ausgeführt, daß ein derartiger Lack eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllen muß, um für das hier zu betrachtende "Naß-in-Naß"-Verfahren geeignet zu sein und dem - aufgaben gemäß anvisierten - hohen Standard der Metallic-Lackierung gerecht zu werden. Hierfür ist besonders das rheologische Verhalten des Lacks entscheidend, welches einen einwand freien Lackauftrag ohne Ablaufen an den senkrechten Flächen (Gardinenbildung) ermöglichen muß. Zugleich besteht die Forderung nach einer relativ dünnen und schnell trocknenden Schicht, um die im Lack enthaltenen Metallpartikel rasch und parallel zum Lackierungsgrund zu fixieren; denn nur so wird ein optimaler Metallglanzeffekt erzielt. Schließlich ist wegen des nachfolgenden Überlackierens mit Decklack dessen gute Haftung am noch feuchten Basis-Lack erforderlich, ohne daß sich dieser in der Deckschicht auflösen darf.
Angesichts dieser ganz spezifischen Anforderungen, deren Aufzählung nicht erschöpfend ist, und des hoch gesteckten Zieles, den bekannt hohen Standard der Metallic-Lackierung aufrechtzuerhalten, kann der wenig spezifische Hinweis in (3), wonach das o.g. Handelsprodukt Reshydrol als Bindemittel mit hohem Pigmentaufnahmevermögen in Einbrennlacken Anwendung finden soll, nicht als Anregung für Versuche angesehen werden, dieses Bindemittel als Basis für den Metallic-Grundlack nach dem Zweischichten-Auftrag zu erproben. Die Kammer verkennt dabei nicht, daß der Fachmann mangelsgesicherter Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen chemischem Aufbau und den zu fordernden Eigenschaften derartiger Lacke aufs Experimentieren angewiesen war. Es ist auch einzuräumen, daß ein Teilaspekt der bestehenden Aufgabe, nämlich die Umweltfreundlichkeit der Basislacke, den Ersatz der umweltbelastenden organischen Lösungsmittel durch Wasser an sich nahelegte. Dies wird auch dadurch belegt, daß sich die Fachwelt - wie in der mündlichen Verhandlung vorgetragen -um einen solchen Lösungsweg, wenngleich vergeblich, bemüht hat. Gerade angesichts dieser Fehlschläge hätte der Fachmann durch den Vorschlag eines weiteren Bindemittels auf wäßriger Basis mit dem nicht weiter spezifizierten Hinweis auf dessen Eignung als Einbrennlack mit hoher Pigmentaufnahme keine Anregung zu dessen Erprobung im o.g. Metallic-Lack erhalten. Im übrigen standen hierfür bereits mindestens 50 bis 60 gängige Handelsprodukte zur Verfügung, wie die Beteiligten übereinstimmend ausgeführt haben, so daß mangels Erfolgsaussicht auch kein Anlaß bestand, gerade dem Reshydrol den Vorzug zu geben. Zusätzlich hätte man beim Experimentieren aufs Geratewohl auch eine kaum überschaubare Anzahl von chemischen Modifikationen der bekannten wäßrigen Bindemittel ins Auge fassen können.
Es bedurfte daher in der Tat eines glücklichen Griffs, um aus der Vielzahl der Möglichkeiten gerade das im Streitpatent als Komponente A bezeichnete Bindemittel heraus zugreifen und für den Metallic-Basislack nach dem Streitpatent einzusetzen, zumal die Suche nach dieser Lösung als Glücksspiel bezeichnet werden muß.
6. Nachdem die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung den übrigen im Verfahren befindlichen Entgegenhaltungen - wie auch die Kammer - keine entscheidungserhebliche Bedeutung beigemessen und sich daher nicht mehr darauf bezogen haben, erübrigt sich deren Erörterung. Die mit Wasser verdünnbare Bindemittelmischung gemäß Anspruch 1 des Streitpatents hat daher für den Fachmann nicht nahegelegen und beruht somit auf erfinderischer Tätigkeit.
7. Trotz Rückbezug auf den Mittelanspruch ist der Verwendungs anspruch 6 als Nebenanspruch einzustufen, weil er einer an deren Patentkategorie angehört. Dort wird die Verwendung des in Anspruch 1 definierten Basis-Metalliclacks zur Herstellung einer Zweischichten-Metalliclackierung aus Basis- und Decklackschicht, also das vollständige "Naß-in-Naß"-Verfahren beansprucht. Nachdem bereits die Bereitstellung des Metallic-Basislacks auf erfinderischer Tätigkeit beruht und ohne diesen das Zweischichten-Verfahren nicht denkbar ist, wird auch dieses Verfahren von der Patentfähigkeit des Gegenstandes nach Anspruch 1 getragen.
8. Die gleichen Schlußfolgerungen müssen auch für die auf den Anspruch 1 bzw. 6 rückbezogenen Ansprüche 2 - 5 und 7 - 9 gelten, die besondere und zweckmäßige Ausgestaltungen der Gegenstände dieser Ansprüche darstellen.
9. Da somit die in der Einspruchsbegründung geltend gemachten Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des europäischen Patents nicht entgegenstehen (vgl. Artikel 102 EPÜ), kommt es darauf an, ob das Streitpatent im Hinblick auf den von der Einsprechenden erst in ihrer Beschwerdebegründung vorgetragenen Einspruchsgrund der fehlenden Ausführbarkeit der Erfindung i. S. v. Artikel 83 bzw. 100 b) EPÜ zu widerrufen ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt zunächst davon ab, ob die Beschwerdekammer nach Artikel 114 (1) EPÜ "Ermittlung von Amts wegen" gehalten ist, die Frage der Ausführbarkeit der Erfindung zu prüfen, oder ob sie dieses Vorbringen der Einsprechenden nach Artikel 114 Absatz 2 EPÜ unberücksichtigt lassen kann.
10.1. Der Grundsatz der "Ermittlung von Amts wegen" nach Artikel 114 (1) EPÜ gilt auch nach Patenterteilung im Einspruchsverfahren vor der Einspruchsabteilung und der Beschwerdekammer. Dies ergibt sich einmal aus dem Wortlaut dieser Vorschrift und aus Artikel 102 Absätze 1 bis 3 EPÜ. Dort wird die Entscheidung über den Einspruch davon abhängig gemacht, welche Auffassung die Einspruchsabteilung hinsichtlich der Patentierbarkeit (Artikel 52 ff. EPÜ) und anderer Erfordernisse des Übereinkommens gewinnt. Bei der Bildung ihrer Auffassung ist sie dabei vom Vortrag der Beteiligten unabhängig (vgl. Artikel 114 (1) EPÜ). Entsprechendes gilt nach Artikel 111 (1) Satz 2 und Regel 66 (1) EPÜ für das Beschwerdeverfahren.
10.2. Die Geltung des Grundsatzes der Amtsermittlung auch nach Patenterteilung im Einspruchsverfahren erster und zweiter Instanz wird in den Vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ bestätigt und erläutert. Artikel 114 EPÜ geht auf eine Vorschrift zurück, die eigens für das Beschwerdeverfahren vorgeschlagen war (Vorschlag des Vorsitzenden der EWG-Arbeitsgruppe "Patente" vom 29. Mai 1961) und die in ihrem Wortlaut dem nunmehrigen Artikel 114 EPÜ entspricht. In den Bemerkungen zu diesem Vorschlag vom 28. Juli 1961 ist ausgeführt, daß das Patent unabhängig von den Anträgen und dem Vorbringen der Beteiligten in seiner Gesamtheit zu überprüfen ist. In einem Absatz 2, der Absatz 2 von Artikel 114 EPÜ entspricht, wurde vorgeschlagen, daß die Beschwerdekammer nicht rechtzeitig vorgebrachte Tatsachen nicht zu berücksichtigen braucht. Hierdurch solle "verhindert werden, daß von böswilligen oder unachtsamen Beschwerdeführern das Beschwerdeverfahren unnötig verschleppt wird". Die vorgeschlagene Regelung wurde von der Arbeitsgruppe in dieser Bedeutung erörtert und angenommen (Dok. EWG IV/6514/61 vom 13. November 1961, S. 4). Im Sitzungsbericht wird u.a. gesagt, daß es der Beschwerdekammer freistehe, neue Tatsachen (i.S.v. Absatz 2) zu berücksichtigen, und sie dementsprechend nicht verpflichtet sei, diese Tatsachen in ihre Entscheidung aufzunehmen. Diese Konzeption wird auch von der Luxemburger Regierungskonferenz für einen entsprechenden Artikel 113 ihres "Ersten Vorentwurfs" zum EPÜ von 1970 übernommen (siehe "Berichte" dazu, Rdn. 137, S. 25). Das Beschwerdeverfahren solle - so wird zu Absatz 2 gesagt - "nicht dadurch ungebührlich verzögert werden, daß der Beschwerdeführer nachlässig handelt oder sich aufschieben der Mittel bedient".
10.3. Die Geltung des Grundsatzes der Amtsermittlung auch im System des Einspruchs nach Patenterteilung wird in den Vorbereitenden Arbeiten ausdrücklich bestätigt (Dok. BR/87/71 vom 28. Februar 1971) und ein dem vorgenannten Artikel 113 für das Beschwerdeverfahren textlich entsprechender Artikel 101 b für das Einspruchsverfahren in den "Zweiten Vorentwurf" zum EPÜ von 1971 aufgenommen (siehe auch "Berichte" dazu Rdn. 68, S. 31). Der Absatz 2 lautet dort: "Die Einspruchsabteilung braucht neue, von den Beteiligten vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel nicht zu berücksichtigen".
10.4. Die Vorschriften über die Amtsermittlung vor dem EPA im Prüfungs-, Einspruchs- und Beschwerdeverfahren wurden dann in Artikel 113 des Entwurfs zum EPÜ von 1972 zusammengefaßt. Hinsichtlich des Ermessens, neue Tatsachen und Beweismittel unberücksichtigt zu lassen, wurde nicht mehr an bestimmte Versäumnisse (Nichteinhaltung von Fristen zur Begründung und Stellungnahme) angeknüpft, sondern an den unbestimmten Rechtsbegriff "verspätet". Die neue Vorschrift wurde Artikel 114 EPÜ "Ermittlung von Amts wegen".
11. Bei der Auslegung von Artikel 114 EPÜ stellt sich die Frage, wie die Absätze 1 und 2 in ihrem Verhältnis zu einander zu verstehen sind. Absatz 1 verpflichtet nämlich zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen, wohingegen es Absatz 2 erlaubt, verspätet vorgetragene Sachverhalte nicht zu berücksichtigen. Diese Schwierigkeit wurde auch bei den Vorbereitenden Arbeiten erkannt (siehe Dok. BR/12/69 vom 18. Dezember 1969, Rdn. 50, S. 23 und Dok. BR/125/71 vom 7. Juli 1971, Rdn. 66 S. 33 und Rdn. 70 S. 35). Eine zur Amtsermittlung nicht in Widerspruch stehende Lösung wurde aber gerade darin gesehen, daß die Berücksichtigung verspätet vorgetragener Tatsachen und Beweismittel nicht - wie ebenfalls erwogen - ausgeschlossen, sondern dem Ermessen des entscheidenden Organs überlassen wurde. Dabei ging man davon aus, daß von der Möglichkeit der Nichtberücksichtigung, die verhindern solle, daß die Beteiligten das Einspruchsverfahren mißbräuchlich hinauszögern, mit Zurückhaltung Gebrauch gemacht werde (siehe Dok. BR/12/69 a.a.O.).
12. Die Beschwerdekammer sieht den Tatbestand der Verspätung i.S.v. Artikel 114 (2) EPÜ im Hinblick auf das Vorbringen eines Einsprechenden gegeben, wenn ein ursprünglich überhaupt nicht genannter Einspruchsgrund nach Artikel 100 EPÜ nach Ablauf der Einspruchsfrist erstmals vorgebracht wird. Dies ist besonders augenfällig, wenn - wie im vorliegenden Fall - der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ erst vorgetragen wird, nachdem die Einsprechende in der ersten Instanz mit ihrem ursprünglichen Einspruch keinen Erfolg hatte. Späteres Einspruchsvorbringen, das nicht nur Ergänzungen und Beweise zu dem ursprünglich Vorgetragenen enthält, sondern als Wechsel oder Einbeziehung eines weiteren Widerrufgrundes zu werten ist, erscheint der Kammer in jedem Fall i.S.v. Artikel 114 (2) EPÜ verspätet zu sein. Andernfalls würde die Verpflichtung nach Artikel 99 und 100 EPÜ, die Einspruchsgründe innerhalb der Einspruchsfrist vorzutragen, ihren Sinn verlieren. Dies wird auch durch den Vorgänger von Artikel 114 (2) EPÜ, nämlich durch Artikel 101 b des "Zweiten Vorentwurfs" zum EPÜ von 1971 bestätigt. Dort wird es in das Ermessen der Einspruchsabteilung gestellt, neue Tatsachen und Beweismittel, die nicht in der Einspruchsbegründung enthalten sind, unberücksichtigt zu lassen.
13. Eine Ermessensentscheidung verpflichtet sehr wohl zum richtigen Gebrauch des Ermessens. Über die Ausübung der Amtsermittlung ist das EPA den Beteiligten aber keine Rechenschaft schuldig, braucht also bei Verspätung des Vorbringens seine Entscheidung nicht zu begründen. Rechtzeitiges oder aufgrund der Amtsermittlung eingeführtes Vorbringen hingegen muß, sofern es vom EPA oder einem Beteiligten noch für relevant gehalten wird, von der Einspruchsabteilung nach Regel 68 (2) oder von der Beschwerdekammer nach Regel 66 (1) g) EPÜ in den Entscheidungsgründen beschieden werden. Ein Fehlgebrauch des Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ wird auch ohne eine Rechtfertigung der Ermessensentscheidung erkennbar. Ein solcher Fehlgebrauch liegt - dem Sinn von Artikel 114 Absatz 1 und 2 EPÜ entsprechend - nur vor, wenn (a) augenfällig ist, daß das verspätete Vorbringen zugleich auch erwiesen ist; wenn ferner (b) der Patentinhaber bereits angemessene Gelegenheit zur Äußerung nach Artikel 113 (1) EPÜ hatte oder sie ihm ohne ungebührliche Verfahrensverzögerung noch gegeben werden kann und wenn (c) offensichtlich ist, daß die zu treffende Entscheidung bei Berücksichtigung des späten Vorbringens nicht ergehen durfte.
14.1. Verspätetes Einspruchsvorbringen der verschiedensten Art - also etwa neuer Stand der Technik (Artikel 100 a) EPÜ), fehlende Ausführbarkeit (Artikel 100 b) EPÜ) oder unzulässige Erweiterung (Artikel 100 c) EPÜ) - ist nach Artikel 114 (2) EPÜ zwar grundsätzlich gleich zu behandeln. Die vorstehenden Ausführungen lassen jedoch erkennen, daß in der Praxis die Möglichkeit einer Berücksichtigung häufig verschieden ist. Der Inhalt einer spät vorgelegten neuen, nicht zu umfangreichen Entgegenhaltung wird sich oft schnell erfassen und auf seine Entscheidungserheblichkeit überprüfen lassen. Das Vorbringen des Einsprechenden, daß das angegriffene Patent i.S.v. Artikel 123 (2) bzw. Artikel 100 c) EPÜ "über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht", läßt sich regelmäßig aufgrund der Akten rasch beurteilen und ist damit bei der Anwendung von Artikel 102 Absätze 1 bis 3 EPÜ von Amts wegen zu berücksichtigen (so etwa im Falle der Entscheidung T 285/84 vom 29. April 1986 - unveröffentlicht).
14.2. Wird fehlende Ausführbarkeit der Erfindung i.S.v. Artikel 83 und 100 b) EPÜ vom Einsprechenden verspätet geltend gemacht, so reichen selbst vorgelegte Versuchsergebnisse in der Regel nicht zum abschließenden Beweis dafür aus, daß dieser Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des Patents tatsächlich entgegensteht. Dies gilt vor allem dann, wenn die Patentschrift - wie hier - die Ausführbarkkeit stützende Ausführungsbeispiele enthält. Gerade bei chemischen Verfahren ist es oft so, daß sich der Erfolg nicht unter allen Verfahrensbedingungen, die nach der Beschreibung möglich erscheinen, einstellt. Selbst ein gutwilliger Einsprechender mag beim Nacharbeiten eines chemischen Verfahrens Mißerfolg erleiden, der erst durch zumutbare weitere Versuche überwunden werden kann. Der Widerruf eines Verfahrenspatents auf dem Gebiet der Chemie allein aus dem Grunde fehlender Ausführbarkeit dürfte kaum gerechtfertigt sein, ohne auch dem Patentinhaber Gelegenheit zu geben, die Versuche einer Einspre chenden zu überprüfen und die in Frage gestellte Ausführbarkeit durch neue eigene Versuche zu stützen. Ist vorgeder Einwand der fehlenden Ausführbarkeit verspätet bracht, so legt es der Charakter des Einspruchsverfahrens den Einspruchsinstanzen nahe, der schnellen Verfahrensbeendigung den Vorzug zu geben und sich nicht auf ein langwieriges Beweisverfahren mit ungewissem Ausgang einzulassen.
Der "Ermittlung von Amts wegen" i.S.v. Artikel 114 EPÜ werden hier durch andere Verfahrensgrundsätze Grenzen gesetzt. Solche Grundsätze mögen sich vor allem ergeben aus dem Charakter des Einspruchsverfahrens als einem summarischen und schnellen Verfahren, aus dem allgemeinen Grundsatz der Verfahrenskonzentration oder aus einer Beweislast des Einsprechenden. Eine Situation der letztgenannten Art hatte sich im Fall der Entscheidung T 219/83 "Zeolithe/BASF" (Amtsbl. EPA 1986, 211) ergeben. Dort stellte die Einsprechende die erfinderische Tätigkeit mit der Behauptung in Frage, daß die mit der Erfindung erzielten Ergebnisse nicht überraschend, da auch mit üblichen Methoden bereits realisierbar gewesen seien. Die Kammer vermochte sich aus eigener Sachkunde weder diese Behauptung noch die gegenteilige Behauptung der Patentinhaberin zu eigen zu machen. Da die Kammer sich nicht in der Lage sah, den zutreffenden Sachverhalt im Wege der "Ermittlung von Amts wegen" festzustellen, ging dieser Nachteil des ungeklärten Sachverhalts zu Lasten der Einsprechenden (a.a.O. Leitsatz I und Gründe Nr. 12).
14.3. Schließlich können hier auch nicht die Gründe geltend gemacht werden, die im Fall verspätet vorgebrachter Dokumente die Verspätung entschuldbar erscheinen lassen. Versuche, die die Ausführbarkeit einer Erfindung in Frage stellen, werden nämlich nicht zufällig gefunden, sondern gezielt durchgeführt. Solche Versuche aber muß ein Einsprechender vor Einlegung des Einspruchs machen und nicht erst dann, wenn sich im Einspruchsverfahren zeigt, daß der Einsprechende mit den Einspruchsgründen nach Artikel 100 a) EPÜ - vornehmlich also fehlender erfinderischer Tätigkeit - nicht durchdringt.
15. Aus den vorstehenden allgemeinen und dabei besonders auf die fehlende Ausführbarkeit bezogenen Überlegungen kommt die Kammer zu folgender Schlußfolgerung: Wird fehlende Ausführbarkeit der Erfindung i.S.v. Artikel 83 und 100 Buchst. b) EPÜ vom Einsprechenden erst nach Ablauf der Einspruchsfrist geltend gemacht, so kann dieses Vorbringen in Anwendung des Grundsatzes der "Ermittlung von Amts wegen" nach Artikel 114 (1) gemäß Artikel 114 (2) EPÜ unberücksichtigt bleiben. Die Entscheidung über die Berücksichtigung liegt im pflichtgemäßen Ermessen der entscheidenden Instanz und braucht nicht begründet zu werden. Das Vorbringen über die fehlende Ausführbarkeit in der Beschwerdebegründung der Einsprechenden bleibt daher unberücksichtigt.
16. Die Kammer hat erwogen, nach Artikel 112 EPÜ die Große Beschwerdekammer mit den vorstehend erörterten Rechtsfragen zu befassen. Dies erschien jedoch zumindest der zeit verfrüht. Zunächst sollte den interessierten Kreisen Gelegenheit zur Stellungnahme zur vorliegenden Entscheidung gegeben werden. Auch sind die Entscheidungen anderer Beschwerdekammern bei gleichen und ähnlichen Sachver halten abzuwarten.
17. Die Kammer hat ferner das von ihr allein aus dem europäischen Recht abgeleitete Ergebnis mit der Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland verglichen. Dies erscheint gerechtfertigt, weil es in diesem Vertragsstaat ein Einspruchsverfahren ähnlicher Konzeption gibt. Es ist fest zustellen, daß die von der Kammer erzielten Ergebnisse den Grundsätzen entsprechen, die der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung "Gleichstromfernspeisung" vom 2. Juni 1977 (GRUR 1978, 99 = Bl. f. PMZ 1977, 277) dargelegt hat. Hinzuweisen ist auch auf Schulte, Kommentar zum deutschen Patentgesetz, 3. Aufl., 59, Rdn. 56, 57 und 61, und auf die dort zitierten weiteren Entscheidungen.
18. Nicht zuletzt hat die Kammer auch ihre eigenen Entscheidungen mit ähnlichen Verfahrensfragen überprüft und festgestellt, daß zu diesen vorangegangenen Entscheidungen keine Widersprüche bestehen.
18.1. Die Entscheidung T 01/80 vom 6. April 1981, Amtsbl. EPA 1981, 206 - "Reaktionsdurchschreibepapier", sieht die Vorlage von Versuchsergebnissen als rechtzeitig i.S.v. Artikel 114 (2) EPÜ an, falls mit diesen die - auch im Beschwerdeverfahren noch mögliche - Abwandlung der Aufgabe gerechtfertigt wird. In der Entscheidung T 129/82 vom 14. Februar 1984, unveröffentlicht, wurden Versuche als rechtzeitig in Betracht gezogen, die erst auf einen negativen Bescheid der Beschwerdekammer hin vorgelegt wurden.
18.2. Die Entscheidung T 183/83 vom 13. Dezember 1984, unveröffentlicht, berücksichtigt vom Einsprechenden erst mit der Beschwerdebegründung vorgelegte Versuchsergebnisse, mit denen fehlende Ausführbarkeit i.S.v. Artikel 100 b) EPÜ bewiesen werden sollen. Der Fall unterscheidet sich vom vorliegenden in zweierlei Hinsicht. Einmal wurde der betreffende Einspruchsgrund, wenn auch ohne experimentellen Beleg, bereits bei Einlegung des Einspruchs geltend gemacht, zum andern waren die erst in der Beschwerdeinstanz vorgelegten Versuchsergebnisse erkennbar nicht geeignet, die Ausführbarkeit der Erfindung nach dem Streitpatent in Frage zu stellen. Die Kammer konnte hier ohne jede Verfahrensverzögerung die vorgelegten Versuchs ergebnisse sachlich würdigen. Dies lag im Interesse der Patentinhaberin. Der Einsprechenden, deren Vorbringen nicht zum Erfolg führte, wurde in der Verhandlung volles rechtliches Gehör gewährt.
18.3. In der Entscheidung T 273/84 vom 21. März 1986, (ABl. EPA 1986, 346), führte die Kammer von drei verspätet vorgelegten Entgegenhaltungen eine als nicht übergehbar in das Verfahren ein. Die volle Gewährung rechtlichen Gehörs gegenüber der Patentinhaberin steht allein schon deswegen außer Frage, weil die Sache zur erneuten Prüfung an die Vorinstanz zurückverwiesen wurde. In der Entscheidung T 271/84 vom 18. März 1986, wird veröffentlicht, ist auf die Bedeutung einer Abwägung zwischen Verfahrensverzögerung und dem Grad der Relevanz des Vorbringens hingewiesen.
18.4. In all diesen Entscheidungen handelt es sich um die Ausübung von Ermessen nach Artikel 114 (2) EPÜ. Die Fälle machen auch deutlich, daß es einer Rechtfertigung, also einer Begründung der Ermessensausübung gegenüber den Beteiligten, nicht bedarf.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.