T 1019/93 09-05-1995
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Dralluftauslaß
Änderungen - Erweiterung (verneint)
Kostenvorteil (verneint)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr (verneint)
I. Auf die am 14. März 1987 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 87 103 722.2 wurde am 15. Mai 1991 das europäische Patent Nr. 0 242 582 erteilt, dessen unabhängiger Anspruch 1 wie folgt lautet:
"Dralluftauslass, mit in einem kreisringförmigen Schacht (2) in Umfangsrichtung nebeneinander angeordneten Luftleitwänden (10) zur Erzielung einer Drallströmung der aus dem Schacht (2) ausströmenden Zuluft für die Klimatisierung eines Raumes, wobei der Schacht eine kreiszylindrische Aussenwand hat und die Luftleitwände (10) an einem in Achsrichtung des Schachtes (2) verstellbaren Tragkörper (15) befestigt sind, dadurch gekennzeichnet, dass der Durchströmungsquerschnitt des Dralluftauslasses unabhängig von der axialen Verstellposition der Luftleitwände (10) unveränderbar ist."
II. Gegen die Erteilung des Patents wurde Einspruch eingelegt und beantragt, das Patent aufgrund mangelnder Neuheit bzw. mangelnder erfinderischer Tätigkeit zu widerrufen. Während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung wurde von der Beschwerdegegnerin (Einsprechenden) zusätzlich vorgebracht, der Patentanspruch 1 sei derart geändert worden, daß sein Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung hinausgehe (Artikel 123 (2) EPÜ).
Zum Stand der Technik wurde unter anderem auf
(D1) DE-A-2 702 334
verwiesen.
III. Durch Entscheidung vom 14. September 1993, mit schriftlicher Begründung zur Post gegeben am 15. Oktober 1993, wurde das Patent widerrufen.
Nach Auffassung der Einspruchsabteilung war das Merkmal nach Anspruch 1, daß der Durchströmungsquerschnitt des Dralluftauslasses unabhängig von der axialen Verstellposition der Luftleitwände (10) unveränderbar ist, in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen nicht offenbart, so daß Anspruch 1 den Erfordernissen des Artikels 123 (2) EPÜ nicht entsprach.
IV. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) legte gegen diese Entscheidung am 2. Dezember 1993 unter gleichzeitiger Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde ein. Die Beschwerdebegründung ist am 8. Februar 1994 eingegangen.
V. Nach vorbereitender Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 11 (2) VOBK vom 11. Oktober 1994 wurde am 9. Mai 1995 vor der Kammer mündlich verhandelt und die Entscheidung der Kammer verkündet.
VI. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents mit den erteilten Unterlagen gemäß Hauptantrag. Hilfsweise beantragt sie die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang mit einem Schutzbegehren gemäß Hilfsanträgen 1 bis 3.
Ferner beantragt sie Kostenverteilung und Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
Zur Begründung ihrer Beschwerde trägt sie im wesentlichen folgendes vor:
- Das klare Verständnis der Erfindung ergebe sich anhand der Patentbeschreibung, zu der die Beschreibung wie auch die Zeichnungen gehörten. Der Fachmann erkenne, daß gemäß der Erfindung die Axialbewegung der Luftleitwände nicht zu einer Veränderung bzw. Verengung des Durchströmungsquerschnitts des Dralluftauslasses führe, im Gegensatz zu dem in der Beschreibung diskutierten, durch (D1) bekannten Dralluftauslaß.
- Die Beschreibung und Zeichnung nach der Erfindung offenbarten nur zylindrische, den Durchströmungsquerschnitt begrenzende Teile, und es sei nur eine parallel zur Strömung verlaufende Verstellbewegung offenbart. Daher könne die axiale Verstellbewegung nicht dazu führen, daß ein Bereich des verstellbaren Teils in den Durchströmungsquerschnitt hineinbewegt werde.
- Bei einem Druckluftauslaß mit den Merkmalen des Oberbegriffs des Anspruchs 1 sei es eindeutig, daß die Durchströmung zwischen der kreiszylindrischen Schachtwand und dem gemäß Anspruch 3 kreiszylindrischen zentralen Tragkörper erfolge, so daß ein Durchströmungsquerschnitt nur ein Querschnitt sein könne, der sich zwischen der Schachtwand und dem Tragkörper befinde. Ein solcher Durchströmungsquerschnitt sei entsprechend der Offenbarung der Anmeldeschrift unveränderbar.
- Hinsichtlich des Antrags auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr werde darauf hingewiesen, daß ein Verstoß gegen den Rechtsgrundsatz "nach Treu und Glauben" vorliege, indem das offensichtlich mißbräuchliche und außerdem nicht klar überzeugende Vorbringen eines neuen Einspruchsgrundes in der mündlichen Verhandlung nicht als verspätet zurückgewiesen worden sei. Der neu vorgebrachte Einspruchsgrund sei für die Beschwerdeführerin insbesondere deshalb überraschend gewesen, weil ihr hierzu eine ausreichende Stellungnahme in der mündlichen Verhandlung nicht ermöglicht worden sei.
- Es sei gerechtfertigt, die Beschwerdegegnerin mit den der Beschwerdeführerin im gesamten Beschwerdeverfahren entstandenen Kosten zu belasten, da die Beschwerdegegnerin die nicht zweckdienliche mündliche Verhandlung gefordert habe, um diese Verfahrensform mißbräuchlich für ihr verspätetes Vorbringen auszunutzen. Es sei auch daran zu erinnern, daß der Einspruch sich nur auf Argumente gestützt habe bzw. keine neuen Beweismittel vorgebracht worden seien, für deren Veranschaulichung eine mündliche Verhandlung zweckmäßig gewesen wäre.
VII. Die Beschwerdegegnerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerde der Patentinhaberin. Sie macht im wesentlichen folgendes geltend:
- Das strittige Merkmal sei in der Beschreibung der Anmeldung nicht expressis verbis erwähnt, wie von der Beschwerdeführerin selbst eingeräumt worden sei. Der Begriff "Durchströmungsquerschnitt" sei nur ein einziges Mal in der Beschreibung, nämlich auf Seite 1, erwähnt, diese Erwähnung trage aber nicht zu einer Aufklärung bei, was darunter zu verstehen sei.
- Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin bedeute ein Durchströmungsquerschnitt einen Querschnitt durch den Schacht etwa senkrecht zur Achse. In diesem Fall sei aber der kennzeichnende Teil von Anspruch 1 falsch. Der Durchströmungsquerschnitt des Dralluftauslasses sei oberhalb des Tragkörpers ein anderer als innerhalb des Tragkörpers. Ferner werde der Durchströmungsquerschnitt auch durch die Profilierungen 16, 17 und 18 verändert.
- Es gehe im vorliegenden Fall nicht um die Auslegung des Anspruchs 1, wozu die Beschreibung und die Zeichnung herangezogen werden könnten, sondern darum, ob das einzige erfindungswesentliche Merkmal aus der ursprünglichen Offenbarung als erfindungswesentlich zu entnehmen sei; dieses sei jedoch auch für den Fachmann bei Betrachtung der Figuren 2 und 3 der Zeichnung nicht erkennbar und schon gar nicht als erfindungswesentlich offenbart.
- Zur Frage der von der Beschwerdeführerin beantragten Kostenverteilung sei zu bemerken, daß der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 c) EPÜ erst aus der Diskussion des Begriffs "Durchströmungsquerschnitt" während der mündlichen Verhandlung sich ergeben habe. Im übrigen komme diesem Einwand eine "prima facie"- Relevanz im Sinne der Entscheidung G 9/91 zu, so daß der Einwand zu Recht von der Einspruchsabteilung aufgegriffen worden sei und von einem Verfahrensmißbrauch seitens der Beschwerdegegnerin nicht die Rede sein könne. Der Antrag auf Kostenverteilung zu Lasten der Beschwerdegegnerin sei daher zurückzuweisen.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Hauptantrag
2. Das hinsichtlich seiner Offenbarung in den ursprünglich eingereichten Unterlagen strittige Merkmal nach dem kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 enthält den Begriff "Durchströmungsquerschnitt des Dralluftauslasses".
Unter dem Begriff "Durchströmungsquerschnitt" versteht der Fachmann bei einer Kanalströmung im allgemeinen die rechtwinklig zur Kanalachse sich erstreckende, von der Strömung beaufschlagte Fläche, wobei ein durchströmter Kanal in Kanallängsrichtung unendlich viele "Durchströmungsquerschnitte" aufweist.
Der Begriff "Durchströmungsquerschnitt des Dralluftauslasses" ergibt für sich betrachtet noch keinen Aufschluß darüber, ob damit Querschnittsflächen an beliebigen Stellen oder nur an ausgewählten Stellen der Kanallängserstreckung gemeint sind.
3. Die Bestimmung des Artikels 69 (1) EPÜ, wonach die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen sind, findet auch Anwendung, wenn der Inhalt eines Anspruchs objektiv ermittelt werden muß, damit über die Neuheit und das Nichtnaheliegen seines Gegenstands befunden werden kann (T 16/87; ABl. EPA 1992, 212).
In den ursprünglich eingereichten Unterlagen ist auf Seite 1, Absatz 3 der Beschreibung folgendes ausgeführt:
"Der Erfindung liegt die Aufgabe zugrunde, einen Dralluftauslaß der genannten Art zu finden, der bei einfacher Konstruktion und entsprechend einfacher Herstellbarkeit eine mit geringen Strömungsverlusten verbundene, besonders wirksame, den gesamten Durchströmungsquerschnitt beeinflussende Verstellbarkeit der Strömungsrichtung der den Dralluftauslaß verlassenden Zuluft aufweist."
Dieser Absatz enthält, mit anderen Worten formuliert, die Aussage, daß die Verstellbarkeit der Strömungsrichtung der austretenden Luft den gesamten Durchströmungsquerschnitt beeinflussen soll. Da die Verstellbarkeit der Strömungsrichtung von den die Drallströmung erzeugenden Luftleitwänden (10) ausgeht (vgl. Seite 3, Absatz 4 der ursprünglichen Beschreibung), sind mit dem Begriff "Durchströmungsquerschnitt des Dralluftauslasses" offensichtlich diejenigen Stellen des Kanals gemeint, die im Bereich bzw. stromabwärts der Luftleitwände liegen.
4. Gemäß einer ersten Ausführungsform des Dralluftauslasses nach dem Streitpatent sind die in dem im wesentlichen kreiszylindrischen Schacht (2) des Dralluftauslasses angeordneten Luftleitwände (10) an einem kreiszylindrischen Tragring (15) befestigt und werden zusammen mit diesem zum Erreichen der verschiedenen Verstellpositionen axial verschoben, wie in den Figuren 2 und 3 der Zeichnungen dargestellt.
Aus Figur 1 in Verbindung mit den den konstruktiven Aufbau des Verstellteils (11) darstellenden Figuren 4 bis 6. ersieht der Fachmann, daß der Durchströmungsquerschnitt der Drallströmung im Bereich des Verstellteils (11) innen durch den zentralen Kanalstutzen (22) und außen durch den Tragring (15) begrenzt wird, wobei bei einer Axialverbindung des Verstellteils (11) dessen innere und äußere Begrenzungsflächen als fest miteinander verbundene Elemente relativ zueinander keinerlei Verschiebung im Sinne einer Vergrößerung oder Verkleinerung des Durchströmungsquerschnitts des Verstellteils (11) unterworfen sind. Zur Verhinderung des unbeabsichtigten Herausgleitens bzw. zur zeitweiligen Arretierung des Verstellteils (11) sind an der Schachtwandung ein Absatz (18) bzw. Rillen (16, 17) vorgesehen.
Sollte der Verstellring (11) bei seiner Verschiebung gemäß Figur 1 nach oben mit seiner Unterkante über den Absatz (18) bzw. die Rillen (16, 17) des Schachtes (2) hinwegbewegt werden, so werden zwar unterhalb des Verstellteils der Absatz (18) bzw. die Rillen (16, 17) freigelegt, was im strengen mathematischen Sinne eine Durchmesseränderung des Schachtes darstellt; der Absatz (18) bzw. die Rillen (16, 17), die in der als Schemazeichnung anzusehenden Figur 1 naturgemäß übertrieben groß im Hinblick auf ihre Funktion der zeitweiligen Festlegung des Verstellteils (11) dargestellt wurden, sind jedoch nach Auffassung der Kammer hinsichtlich einer Änderung des Durchströmungsquerschnitts insignifikant. Bei der Frage, was bei der Gestaltung des Strömungskanals als Änderung des Durchströmungsquerschnitts zu werten ist, sind insbesondere auch die Ausführungen in der Beschreibung des Streitpatents zum relevanten Stand der Technik (vgl. Spalte 1, Zeilen 6 bis 18) heranzuziehen. Der Dralluftauslaß gemäß der dort genannten DE-A-2 702 334 (vgl. die Figuren 4, 4A und 4B) weist Drallschaufeln (47) mit einem an diesen angeordneten Leitring auf, der in einer vorderen Verstellposition im Sinne der Erzeugung einer Drallströmung wirkt, in zurückgezogener Position dagegen in das dem Schacht (2) beim Gegenstand des Streitpatents entsprechende Bauteil (44) eingefahren wird und dort eine Verringerung des Durchströmungsquerschnitts der Drallströmung gegenüber der ausgefahrenen Position bewirkt.
Beim Gegenstand des Streitpatents geht es um die Vermeidung von Änderungen des Durchströmungsquerschnitts in der gemäß der DE-A-2 702 334 dargestellten Größenordnung, nicht jedoch um Querschnittsänderungen von wesentlich geringerer Größenordnung, wie sie z. B. durch Verrastungsabsätze im Schachtmantel gemäß Figur 1 der Zeichnungen des Streitpatents oder durch Rohrverbindungen wie Schweißnähte oder Nietverbindungen, wie sie Rohrleitungen im allgemeinen aufweisen, bedingt sind.
5. Nach einer zweiten Ausführungsform des Dralluftauslasses gemäß Streitpatent ist der Verstellteil (11) ohne Tragring ausgeführt, wobei in diesem Fall die Luftleitwände an einem zentralen, im Schacht (2) verstellbar gehaltenen nabenartigen Tragkörper gehalten sind. Der Durchströmungsquerschnitt wird außen nicht durch einen Tragring, sondern durch die innere Wandung des Schachtes (2) begrenzt. Es ist somit auch bei dieser Ausführungsform unmittelbar ersichtlich, daß bei einer Axialverstellung der Luftleitwände (10) keine Änderung des Durchströmungsquerschnitts - abgesehen von den als für den Durchströmungsquerschnitt unerheblich anzusehenden Rillen bzw. Absätzen - erfolgt.
6. Die Merkmale nach dem Oberbegriff des Anspruchs 1 beruhen auf dem ursprünglichen Anspruch 1, wobei das Merkmal, daß der Schacht (2) kreisringförmig ausgebildet ist, der Figur 1 in Verbindung mit den Figuren 4 und 5 der ursprünglichen Zeichnungen (vgl. den dort dargestellten kreiszylindrischen Körper (22)) zu entnehmen ist.
Die Ursprungsoffenbarung der Merkmale nach dem Oberbegriff des Anspruchs 1 war jedoch zu keinem Zeitpunkt strittig, so daß hierauf nicht näher einzugehen ist.
7. Die Beschwerdegegnerin hat vorgebracht, das Merkmal nach dem kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 sei der ursprünglichen Beschreibung überhaupt nicht zu entnehmen und auch für den Fachmann bei Betrachtung der Figuren 2 und 3 nicht erkennbar und schon gar nicht als erfindungswesentlich offenbart.
Nachdem im Vorstehenden dargelegt wurde, daß die Beschreibung in Verbindung mit den Figuren 1 und 4 bis 6 der Zeichnungen der Anmeldungsunterlagen das Merkmal nach dem kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 offenbaren, ist noch darauf hinzuweisen, daß es ständiger Rechtsprechung entspricht, die Zeichnungen als den Ansprüchen und der Beschreibung gleichrangige Offenbarungsquelle zu werten.
Hinsichtlich der Offenbarung eines Merkmals als erfindungswesentlich schließt sich die Kammer der in der Entscheidung T 169/83 (veröffentlicht im ABl. EPA 1985, 193) vertretenen Auffassung an, daß es dem Anmelder nicht zuzumuten ist, bereits bei der Einreichung der Anmeldung alle jene Merkmale besonders hervorzuheben, auf die er sich gegebenenfalls im Laufe des Anmelde- bzw. Einspruchsverfahrens berufen muß, um sich gegenüber einem näherliegenden Stand der Technik besser abgrenzen zu können.
Nach Auffassung der Kammer ist es für eine vollständige Offenbarung im Sinne von Artikel 83 EPÜ ausreichend, wenn das in Rede stehende Merkmal in mindestens einer der Offenbarungsquellen Ansprüche, Beschreibung und Zeichnungen für den Fachmann eindeutig beschrieben und als zur Erfindung gehörend dargestellt ist. Im zu entscheidenden Fall ist das strittige Merkmal aus den Zeichnungen in Verbindung mit der Beschreibung, die einen Hinweis auf die Zeichnungen als Darstellungen von Ausgestaltungen der Erfindung enthält, eindeutig zu entnehmen und ist somit als zur Erfindung gehörend offenbart.
8. Zusammenfassend folgt aus den vorstehenden Überlegungen, daß Anspruch 1 gemäß Hauptantrag der Bestimmung des Artikels 123 (2) EPÜ entspricht.
9. Da im Verfahren vor der Einspruchsabteilung, wie aus der angefochtenen Entscheidung auf Seite 8, Absatz 5 hervorgeht, eine abschließende Prüfung der Frage der Patentfähigkeit des Gegenstands des Streitpatents gemäß Hauptantrag, insbesondere hinsichtlich der Kriterien Neuheit und erfinderische Tätigkeit, noch nicht durchgeführt worden ist, macht die Kammer von dem ihr von Artikel 111 (1) EPÜ eingeräumten Ermessen Gebrauch, indem sie die Entscheidung der Vorinstanz aufhebt und die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an diese zurückverweist, um einen Instanzverlust zu vermeiden. Auf die Prüfung der Hilfsanträge 1 bis 3 konnte dabei verzichtet werden.
10. Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr (Regel 67 EPÜ)
Die Beschwerdeführerin sieht einen wesentlichen Verfahrensmangel im Verfahren vor der Vorinstanz darin, daß das Vorbringen eines neuen Einspruchsgrundes in der mündlichen Verhandlung als mißbräuchlich hätte zurückgewiesen werden müssen und daß ihr eine ausreichende Stellungnahme zu diesem Einspruchsgrund in der mündlichen Verhandlung nicht ermöglicht worden sei.
Gemäß der Entscheidung G 9/91 vom 31. März 1993 (veröffentlicht im ABl. EPA 1993, 408) kann eine Einspruchsabteilung in Anwendung des Artikels 114 (1) EPÜ einen durch die Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ nicht abgedeckten Einspruchsgrund von sich aus vorbringen oder einen solchen, vom Einsprechenden nach Ablauf der Frist gemäß Artikel 99 (1) EPÜ vorgebrachten Grund prüfen, wenn prima facie triftige Gründe dafür sprechen, daß dieser Einspruchsgrund relevant ist und der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenstehen würde.
Aus diesem von der Großen Beschwerdekammer aufgestellten Grundsatz folgt eindeutig, daß es im Rahmen des Ermessens der Einspruchsabteilung liegt, einen von ihr als prima facie relevant angesehenen neuen Einspruchsgrund, gestützt auf den Amtsermittlungsgrundsatz gemäß Artikel 114 (1) EPÜ, zu prüfen.
Aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 14. September 1993, Seite 1, Absatz 4 bis Seite 2, Absatz 1 geht hervor, daß die mündliche Verhandlung unterbrochen wurde, um der Patentinhaberin ausreichend Zeit zu geben, eine Erwiderung auf den neu vorgebrachten Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 c) EPÜ vorzubereiten. Ausweislich der Niederschrift hat die Beschwerdeführerin die Gelegenheit zu einer sachlichen Stellungnahme auch genutzt.
Daß die Gelegenheit zur Stellungnahme nicht in ausreichendem Umfang gewährt worden sei, ist nicht ersichtlich; denn ein entsprechender Einwand der Beschwerdeführerin, gegebenenfalls auch ein Antrag auf Verlängerung der Unterbrechung der mündlichen Verhandlung, geht aus der Niederschrift nicht hervor. Daß die Niederschrift den tatsächlichen Verlauf der mündlichen Verhandlung nicht wahrheitsgemäß wiedergibt, ist ferner ebenfalls nicht anzunehmen, da ein diesbezügliches Vorbringen seitens der Beschwerdeführerin im Anschluß an die Zustellung der Niederschrift nicht zu den Akten gelangt ist.
Der behauptete Verfahrensmangel liegt somit nicht vor, so daß dem Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr nicht stattzugeben ist.
11. Antrag auf Kostenverteilung gemäß Artikel 104 (1) EPÜ
Der Antrag, die Beschwerdegegnerin mit den der Beschwerdeführerin entstandenen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu belasten, wurde damit begründet, daß die Beschwerdegegnerin die nicht zweckdienliche Verhandlung gefordert habe, um diese Verfahrensform mißbräuchlich für ihr verspätetes Vorbringen auszunutzen.
Nach ständiger Rechtsprechung ist das Recht auf mündliche Verhandlung absolut und toleriert keine Bedingungen. Das Bemühen einer Partei, bis zuletzt zu versuchen, die Entscheidung der Einspruchsabteilung oder der Kammer in ihrem Sinne zu beeinflussen, stellt keinerlei Verstoß gegen eine sachgerechte Verfahrensführung oder gar einen Rechtsmißbrauch dar (vgl. z. B. T 614/89). Es ist hinsichtlich des Rechts auf mündliche Verhandlung unerheblich, ob die Einsprechende in der Verhandlung lediglich Ausführungen macht, die sich auf die rechtzeitig geltend gemachten Einspruchsgründe beziehen, oder ob sie darüber hinaus noch versucht, wie im vorliegenden Fall, einen neuen Einspruchsgrund einzuführen.
In ihrer Eingabe vom 24. April 1995 hat die Beschwerdegegnerin auf die Entscheidung T 867/92 (veröffentlicht im ABl. EPA 1995, 126) hingewiesen, die das Vorbringen eines neuen Standes der Technik ohne Begründung für die Verspätung betrifft. Entsprechend dem Leitsatz dieser Entscheidung müsse der Einsprechende damit rechnen, daß er dem Patentinhaber durch die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung erwachsene Kosten teilweise oder ganz zu tragen habe.
Die vorgenannte Entscheidung betrifft den Fall, daß aufgrund verspäteter Vorlage eines neuen Beweismittels im Beschwerdeverfahren die Sache in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nicht abgeschlossen werden konnte. Im vorliegenden Fall wurde dagegen am Ende der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung in der Sache entschieden, so daß ein mit der Situation gemäß der Entscheidung T 867/92 vergleichbarer Sachverhalt nicht vorliegt.
Aus den vorstehenden Gründen ist dem Antrag auf Kostenverteilung nicht stattzugeben.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.
3. Die Anträge auf Kostenverteilung und auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr werden zurückgewiesen.