T 0611/97 19-05-1999
Download und weitere Informationen:
Ausrichtverfahren für eine Feuerleiteinrichtung und Feuerleiteinrichtung zur Durchführung des Verfahrens
Neuheit - offenkundige Vorbenutzung (verneint)- unzureichende Beweisführung
Verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel - Zulässigkeit des Vorbringens (verneint)
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 0 314 721 zurückzuweisen.
II. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 9 betreffen ein Verfahren und eine Vorrichtung zur Korrektur von Ausrichtfehlern zwischen Laffetten und darauf angeordneten Geräten und haben den Wortlaut des Patents in der erteilten Fassung.
III. Der Einsprechende stützte sich im vorausgehenden Einspruchsverfahren auf die Einspruchsgründe mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit. Eine neuheitsschädliche Vorbenutzung sei durch Verkauf von Systemen, genannt VERA, und nicht genannter Nachfolgesysteme erfolgt. Dazu wurden im Laufe des Einspruchsverfahrens folgende Dokumente genannt, die auch als vorveröffentlichte Dokumente dem Stand der Technik zuzurechnen seien:
D1: "VERA - Video Equipment for Registration and Analysis"; Seiten 1 bis 13
D2: "Manual of the Video Equipment for Registration and Analysis (VERA)"; Teil 1; Hollandse Signaalapparaten B. V. Hengelo (O) - Niederlande; Seiten 1-1 bis 1-3
D3: "Test Report E.C., dated 1980 Sept. 25", betreffend eine Abnahmeprüfung für "Video Equipment for Registration and Analysis"
D4: "Manual of the Video Equipment for Registration and Analysis (VERA)"; Hollandse Signaalapparaten B. V. Hengelo (O) - Niederlande; Abschnitt 1
D7: "SIGNAALFLITSEN"; Jahrgang 37, Nr. 5, Juni 1985; Deckblatt und Seiten 16 - 17
D8: Übersetzung von Teilen von D7 ins Englische.
Mangelnde erfinderische Tätigkeit ist im Einspruchsschriftsatz mit dem allgemeinen Fachwissen begründet worden. Nach Ablauf der Einspruchsfrist hat der Einsprechende den Einspruchsgrund mangelnde erfinderische Tätigkeit auch noch auf die Dokumente GB-A-2 112 965 (D5), EP-A-0 105 432 (D6) und EP-A-0 173 406 (D9) gestützt.
IV. Die Einspruchsabteilung sah in der angefochtenen Entscheidung weder die Vorbenutzungen noch eine öffentliche Zugänglichmachung der Dokumente D1 bis D4 als erwiesen an. D7 wurde aber als vorveröffentlichter Stand der Technik berücksichtigt. Der Gegenstand des Streitpatents wurde gegenüber dem schriftlichen Stand der Technik D5 bis D8 als neu und erfinderisch angesehen. Das erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Dokument D9 wurde hingegen in der angefochtenen Entscheidung in Ausübung des Ermessens der Einspruchsabteilung (Art. 114 (2) EPÜ) nicht berücksichtigt, da es verspätet vorgebracht worden und von geringer Relevanz sei.
V. Der Beschwerdeführer hat mit der Beschwerdebegründung die neuen Dokumente D10 ("Zielbeobachtungs- und Aufzeichnungs-System"; ZAS 3000) und D11 ("VERITAS") sowie ein Schreiben eines Zeugen, datiert mit 29. April 1997, zu Vorbenutzungen in Verbindung mit D10 eingereicht. Er argumentierte im wesentlichen wie folgt:
a) Vorbenutzungen oder sonstige Zugänglichmachung
Der Gegenstand der Ansprüche des Streitpatents sei nicht neu. Denn der Beschwerdeführer habe vor dem Prioritätstag des Streitpatents Geschützausrichtsysteme angeboten, hergestellt und verkauft, die das patentierte Verfahren und die patentierte Vorrichtung vorwegnähmen. Der Beschwerdeführer habe diese Behauptung im Einspruchsverfahren auf die Dokumente D1, D2, D3, D4, D7 und D8 gestützt. Die Vielzahl dieser Dokumente sowie die Tatsache, daß das System VERA an elf Marinen angeboten worden sei, beweise zweifelsfrei, daß das System den interessierten Kreisen sehr wohl bekannt gewesen sei. Die Auffassung der Einspruchsabteilung, daß Lieferungen auf dem Gebiet der Militärtechnik vertraulicher Natur seien und die geltend gemachten Sachverhalte daher mangels öffentlicher Zugänglichkeit nicht zum Stand der Technik gerechnet werden könnten, sei in den besonderen Umständen dieses Falles nicht haltbar.
Die Einspruchsabteilung wäre nach Ansicht des Beschwerdeführers wahrscheinlich zu einer anderen Entscheidung gekommen, wenn Prospekte vorgelegt worden wären, mit welchen ein solches System potentiellen Kunden vor dem Prioritätstag angeboten worden wäre. Wegen interner Umorganisationen in der Firma des Beschwerdeführers seien D10 und D11 erst zum Zeitpunkt der Bearbeitung der Beschwerde aufgefunden und vorgelegt worden. Der Prospekt D10 stamme aus dem Jahre 1984, und das entsprechende System ZAS 3000 sei seit 1980 verkauft worden, wie durch das Schreiben vom 29. April 1997 bestätigt werde. Der Prospekt D11 beschreibe das im wesentlichen gleiche System VERITAS.
b) Erfinderische Tätigkeit
Die Einspruchsabteilung hätte die Patentschrift D9 trotz späten Vorbringens berücksichtigen sollen, da sie in ihrer Einleitung auf weniger als einer Seite zeige, daß der Gegenstand des Streitpatents nicht erfinderisch sei. Bei diesem Stand der Technik werde ein Geschütz mittels eines Teleskops auf oder in einem Geschützrohr auf ein Ziel eingestellt. Eine Visiereinrichtung werde dann durch Adjustierung einer Kopplung oder eines Servomechanismus für verschiedene Elevationswinkel auf dasselbe Ziel eingestellt. Beim Gegenstand des Anspruchs 1 sei demgegenüber nur das Teleskop durch ein äquivalentes Mittel, wie z. B. eine TV-Kamera, ersetzt.
c) Auslegung der Ansprüche
Die Ansprüche 1 und 9 seien nicht klar und daher auslegungsbedürftig. Die angefochtene Entscheidung habe dazu festgestellt, daß sie auch den Fall eines einzigen Geschützes mit einem einzigen Zielverfolgungsgerät (Radar) deckten. Da diese Interpretation der Ansprüche nicht mit der Pluralform der entsprechenden Ausdrücke in den Ansprüchen vereinbar sei, müsse die angefochtene Entscheidung diesbezüglich revidiert werden.
VI. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung hat die Kammer die vorläufige Ansicht vertreten, daß es sich bei den erstmals in der Beschwerdebegründung genannten Tatsachen und Beweismitteln um neue behauptete Fälle von Zugänglichmachung von Sachverhalten und somit verspätetes Vorbringen handle, welches wegen mangelhafter Angaben zu den Tatumständen und mangelnder Relevanz des Vorbringens nach Artikel 114 (2) EPÜ von der Kammer nicht berücksichtigt zu werden brauche.
VII. Der Beschwerdeführer wies in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer auf Unklarheiten der Ansprüche 1 und 9 hin und legte seine Auslegung der Ansprüche anhand schriftlich überreichter Erläuterungen dar, machte aber keine weiteren Ausführungen zu den Einspruchsgründen Neuheit und erfinderische Tätigkeit oder zu den behaupteten Vorbenutzungen.
VIII. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 0 314 721.
IX. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen. Er argumentierte im wesentlichen wie folgt:
Die Vorlage der neuen Dokumente D10 und D11 beweise, daß auch für den Beschwerdeführer die früheren Argumente nicht überzeugend seien. Selbst wenn alle diese Dokumente vorveröffentlicht worden wären, wäre der Gegenstand des Streitpatents neu und erfinderisch. Es sei irrelevant, ob nur ein Geschütz und nur ein Zielverfolgungsgerät vorhanden seien, um eine Patentverletzung bejahen zu können.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Vorbenutzungen oder sonstige Zugänglichmachung
2.1. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist die Behauptung einer offenkundigen Vorbenutzung lückenlos nachzuweisen, da der Patentinhaber in der Regel keine Möglichkeit hat, das Gegenteil zu beweisen. Bei mehreren Fällen von Zugänglichmachung durch Benutzung oder in sonstiger Weise ist für jede dieser Handlungen zu prüfen, wann und was der Öffentlichkeit unter welchen Umständen im jeweiligen Fall zugänglich gemacht worden ist und was somit Stand der Technik bildet (Art. 54 (2) EPÜ; siehe z. B. T 472/92, ABl. EPA 1998, 161, Punkte 3.1 und 3.2; bestätigt in T 97/94, ABl. EPA 1998, 467, Punkte 5 und 5.1; T 1002/92, ABl. EPA 1995, 605, Punkt 4.1; sowie die unveröffentlichte Entscheidung T 308/87, Punkt 4, die in der angefochtenen Entscheidung, Punkt III, 1.4, hierzu zitiert ist).
2.2. Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer verschiedene Systeme genannt (VERA, VERITAS, ZAS 3000), die in unterschiedlicher Weise (Angebot, Herstellung, Verkauf, Prospekte) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sein sollen. Es ist unmittelbar ersichtlich, daß durch die unterschiedlichen Handlungen, z. B. Beschreibung in einem Prospekt und Verkauf desselben Systems, der Öffentlichkeit in der Regel ein unterschiedlicher Gegenstand zugänglich gemacht wird. Denn ein Fachmann kann z. B. einem durch Verkauf uneingeschränkt öffentlich zugänglich gemachten System durch Zerlegen, Analyse, etc. technische Informationen entnehmen, die nicht notwendigerweise in dem Prospekt des Systems beschrieben sind. Die angebliche Zugänglichmachung eines Sachverhalts durch Verbreitung von Prospekten und der angebliche Verkauf eines in solchen Prospekten beschriebenen Systems stellen daher unterschiedliche Fälle von Zugänglichmachung dar, von denen jeder für sich nachgewiesen sein muß.
2.3. Die Einspruchsabteilung ist in der angefochtenen Entscheidung zur Auffassung gelangt, daß der Verkauf eines Systems VERA und die Verbreitung oder Veröffentlichung der Dokumente D1 bis D4 nicht ausreichend substantiiert sind, um als Stand der Technik gelten zu können. Der Beschwerdeführer hat hierzu nur auf die große Anzahl von Dokumenten hingewiesen, die die Vorbenutzung ingesamt zweifelsfrei belege, und behauptet, daß das System VERA an elf Marinen angeboten worden sei.
Die angefochtene Entscheidung (Punkte III.1 bis III.4) weist jedoch zu Recht darauf hin, daß nicht ausreichend nachgewiesen ist, was, wann und unter welchen Umständen (z. B. Geheimhaltung) der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag des Streitpatents zugänglich gemacht worden ist. Dies gilt nach Ansicht der Kammer sowohl für jedes der Dokumente D1 bis D4 (siehe dazu auch T 522/94, ABl. EPA 1998, 421, Punkt 27) als auch für die Vorbenutzungen. Einerseits kann die Vielzahl der Dokumente im vorliegenden Fall nicht als Beweis für die zu klärende Tatfrage angesehen werden, ob der Inhalt eines der Dokumente vor dem Prioritätstag des Streitpatents öffentlich zugänglich gemacht worden ist (Dokument als Informationsträger). Andererseits können diese Dokumente auch nicht als schlüssige Beweismittel dafür angesehen werden, welche Vorrichtungen und Verfahren tatsächlich vorbenutzt wurden, da die verschiedenen Dokumente nicht alle denselben Gegenstand beschreiben und D2 ein Datum trägt, das Jahre nach der angeblich durch D3 nachgewiesenen Abnahme liegt (Dokumente als Beweismittel). Der Beschwerdeführer hat daher nicht lückenlos nachgewiesen, daß das System VERA der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag des Streitpatents öffentlich zugänglich gemacht worden ist.
2.4. Die neu im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Fälle von angeblicher Zugänglichmachung, die einerseits durch Verbreitung von D10 und D11 selbst erfolgt sein sollen und andererseits als Vorbenutzungen durch D10 und D11 sowie durch das Schreiben eines Zeugen vom 29. April 1997 bewiesen werden sollen, stellen neue Tatsachen dar, die erstmals in der Beschwerdebegründung vorgebracht worden sind. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, daß die Gegenstände (Systeme VERITAS bzw. ZAS 3000) und Umstände der neu behaupteten Fälle andere sind. Die Kammer hat mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, daß die hierzu angegebenen Tatsachen und Beweismittel nicht ausreichten, um feststellen zu können, was, wann und unter welchen Umständen öffentlich zugänglich gemacht worden sein soll und daß dieses Vorbringen daher wegen mangelnder Relevanz der behaupteten Tatsachen und Beweismittel von der Kammer in Ausübung ihres Ermessens abgelehnt werden dürfte. Da der Beschwerdeführer hierzu keine weiteren Angaben gemacht hat, brauchen diese Tatsachen und Beweismittel somit als verspätetes Vorbringen nach Artikel 114 (2) EPÜ nicht berücksichtigt zu werden.
3. Schriftlich nachgewiesener Stand der Technik
3.1. Die angefochtene Entscheidung hat in der Begründung (Punkte III.6 bis III.12) ausgeführt, warum der Gegenstand des Streitpatents gegenüber den Dokumenten D5 bis D8 als neu und erfinderisch angesehen wird. Der Beschwerdeführer hat hierzu keinerlei Ausführungen gemacht und hat auch den Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit gestützt auf allgemeines Fachwissen nicht mehr aufgegriffen. Die Kammer sieht keinen Grund, diesbezüglich zu einem anderen Ergebnis zu kommen.
3.2. Die Einspruchsabteilung hat das erstmals in der mündlichen Verhandlung eingereichte Dokument D9 in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ als verspätet vorgebracht nicht in das Verfahren aufgenommen. Die Ausübung des Ermessens ist mit mangelnder Relevanz begründet. Nach Ansicht der Kammer hat die Einspruchsabteilung ihren Ermessenspielraum nach objektiv nachvollziehbaren Kriterien ausgeübt, die im Einklang mit der Rechtsprechung der Beschwerdekammern sind (siehe z. B. G 9/91, ABl. EPA 1993, 408, insbesondere Punkte 6 und 16, und T 1002/92, supra, Punkte 3.1 bis 3.5).
Die Kammer hat den Parteien mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung Gründe mitgeteilt, warum die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Argumente nicht von der Relevanz des Dokuments D9 überzeugen können. Der Beschwerdeführer hat hierzu nicht mehr Stellung genommen. Die Kammer sieht daher keinen Grund, das Dokument D9 in Ausübung des Artikels 114 (1) EPÜ zu berücksichtigen, da ja Artikel 114 (1) EPÜ im Beschwerdeverfahren generell restriktiver anzuwenden ist als im Einspruchsverfahren (G 9/91, supra, Punkt 18).
4. Auslegung der Ansprüche
Der Beschwerdeführer hat beantragt, die Feststellung in der angefochtenen Entscheidung (Punkt III.5) zu revidieren, daß "die Ansprüche so auszulegen sind, daß sie den Fall von einem Geschütz mit Kamera und einem Radar decken".
Nach Ansicht der Kammer entspricht eine solche Auslegung durch die Einspruchsabteilung nur einer Bewertung des Inhalts der Ansprüche im Rahmen der Prüfung der Einspruchsgründe Neuheit und erfinderische Tätigkeit und kann nicht eine Bestimmung des Schutzbereichs nach Artikel 69 (1) EPÜ vorwegnehmen. Für eine Feststellung des Schutzbereichs, etwa im Rahmen der Prüfung von unerlaubten Änderungen nach Artikel 123 (3) EPÜ, gab es beim vorliegenden Sachverhalt keine Veranlassung. Die Feststellung der Einspruchsabteilung ist daher nicht per se durch eine Beschwerde anfechtbar, sondern kann, wie mangelnde Klarheit ungeänderter Ansprüche, nur im Rahmen der Bewertung der Tatsachen zu den vorgebrachten Einspruchsgründen berücksichtigt werden. Da der Beschwerdeführer nur Erklärungen zur Interpretation der Ansprüche 1 und 9 vorgetragen hat, ohne darzulegen, inwiefern diese im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblich sein sollten, d. h. die Gegenstände solchermaßen interpretierter Ansprüche nicht neu und erfinderisch wären, sieht die Kammer keine Veranlassung, zu dieser Frage sachlich Stellung zu nehmen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.