T 1179/07 10-03-2009
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Verfahren zur Verminderung des -C1-C2-Aldehyd-Gehalts aus Verbindungen mit -CH2-CHR-O- oder -CH2-CH(OH)-Gruppen
Neuheit (verneint) - Hauptantrag, Hilfsanträge 2-4
Hilfsantrag 1 - nicht zugelassen
I. Die Erteilung des europäischen Patents Nr. 1 084 156 auf die europäische Patentanmeldung Nr. 99917936.9 der BASF AG (jetzt BASF SE), zurückgehend auf die internationale Patentanmeldung Nr. PCT/EP99/02216 und angemeldet am 31. März 1999 unter Beanspruchung der Priorität der deutschen Voranmeldung DE 19814873 vom 2. April 1998, wurde am 6. Oktober 2004 bekannt gemacht (Patentblatt 2004/41).
Das erteilte Patent enthielt 7 Ansprüche, wobei der unabhängige Anspruch 1 wie folgt lautete:
"Verfahren zur Verminderung eines unter Radikal einwirkung aus organischen Verbindungen mit -CH2-CHR-O- und/oder -CH2-CH(OH)-Gruppierungen (R = H, C1-C4-Alkyl) gebildeten Gehalts an C1-C2-Aldehyden in Substanzen, Dispersionen oder Lösungen, die solche Gruppierungen oder Verbindungen mit solchen Gruppierungen enthalten und die keine zugesetzten Verbindungen mit Aldehydderivat-Gruppen aufweisen, die bekannterweise C1-C2-Aldehyde freisetzen können, durch Zusatz von mit den Aldehydgruppen reagierenden stickstoffhattigen [sic] Verbindungen, welche den Aldehyd binden und die ausgewählt und [sic] unter Harnstoff, Harnstoff-Derivaten, Copolymeren, die Monomere mit cyclischen Harnstoffgruppen ein polymerisiert enthalten; wasserläslichen [sic] Copolymeren mit Amidgruppen; Carbamaten und cyclischen Verbindungen mit NH-Gruppen."
Die abhängigen Ansprüche 2-7 betrafen bevorzugte Ausführungsformen des Verfahrens nach Anspruch 1.
II. Gegen das Patent wurde am 4. Juli 2005 von Celanese Emulsions GmbH (Einsprechender) Einspruch erhoben. Der Einsprechende machte geltend, dass der Gegenstand des Streitpatents weder neu noch erfinderisch sei (Artikel 100 a) EPÜ).
Der Einspruch stützte sich unter anderem auf folgende Dokumente:
D1: US 4 972 013 A;
D2: EP 0 647 658 A2; und
D7: R. Hamburger et al., "Autoxidation of polyethylenic non-ionic surfactants and of polyethylene glycols", Pharm. Acta Helv., 50, Nr. 1/2 (1975), 10-17.
III. Mit der am 25. April 2007 mündlich verkündeten und am 16. Mai 2007 schriftlich begründeten Entscheidung wies die Einspruchsabteilung den Einspruch zurück. Hinsichtlich der Neuheit gegenüber D1 und D2 wurde in der Entscheidung wie folgt argumentiert:
Gemäß T 231/85 und G 6/88 stehe das Bekanntsein eines Stoffes der Neuheit einer bis dahin unbekannten Verwendung dieses Stoffes auch dann nicht neuheitsschädlich entgegen, wenn die neue Verwendung keiner anderen technischen Realisierung bedürfe als die bekannte Verwendung desselben Stoffes. Die neue Verwendung von Harnstoff gemäß Streitpatent stelle eine technische Wirkung dar, deren Erzielung als funktionelles technisches Merkmal des Anspruchs zu betrachten sei. Da dieses Merkmal aus der D1 nicht hervorgehe, sei der Gegenstand des Streitpatents gegenüber der D1 neu.
Der Gegenstand des Streitpatents sei gegenüber D2 neu, da in D2 Verbindungen zugesetzt werden, die bekannterweise C1-C2-Aldehyde freisetzen. Derartige Zusätze seien aber im Anspruch 1 des Streitpatents ausdrücklich ausgeschlossen.
IV. Gegen diese Entscheidung der Einspruchsabteilung legte der Beschwerdeführer (Einsprechender) am 20. Juli 2007 unter gleichzeitiger Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde ein. Zusammen mit der Beschwerdebegründung, eingegangen am 25. September 2007, reichte der Beschwerdeführer das Dokument D14 ein.
D14: I. Dahlquist et al., "Detection of formaldehyde in corticoid creams", Contact Dermatitis 1980 (6), 494.
Der Beschwerdeführer sah die Entgegenhaltungen D1 und D2 nach wie vor als neuheitsschädlich für den Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents an.
Die zwei in der angefochtenen Entscheidung zitierten Entscheidung seien nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar, da beide Entscheidungen explizit die Verwendung eines bekannten Stoffes für einen neuen Zweck betreffen, während in Anspruch 1 des Streitpatents ein bekanntes Verfahren gemäß D1 beansprucht werde, mit dem Zweck, entstehenden Formaldehyd durch den Harnstoff zu beseitigen. Auch wenn die Ausweitung der in T 231/85 und G 6/88 entwickelten patentrechtlichen Praxis auf Verfahrensansprüche übertragen werden könnte, könne nach T 210/93 eine funktionelle Zweckangabe, die alleine auf die Verringerung eines unerwünschten Verfahrensproduktes gerichtet sei, keine Neuheit gegenüber dem Stand der Technik begründen.
Die Ausführungen des Beschwerdeführers hinsichtlich Neuheit gegenüber D2 und erfinderischer Tätigkeit sind für diese Entscheidung nicht von Bedeutung, so dass auf sie nicht näher eingegangen wird.
V. Im Schreiben vom 11. April 2008 argumentierte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) wie folgt:
Das in D1 beschriebene Verfahren dient einem anderen Zweck (Vermeidung eines Viskositätsanstiegs im Bindemittel durch Alterung) als das beanspruchte Verfahren (Absenkung des Gehalts an C1-C2-Aldehyden). Gemäß der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer ist die Verwendung eines bekannten Stoffes zu einem neuen Zweck, der auf einem technischen Effekt beruht, als ein funktionales technisches Merkmal zu verstehen, das bei der Prüfung der Neuheit zu berücksichtigen ist. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass es nicht darum gehe, was der Stand der Technik inhärent bereits enthalte und es folglich bei der Prüfung der Neuheit nicht darum gehe, ob die im Stand der Technik beschriebene Verwendung des bekannten Stoffes den beanspruchten Verwendungszweck bereits inhärent erzielt. Die in den Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer gemachten Überlegungen sind unabhängig von der Anspruchskategorie zu sehen und grundsätzlich auch auf Verfahrensanspruche anwendbar, wie in T 1092/01 bestätigt (Punkt 17 der Entscheidungsgründe). Letztendlich ist zu prüfen, ob der beanspruchte Zweck, hier die Verringerung des Aldehydgehalts, bereits im Stand der Technik offenbart wird, wobei ein inhärent erreichter Zweck unbeachtlich ist. Der anspruchsgemäße Zweck ist aus Dl nicht bekannt. Folglich wird das beanspruchte Verfahren durch Dl nicht vorweggenommen.
Weiterhin reichte der Beschwerdegegner neue Anspruchssätze (Hilfsanträge 1-3) ein.
VI. Mit Schreiben vom 24. Februar 2009 machte der Beschwerdeführer noch einmal deutlich, dass sich die Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer (G 2/88 und G 6/88) explizit auf neue Verwendungen eines bekannten Stoffes beziehe und sich somit nicht einfach auf anders formulierte Ansprüche, wie z. B. Verfahrensansprüche, ausweiten lasse. In diesem Zusammenhang wurde auf T 684/02 verwiesen.
Ferner sei der jeweilige Anspruch 1 der Hilfsanträge 1-3 nicht neu gegenüber D1 und D2.
VII. Am 10. März 2009 hat eine mündliche Verhandlung vor der Kammer stattgefunden.
a) Bezüglich des Hauptantrags konzentrierte sich die Diskussion auf die Frage, ob die Zweckangabe in Anspruch 1 gegenüber D1 ein neuheitsbegründendes Merkmal darstelle. Die Parteien wiederholten dabei im Wesentlichen ihre bereits schriftlich vorgetragenen Argumente. Zusätzlich machte der Beschwerdeführer geltend, dass es sich bei der vermeintlichen Entdeckung, dass organische Verbindungen mit -CH2-CHR-O- und/oder -CH2-CH(OH)-Gruppierungen unter Radikaleinwirkung C1-C2-Aldehyde abspalten, bereits aus D7 und D14 bekannt gewesen sei. Somit handle es sich bei der Zweckangabe in Anspruch 1 nicht einmal um eine neue Verwendung von Harnstoff.
Die Kammer wies darauf hin, dass eine Ausweitung der in G 2/88 und G 6/88 entwickelten Überlegungen für Verwendungsansprüche auf Verfahrensansprüche auch im Hinblick auf das unterschiedliche Verhältnis der beiden Anspruchskategorien zu Artikel 64(2) EPÜ problematisch erscheine. In diesem Zusammenhang verwies sie auf T 1049/99 und T 910/98. Der Beschwerdegegner vertrat diesbezüglich die Ansicht, dass Anspruch 1 des Streitpatents kein Herstellungs- sondern ein Bearbeitungsverfahren betreffe, dem kein unmittelbarer Produktanspruch gemäß Artikel 64(2) EPÜ zukomme. Der Beschwerdeführer widersprach dieser Auffassung, da es sich bei dem Verfahren gemäß Anspruch 1 de facto um ein klassisches Herstellungsverfahren handle, d. h. ein Ausgangsprodukt erhält durch die Zugabe einer Verbindung eine chemische Veränderung und resultiert in einem Endprodukt, das sich eindeutig von dem Ausgangsprodukt unterscheidet.
b) Nach der Diskussion des Hauptantrags überreichte der Beschwerdegegner einen neuen 1. Hilfsantrag und beantragte, ihn in das Verfahren einzuführen. Die im schriftlichen Verfahren eingereichten Hilfsanträge sollten entsprechend in 2., 3. und 4. Hilfsantrag umnummeriert werden.
c) Die Ansprüche des 1. Hilfsantrags unterschieden sich von den erteilten Ansprüchen lediglich dadurch, dass am Ende von Anspruch 1 folgender Disclaimer eingefügt worden ist:
" , ausgenommen der Zusatz von Harnstoff zu einer Polyvinylalkohol-stabilisierten Vinylacetat/Ethylen-Polymeremulsion."
d) Anspruch 1 des 2. Hilfsantrags unterscheidet sich (abgesehen von der Korrektur der offensichtlichen Fehler "stickstoffhaltigen", "ausgewählt sind unter", "wasserlöslichen") vom erteilten Anspruch 1 dadurch, dass "in Substanzen, Dispersionen oder Lösungen" eingeschränkt worden ist auf:
" in wässrigen Polymerdispersionen oder -lösungen, die durch radikalische Polymerisation von olefinisch ungesättigten Monomeren in Gegenwart von organischen Verbindungen mit -CH2-CHR-O- und/oder -CH2-CH(OH)-Gruppierungen (R = H, C1-C4-Alkyl) hergestellt sind und, "
Die Ansprüche 2-6 entsprachen den erteilten, abhängigen Ansprüchen 2-5 und 7.
e) Anspruch 1 des 3. Hilfsantrags unterschied sich von Anspruch 1 des 2. Hilfsantrags dadurch, dass die stickstoffhaltigen Verbindungen, welche den Aldehyd binden, nur mehr ausgewählt sind unter Harnstoff und Harnstoff-Derivaten.
Die Ansprüche 2-5 entsprachen den erteilten, abhängigen Ansprüchen 2-4 und 7.
f) Anspruch 1 des 4. Hilfsantrags unterschied sich von Anspruch 1 des 3. Hilfsantrags dadurch, dass die Möglichkeit, dass der Formaldehyd aus Verbindungen mit -CH2-CH(OH)-Gruppierungen stammt, gestrichen wurde.
Die Ansprüche 2-4 entsprachen den erteilten, abhängigen Ansprüchen 3, 5 und 7.
g) Der Beschwerdegegner beantragte, den neuen 1. Hilfsantrag nicht in das Verfahren zuzulassen, da er, abgesehen von der verspäteten Einreichung, grundsätzliche Fragen hinsichtlich der Abgrenzung gegenüber D1 aufwerfe.
h) Bezüglich des 2., 3. und 4. Hilfsantrags führte der Beschwerdeführer aus, dass das Beispiel 1 der D1 alle Merkmale des jeweiligen unabhängigen Anspruchs dieser Anträge offenbare.
Der Beschwerdeführer machte keine Ausführungen im Hinblick auf die Hilfsanträge.
VIII. Der Beschwerdeführer beantragte, die Entscheidung der Einspruchabteilung aufzuheben und das Patent in vollem Umfang zu widerrufen.
Der Beschwerdegegner beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen. Hilfsweise beantragte er, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben, und das Patent im Umfang der Ansprüche 1-7 gemäß 1. Hilfsantrag, überreicht während der mündlichen Verhandlung, oder im Umfang der Ansprüche 1-6 gemäß 2. Hilfsantrag, oder im Umfang der Ansprüche 1-5 gemäß 3. Hilfsantrag oder im Umfang der Ansprüche 1-4 gemäß 4. Hilfsantrag aufrechtzuerhalten, die Hilfsanträge 2-4 eingereicht als Hilfsanträge 1-3 mit Schreiben vom 11. April 2008.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Hauptantrag (Ansprüche wie erteilt)
2.1 Neuheit
2.1.1 Dl offenbart wässrige Polymerdispersionen von Vinylacetat/Ethylen-Copolymeren, die durch radikalische Polymerisation in Gegenwart von Polyvinylalkohol hergestellt wurden. In Beispiel 1 von D1 wird durch radikalische Polymerisation von Vinylacetat und Ethylen in Gegenwart einer Mischung aus Vinol 205, Vinol 107 und Igepal CO-887 eine Emulsion eines Vinylacetat/Ethylen-Copolymers hergestellt. Vinol 205 und Vinol 107 sind Polyvinylalkohole mit unterschiedlichem Hydrolysierungsgrad, Igepal CO-887 ist Nonylphenoxy poly(ethylenoxy)ethanol mit einem HLB-Wert von 17.2. Vinol 205 und Vinol 107 enthalten -CH2-CH(OH)-Gruppierungen, Igepal CO-887 enthält -CH2-CHR-O-Gruppierungen (R=H). Damit sind Vinol 205, Vinol 107 und Igepal CO-887 organische Verbindungen, wie sie in Anspruch 1 des Streitpatents angesprochen werden. Zu der in Beispiel 1 von D1 hergestellten Emulsion wird außerdem Harnstoff zugesetzt. Weiterhin ist davon auszugehen, dass unter diesen radikalischen Polymerisationsbedingungen entsprechende Aldehyde gebildet werden. Dies hat selbst der Beschwerdegegner in seinem Schreiben vom 11. April 2008 eingeräumt (Punkt 2 des Schreibens).
Somit beschreibt D1 alle Verfahrensmerkmale des Anspruchs 1 des Streitpatents. Der einzige Unterschied gegenüber D1 besteht darin, dass das in D1 beschriebene Verfahren einem anderen Zweck dient als das beanspruchte Verfahren. In D1 wird der Harnstoff nicht zur Verringerung des Aldeyhd-Gehalts zugesetzt, sondern dient zur Vermeidung eines Viskositätsanstiegs im Bindemittel durch Alterung (Spalte 4, Zeile 58 bis Spalte 5, Zeile 2).
2.1.2 Es bleibt daher zu prüfen, ob die im beanspruchten Verfahren genannte Zweckangabe, nämlich die Verminderung eines unter Radikaleinwirkung aus organischen Verbindungen mit -CH2-CHR-O- und/oder -CH2-CH(OH)-Gruppierungen (R = H, C1-C4-Alkyl) gebildeten Gehalts an C1-C2-Aldehyden, dem beanspruchten Verfahren die Neuheit gegenüber der Offenbarung der D1 verleihen kann.
Der Beschwerdegegner sah in dieser Zweckangabe ein funktionales technisches Merkmal im Sinne von G 2/88 (ABl. EPA 1990, 93) und G 6/88 (ABl. EPA 1990, 114), das bei der Prüfung der Neuheit zu berücksichtigen sei. Die in diesen Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer gemachten Überlegungen seien unabhängig von der Anspruchskategorie zu sehen und grundsätzlich auch auf Verfahrensansprüche anwendbar. Dies gelte umso mehr, da das beanspruchte Verfahren eher eine Verwendungslehre als ein Herstellungsverfahren betreffe. Letztendlich sei nur zu prüfen, ob der beanspruchte Zweck, hier die Verringerung des Aldehydgehalts, bereits durch den Stand der Technik offenbart werde, wobei ein inhärent ereichter Zweck unbeachtlich sei.
2.1.3 Der Leitsatz von G 6/88, der mit dem von Punkt III aus G 2/88 übereinstimmt, lautet wie folgt:
"Ein Anspruch, der auf die Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bestimmten Zweck gerichtet ist, der auf einer in dem Patent beschriebenen technischen Wirkung beruht, ist dahingehend auszulegen, daß er diese technische Wirkung als funktionelles technisches Merkmal enthält; ein solcher Anspruch ist nach Artikel 54(1) EPÜ dann nicht zu beanstanden, wenn dieses technische Merkmal nicht bereits früher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist."
Daraus folgt, dass die maßgebenden Überlegungen in G 2/88 und G 6/88 einen Anspruch betreffen, der auf die Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bisher nicht bekannten Zweck gerichtet ist. Zu zweckgebundenen Verfahrensansprüchen finden sich in den vorstehend genannten Entscheidungen keine Ausführungen. Obwohl die "Verwendung eines Stoffes" als Verfahren betrachtet werden kann, das als Verfahrensschritt die Verwendung des Stoffes enthält, ist ein Verwendungsanspruch normalerweise nicht einem Verfahrensanspruch gleichzusetzen, da in der Regel Artikel 64(2) EPÜ auf einen Verwendungsanspruch nicht anwendbar ist. Nach Meinung der Großen Kammer in G 2/88, Punkt 5.1 der Entscheidungsgründe, bezieht sich Artikel 64(2) EPÜ in der Regel nicht auf ein Patent in dem die Verwendung eines Erzeugnisses zur Erzielung einer Wirkung beansprucht wird (dies ist üblicherweise Gegenstand eines Verwendungsanspruchs), sondern vielmehr auf ein europäisches Patent, dessen beanspruchter technischer Gegenstand ein Verfahren zur Herstellung eines Erzeugnisses ist.
Im vorliegenden Fall ist das beanspruchte Verfahren trotz der Zweckangabe eindeutig auf die Herstellung eines Produktes gerichtet. In diesem Verfahren wird Ausgangsverbindungen (Substanzen, Dispersionen oder Lösungen, die -CH2-CHR-O- und/oder -CH2-CH(OH)-Gruppen oder Verbindungen mit solchen Gruppen enthalten) eine bestimmte stickstoffhaltige Verbindung zugesetzt. Durch diese Zugabe der stickstoffhaltigen Verbindung wird der Gehalt an C1-C2-Aldehyden in der Substanz, Dispersion oder Lösung verringert. Mit anderen Worten, durch eine Verfahrensmaßnahme am Ausgangsprodukt wird ein Endprodukt erzeugt, das sich vom Ausgangsprodukt unterscheidet. Würde die Kammer die Schlussfolgerungen aus G 2/88 und G 6/88 auf den erteilten Verfahrensanspruch übertragen, hätte dies zur Folge, dass das Produkt des erteilten Verfahrensanspruchs 1 über Artikel 64(2) EPÜ noch mal geschützt würde, obwohl dieses Produkt aus D1 bekannt ist und nach genau dem gleichen Verfahren in D1 beschriebenen Verfahren hergestellt worden ist. Es kann aber nicht Sinn und Zweck des Artikels 64(2) EPÜ sein, dass sich der Schutz dieses Artikels auch auf ein durch ein bekanntes Verfahren hergestelltes Erzeugnis erstreckt.
Es ist insbesondere diese unterschiedliche Beziehung eines Verfahrens- und Verwendungsanspruchs zu Artikel 64(2) EPÜ, die nach Meinung der Kammer keinen Spielraum dafür lässt, die von der Großen Kammer in G 2/88 und G 6/88 entwickelten Grundsätze hinsichtlich der Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bisher nicht bekannten Zweck auf Verfahrensansprüche auszudehnen.
Die Auffassung, dass die Kriterien, die die Große Kammer in den vorstehend genannten Entscheidungen aufgestellt hat, nur im Zusammenhang mit der Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bisher nicht bekannten Zweck gelten und nicht ohne weiteres auf Verfahrensansprüche übertragen werden können, findet sich auch in den Entscheidungen T 684/02 vom 12. Oktober 2007 (Punkt 5.3.4 und 5.3.5 der Entscheidungsgründe), T 910/98 vom 30. Oktober 2001 (Punkt 2.2.2 der Entscheidungsgründe) und T 1049/99 vom 9 November 2004 (Punkt 8.4.4 und 8.5 der Entscheidungsgründe), wobei keine der Entscheidungen im ABl. EPA veröffentlicht ist.
2.1.4 Aus den vorstehenden Überlegungen folgt, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gegenüber dem Beispiel 1 der D1 nicht mehr neu ist, da die Zweckangabe in dem beanspruchten Verfahren nicht als neuheitsbegründendes Merkmal im Sinne von G 2/88 und G 6/88 herangezogen werden kann.
2.1.5 Das vom Beschwerdegegner vorgebrachte Argument, dass es sich bei dem beanspruchten Verfahren um keine Herstellungs- sondern eher um ein Bearbeitungsverfahren (entsprechend einer Verwendungslehre) handle, dem kein Produktschutz gemäß Artikel 64(2) EPÜ zukomme, greift im vorliegenden Fall nicht. Bei dem beanspruchten Verfahren handelt es sich, wie oben ausgeführt, trotz der Zweckangabe de facto um ein klassisches Verfahren zur Herstellung eines Produktes.
Auch die vom Beschwerdeführer zitierte Entscheidung T 1092/01 vom 26. April 2005 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) führt zu keiner anderen Bewertung der Sachlage. Diese Entscheidung postuliert zwar in Punkt 17 der Entscheidungsgründe, dass das Grundprinzip der G 2/88 auch auf einen Verfahrensanspruch übertragbar sei, gibt dafür aber keine nähere Begründung. Letztendlich kommt aber auch diese Entscheidung zu dem Schluss, dass die Zweckangabe in dem Verfahrensanspruch die Neuheit nicht begründen kann (Punkt 21 der Entscheidungsgründe).
2.1.6 Da der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gegenüber Beispiel 1 der D1 nicht neu ist, erübrigt sich eine Diskussion von D2.
3. 1. Hilfsantrag
In der mündlichen Verhandlung hat der Beschwerdegegner einen neuen 1. Hilfsantrag (Ansprüche 1-7) eingereicht, um dem Einwand zu begegnen, dass die Zweckangabe in Anspruch 1 die Neuheit des beanspruchten Verfahrens gegenüber D1 nicht begründen kann. Die Ansprüche des 1. Hilfsantrags unterschieden sich von den erteilten Ansprüchen 1-7 lediglich dadurch, dass am Ende des Anspruchs 1 folgender Disclaimer eingefügt worden ist:
" , ausgenommen der Zusatz von Harnstoff zu einer Polyvinylalkohol-stabilisierten Vinylacetat/Ethylen-Polymerisation."
Nach Aussage des Beschwerdegegners soll damit die im Hinblick auf die vorliegende Erfindung zufällige Lehre der D1 von dem beanspruchten Verfahren ausgeschlossen werden.
Abgesehen von der Tatsache, dass der neue 1. Hilfsantrag sehr spät vorgelegt worden ist (der Einwand, dass die Zweckangabe im erteilten Anspruch 1 die Neuheit des beanspruchten Verfahrens nicht begründen kann, wurde bereits in der Beschwerdebegründung erhoben), ist unklar, ob der Disclaimer in Anspruch 1 des 1. Hilfsantrags überhaupt eine geeignete Abgrenzung gegenüber D1, insbesondere gegenüber Beispiel 1 der D1, herstellen kann. Beispiel 1 der D1 beschreibt nämlich, wie unter Punkt 2.1.1 oben, ausgeführt, die Herstellung einer Polymeremulsion in Anwesenheit einer Mischung aus Polyvinylalkoholen und Igepal CO-887 (Nonylphenoxy poly(ethylenoxy)ethanol). Es ist unklar, ob sich der eingeführte Disclaimer auch auf solche Mischungen mit Polyvinylalkohol erstreckt oder nicht. Allein schon aus diesem Grund hat die Kammer diesen neuen 1. Hilfsantrag nicht in das Verfahren zugelassen.
4. 2., 3. und 4. Hilfsantrag
Im jeweiligen Anspruch 1 der weiteren Hilfsanträge wird das Verfahren durch die Aufnahme weiterer Merkmale präzisiert. In Anspruch 1 des 2. Hilfsantrags wird "in Substanzen, Dispersionen oder Lösungen" ersetzt durch "in wässrigen Polymerdispersionen oder -lösungen, die durch radikalische Polymerisation von olefinisch ungesättigten Monomeren in Gegenwart von organischen Verbindungen mit -CH2-CHR-O- und/oder -CH2-CH(OH)-Gruppierungen (R = H, C1-C4-Alkyl) hergestellt sind". Anspruch 1 des 3. Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des 2. Hilfsantrags dadurch, dass zusätzlich noch die stickstoffhaltigen Verbindungen, welche den Aldehyd binden, auf Harnstoff und Harnstoff-Derivate eingeschränkt werden. Anspruch 1 des 4. Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des 3. Hilfsantrags dadurch, dass die organischen Verbindungen auf solche mit -CH2-CHR-O-Gruppierungen beschränkt werden.
Aber kein Anspruch 1 der weiteren Hilfsanträge kann die Neuheit gegenüber dem Beispiel 1 der D1 herstellen, das, wie unter Punkt 2.1.1 oben, gezeigt, auch alle zusätzlich aufgenommen Merkmale des beanspruchten Verfahrens beschreibt (radikalische Polymerisation von olefinisch ungesättigten Monomeren in Gegenwart von Polyvinylalkoholen und Igepal CO-887 (Nonylphenoxy poly(ethylenoxy)ethanol), Zugabe von Harnstoff) Somit sind der 2., 3. und 4. Hilfsantrag, zu denen sich der Beschwerdegegner weder im schriftlichen Verfahren noch in der mündlichen Verhandlung geäußert hat, nicht gewährbar.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.