Thomas Scheibel
Künstliche Spinnenseide
Finalist für den Europäischen Erfinderpreis 2018
Aus mehr als 300 Millionen Jahren Evolution ist eines der widerstandsfähigsten Materialien hervorgegangen, die es auf der Erde gibt: die Seidenfasern eines Spinnennetzes. Dem deutschen Chemiker Thomas Scheibel ist es zu verdanken, dass Spinnenseide nun endlich in Massenfertigung hergestellt und damit zu einer industriellen Faser der Zukunft avancieren kann. Die Entwicklung eines Verfahrens zur Fertigung biotechnologisch hergestellter Spinnenseide in industriellem Maßstab, das von dem deutschen Start-up-Unternehmen AMSilk eingesetzt wird, eröffnet neue Möglichkeiten für die Textilbranche, für Kosmetika und Medizin.
Spinnennetze zählen zu den robustesten Strukturen, die die Natur hervorgebracht hat. Leicht sind sie und fast unsichtbar, und dank der unglaublichen Widerstandskraft der Spinnenseide können sie auf bis zu 140 Prozent ihrer Länge gedehnt werden, ohne zu reißen. Spinnenseide ist tatsächlich fünfmal fester als Stahl und dreimal so fest wie die in schusssicheren Westen verwendete Faser Kevlar®.
Weder in der Wissenschaft noch in der chemischen Industrie war es bislang gelungen, Spinnenseide in einem für die großmaßstäbliche Produktion tauglichen Verfahren herzustellen. Im Gegensatz zur traditionellen Seide, die von Seidenraupen in großen Mengen produziert wird, stellen Spinnen nur kleine Mengen ihrer robusten Fäden her. Außerdem eignen sich Spinnen aufgrund ihrer kannibalischen Verhaltensweisen und ihres Territorialverhaltens nicht für die Haltung auf Seidenfarmen.
Um dieses Problem zu überwinden, entschloss sich der deutsche Biochemiker Thomas Scheibel dazu, die Spinnen aus der Gleichung herauszunehmen: Sein patentiertes Verfahren beruht auf dem Einsatz gentechnisch veränderter E.coli-Bakterien. Diese werden genetisch so umprogrammiert, dass sie Spinnenseidenproteine produzieren. In einem komplexen mechanischen Verfahren, an dessen Perfektionierung über Jahre hinweg gefeilt wurde, werden diese Eiweiße dann zu ultrafester Spinnenseide "versponnen".
Scheibels Spinnenseide wurde 2014 von dem Münchner Start-up-Unternehmen AMSilk auf den Markt gebracht und steht nun in ausreichenden Mengen für industrielle Anwendungen auf verschiedenen Gebieten zur Verfügung, angefangen von bioverträglichen medizinischen Implantaten über besonders leichte Sportschuhe bis hin zu atmungsaktivem Nagellack.
Gesellschaftlicher Nutzen
Die Erfindung macht es möglich, die Märkte mit großen Mengen eines neuen "Supermaterials" zu versorgen. Das Vermögen der Spinnenseide, Kräften von 4,5 Gigapascal (GPa) standzuhalten, übertrifft bei Weitem die Widerstandskraft von Bambus (1 GPa), menschlichem Zahnschmelz (0,5 GPa) oder Holz (0,3 GPa). Ein Faden Spinnenseide, der lang genug ist, um die ganze Erde damit zu umwickeln, würde mittlerweile weniger wiegen als ein Stück Seife. Das Material wird auch zur Beschichtung medizinischer Implantate eingesetzt, da es biokompatibel ist und daher nur ein geringes Risiko birgt, körperliche Abwehrmechanismen auszulösen.
Scheibels Verfahren kommt völlig ohne Tiere aus. Konventionelle Seide wird aus den Kokons der Seidenraupe gewonnen. Dabei müssen zur Herstellung eines einzigen Seidenkleids unter Umständen über 50 000 Seidenraupen ihr Leben lassen. Bei anderen Ansätzen zur Gewinnung von Spinnenseide kommen noch immer Tiere zum Einsatz: So spinnen "transgene" Seidenraupen Kokons, die Spinnenseide enthalten, und es gibt genmanipulierte Ziegen, die Seidenproteine produzieren, die in ihrer Milch enthalten sind.
Economic benefit
Um seine patentierte Erfindung im industriellen Maßstab zur Anwendung bringen zu können, gründete Scheibel 2008 das Unternehmen AMSilk mit. Es handelt sich um eine Ausgründung der Technischen Universität München (TUM) mit Sitz in Planegg-Martinsried in unmittelbarer Nähe von München. Mehrheitsgesellschafterin ist die AT Newtec GmbH, die TMU ist Minderheitsgesellschafterin; bislang stellten die Investoren Wagniskapital in Millionenhöhe zur Verfügung, und das Unternehmen beschäftigt etwa 30 Mitarbeiter .
AMSilk verkauft Stoffe aus hochreinen Seidenproteinen, die es in drei Produktlinien herstellt: erstens Inhaltsstoffe für kosmetische Produkte, einschließlich atmungsaktiver "Seidengels" und Kapseln mit "Seidenperlen" mit kontrollierter Wirkstoffabgabe für Gels oder Cremes etc., zweitens Stoffe für medizinische Produkte wie beispielsweise Beschichtungen für medizinische Implantate, und drittens eine biologisch abbaubare Hochleistungsfaser, die unter der Bezeichnung "Biosteel" vermarktet wird und etwa 15 % leichter ist als herkömmliche synthetische Fasern.
Im Frühjahr 2017 brachte AMSilk einen atmungsaktiven Nagellack auf Wasserbasis heraus. Dieser wird in Lizenz von Ocean Pharma vermarktet. Bereits ein Jahr zuvor hatte Adidas den Prototyp eines Sportschuhs mit der Faser entwickelt, und für medizinische Implantate, die mit Spinnenseide beschichtet sind, laufen in Europa gerade klinische Prüfungen beim Implantathersteller Polytech.
Scheibels synthetische Fasern machen sich auf dem globalen Markt für Biopolymere bereits deutlich bemerkbar. Dieser Markt generierte im Jahr 2015 mehr als 5,6 Mrd. Einnahmen. 39 % des Umsatzes entfielen auf Europa, und zwar überwiegend auf Verpackungen aus Biokunststoffen. Aber auch auf den Weltmarkt für traditionelle Seide, dem bis 2021 ein Wachstum auf knapp 14 Mrd. EUR prognostiziert wird, könnte die Erfindung sich spürbar auswirken.
Funktionsweise
Um den Vorgang nachzubilden, mit dessen Hilfe Spinnen in ihren Drüsen Seide herstellen, musste die Bionik, auch als "Biomimetik" bezeichnet, bemüht werden. Dabei geht es darum, Phänomene aus der Natur im Labor zu imitieren. Dazu verfolgte Thomas Scheibel einen zweistufigen Ansatz.
Zunächst schuf er genetisch veränderte E.coli-Bakterien, in die er durch Gentransfer Gene der Europäischen Gartenkreuzspinne eingesetzt hatte. Diese biotechnologisch hergestellten E.coli-Bakterien produzierten dann Spinnenseidenproteine, indem sie beispielsweise Rüben oder Zuckerrohr fermentierten.
Dieser Vorgang lieferte also das Rohmaterial für die Spinnenseide, das hochreine Seidenprotein. Der Mechanismus, der es den Spinnen ermöglicht, Seidenfäden zu ziehen, um Netze zu spinnen, erwies sich jedoch als ebenso komplex. Das feine Proteingespinst der Spinnen enthält pro Faden bis zu 1 500 Einzelfasern. Sie werden in den sogenannten Spinndrüsen synthetisiert.
Schließlich gelang es Scheibel, ein mechanisches Verfahren zu entwickeln, das den Vorgang nachbildet, mit dem Spinnen den Faden zum Spinnen ihrer Netze "extrudieren". Die Nachbildung dieses Vorgangs im Labor lieferte das letzte Puzzleteil, das noch fehlte, um Spinnenseide künstlich herstellen zu können.
Der Erfinder
Nach seiner Promotion in Biochemie an der Universität Regensburg im Jahr 1998 verbrachte Thomas Scheibel drei Jahre als Postdoktorand an der Universität Chicago, wo er im Bereich moderner Verfahren in der Molekulargenetik forschte. Ab 2001 lag sein Forschungsschwerpunkt als Dozent an der TUM auf den technischen Anwendungen natürlich vorkommender proteinbasierter Materialien wie Spinnenseide.
Heute ist Scheibel Inhaber des Lehrstuhls für Biomaterialien an der Universität Bayreuth in Deutschland. Er organisiert Biochemie-Symposien mit, beispielsweise die Konferenz für bioinspirierte Materialien der Deutschen Gesellschaft für Materialkunde (DGM), und ist als Erfinder in sieben erteilten europäischen Patenten genannt, weitere Anmeldungen sind noch anhängig. Er hat 112 Fachartikel, die einem Peer-Review unterzogen wurden, 54 Übersichtsartikel sowie 18 Buchbeiträge verfasst.
Seine Forschung und seine Tätigkeit auf dem Gebiet der Produktentwicklung haben Thomas Scheibel zahlreiche Auszeichnungen eingebracht, beispielsweise den Innovationsanerkennungspreis des Bayerischen Ministerpräsidenten (2006), die Heinz-Maier-Leibnitz-Medaille (2007) und den DECHEMA-Preis der Max-Buchner Forschungsstiftung (2013). 2014 wurde er in die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech) aufgenommen.
Wussten Sie das?
Thomas Scheibel erforschte ganz genau, wie Spinnen ihre stabilen Netze produzieren, und bildete diesen Vorgang nach. Dieser Zweig der Forschung zur Schaffung von Innovationen nennt sich Biomimetik oder Bionik. Dabei geht es darum, zum Nutzen unserer hochtechnisierten Gesellschaft die Natur zu imitieren. Um Spinnenseide ganz ohne den Einsatz von Tieren in E.coli-Bakterien zu produzieren, griff Scheibel zur Genmanipulation, indem er die entsprechende DNA zur Spinnenseidenproduktion in E.coli-Bakterien einbrachte.
2006 gewannen die Forscher Zbigniew Janowicz und Cornelius Hollenberg den Europäischen Erfinderpreis in der Kategorie "Industrie" für ihren "Trick", Hansenula-Hefe dazu zu bringen, Proteine für die Herstellung eines neuen Impfstoffs gegen Hepatitis B zu produzieren.
Die ultrafesten Fasern von AMSilk sind auch nicht das erste futuristische Material, das seinen Schöpfern Erfolg beim Europäischen Erfinderpreis beschert. 2010 gewannen die deutschen Forscher Jürgen Pfitzer und Helmut Nägele vom Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie (ICT) den Preis in der Kategorie "KMU" für ihren Biokunststoff Arboform aus "flüssigem Holz". Weitere Zukunftswerkstoffe sind zum Beispiel der mit Stahldrahtelementen bewehrte Beton der niederländischen Erfinderin Ann Lambrechts (Gewinnerin in der Kategorie "Industrie" 2011) und der von Luigi Cassar, Gian Luca Guerrini und seinem Team entwickelte selbstreinigende Beton (Finalisten in der Kategorie "Industrie" 2014).
Media gallery
Kontakt
Fragen zum Europäischen Erfinderpreis und zum Young Inventors Prize:
european-inventor@epo.org Erfinderpreis Newsletter abonnierenMedienanfragen:
Kontaktieren Sie unser Presse-Team#InventorAward #YoungInventors