R 0001/10 (Offensichtlich unzulässiger Überprüfungsantrag/Ahrweiler) 22-02-2011
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Vorrichtung und Verfahren zum Messen von Unterdruckschwankungen in einer Melkanlage
Ahrweiler, Christian
Schütte, Eckhard
Octrooibureau Van der Lely N.V.
GEA WestfaliaSurge GmbH
Beschwerdekammern nach dem EPÜ rechtsstaatlich ausgestaltete Gerichtsbarkeit (ja)
Vorgreiflichkeit der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in Verfahren vor den Beschwerdekammern (nein)
Nicht im EPÜ verankertes Recht als Prüfungsmaßstab für die Vorschriften des EPÜ und deren Verwerfung durch die Beschwerdekammern (nein)
Ausdrückliche Rüge von Verfahrensfehlern als Zulässigkeitsvoraussetzung von Überprüfungsanträgen nach Artikel 112a EPÜ erfüllt (nein)
I. Mit ihrer am 17. Dezember 2009 den Beschwerdegegnern (Antragstellern in diesem Überprüfungsverfahren) zugestellten Entscheidung vom 19. November 2009 hat die Technische Beschwerdekammer 3.2.04 in der Sache T 1888/06 deren europäisches Patent Nr. 1 152 655 widerrufen. Patentinhaber waren zwei natürliche Personen, die beide im Rubrum erster Instanz und auch in der Beschwerdeschrift genannt sind, nicht jedoch in der schriftlichen Fassung ihrer Entscheidung und auch nicht im Protokoll der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Dessen ungeachtet hat ihr gemeinsamer Vertreter den vorliegenden Antrag nach Artikel 112a EPÜ am 1. März 2010 in beider Namen gestellt und die entsprechende Antragsgebühr entrichtet.
Ihr Überprüfungsschriftsatz enthält zwar keinen ausdrücklichen Antrag, jedoch greift er unzweifelhaft die Widerrufsentscheidung der Beschwerdekammer wegen eines schwerwiegenden Verfahrensverstoßes im Sinne des Artikels 112a (2) lit. c in Verbindung mit Artikel 113 EPÜ sowie eines sonstigen in der Ausführungsordnung genannten schwerwiegenden Verfahrensmangels nach Artikel 112a (2) lit. d in Verbindung mit Regel 104 EPÜ an. Sinngemäß geht es um die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und eine Wiedereröffnung des Verfahrens vor der zuständigen Beschwerdekammer gemäß Regel 108 (3) EPÜ. Zur Begründung dessen haben die Antragsteller im Einzelnen ausgeführt:
II. Im Beschwerdeverfahren hätten sie mit ihrer Beschwerdeerwiderung vom 21. September 2007 ausdrücklich um eine Zwischenmitteilung der Kammer gebeten, um noch rechtzeitig sich als notwendig erweisende Hilfsanträge einreichen zu können. Gleichwohl habe die Kammer weder vor noch nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 28. Juli 2009 und auch nicht bis zu deren Ende ihre Einschätzung des Falles zu erkennen gegeben. Auch sei ihr Antrag auf Vertagung der mündlichen Verhandlung zurückgewiesen worden. Am Ende der Verhandlung hätten sie 4 Hilfsanträge eingereicht, von denen drei zugelassen, der vierte jedoch als verspätet zurückgewiesen worden sei.
Bei dieser Verfahrensführung habe die Beschwerdekammer nicht berücksichtigt, dass verfahrensleitende Mitteilungen eher die Regel als die Ausnahme seien und deshalb im vorliegenden Fall eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber sachverhaltlich gleichgelagerten Fällen vorliege, bei denen eine Mitteilung ergangen sei. Ohne Kenntnis der vorläufigen Einschätzung des Falles durch die Kammer hätten sie keine rechtzeitige vertiefende Stellungnahme zusammen mit neuen Hilfsanträgen einreichen können.
Angesichts dessen liege in der Nichtzulassung ihres vierten Hilfsantrags eine gegen den Gleichheitssatz verstoßende und deshalb fehlerhafte Ermessensausübung und folglich auch ein schwerwiegender Verfahrensverstoß gegen Artikel 113 EPÜ.
III. In der Verweigerung einer Terminsverlegung sei ein weiterer schwerwiegender Verfahrensverstoß in Form der Missachtung ihres Rechts auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 EPÜ zu sehen. Denn die Kammer habe auch insoweit von ihrem Ermessen fehlerhaft Gebrauch gemacht. Richtigerweise hätte sie nämlich die bisherige Verfahrensdauer und die durch eine Verlegung entstehende Verzögerung in ein vernünftiges Verhältnis zueinander setzen und zudem berücksichtigen müssen, dass die Patentinhaber bereit gewesen seien, die durch eine Terminsverlegung entstehenden Kosten zu übernehmen, und ausdrücklich um eine Zwischenmitteilung zur Straffung des Verfahrens und zur rechtzeitigen Stellung zielführender Hilfsanträge gebeten hätten.
IV. Der Überprüfungsantrag sei ferner begründet, weil die Rügepflicht nach Regel 106 EPÜ in unzulässiger Weise das Recht nach Artikel 112a EPÜ beschränke und im Übrigen nicht im Einklang mit Artikel 125 EPÜ stehe. Als Beleg dafür verwiesen sie auf die weniger strengen Revisionsvoraussetzungen der deutschen Zivilprozessordnung. Aus diesem Grund sei der vorliegende Überprüfungsantrag als zulässig zu erachten, auch wenn sie die dargelegten Verfahrensfehler in der mündlichen Verhandlung nicht in der gebotenen Form ausdrücklich gerügt hätten.
V. In weiteren Schriftsätzen vom 23. Juni 2010, 14. Juli 2010 und 9. Dezember 2010 haben die Antragsteller ihr Vorbringen zur nach ihrer Auffassung zwingend gebotenen Übersendung einer Mitteilung zum Sach- und Streitstand vertieft. Dabei haben sie insbesondere auf die Grundgedanken des EPÜ, auf Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie auf Prinzipien verwiesen, die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts zu den rechtsstaatlichen Grundrechten eines Gerichtsverfahrens, namentlich der Gewährung des rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens, entwickelt worden sind. Diese erforderten im Interesse eines transparenten und berechenbaren Verfahrens vor der mündlichen Verhandlung eine verfahrensleitende Mitteilung des Gerichts.
Derartige Mitteilungen seien bei den Gerichten der Vertragsstaaten gang und gäbe. Sie müssten deshalb über Artikel 125 EPÜ in den Verfahren vor den Beschwerdekammern ebenfalls erteilt werden. Ferner gebiete dies der nach Artikel 114 (1) EPÜ geltende Amtsermittlungsgrundsatz. Regel 116 EPÜ schreibe eine solche Mitteilung sogar ausdrücklich vor. Sie zähle zu den gemeinsamen Vorschriften des siebenten Teils der Ausführungsvorschriften zum EPÜ, die für alle Verfahren vor dem Europäischen Patentamts und damit auch für diejenigen vor den Beschwerdekammern Geltung beanspruchten. Zwar habe die Große Beschwerdekammer die wortgleiche frühere Regel 71a EPÜ 1973 im Rahmen des Beschwerdeverfahrens für unanwendbar erklärt, jedoch sei diese Vorschrift als neue Regel 116 EPÜ 2000 unverändert von der Revision EPÜ 2000 übernommen worden, so dass sie nunmehr entgegen der Entscheidung G 6/95 (ABl. EPA 1996, 649, Nr. 5) bewusst auch für das Beschwerdeverfahren Anwendung finden müsse.
VI. Sodann verweisen die Antragsteller auf die Stellungnahme der Generalanwältin beim EuGH vom 2. Juli 2010 (Stellungnahme 1/09) betreffend die Einführung des Gemeinschaftspatents, in der diese die Voraussetzungen einer unabhängigen Gerichtsbarkeit bei den Beschwerdekammern des EPA verneint. Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit aber sei ein in Artikel 6 (1) EMRK verankertes absolutes Rechtsgut. Dies erkenne auch die Große Beschwerdekammer an. Fehle die richterliche Unabhängigkeit, habe dies zur Konsequenz, dass die Beschwerdekammern nicht befugt seien, ein einmal erteiltes Patent zu widerrufen. Deshalb sei die angegriffene Entscheidung ohne Rechtsgrundlage, sie daher aufzuheben und das Überprüfungsverfahren auszusetzen, bis der EuGH sein Gutachten in der Sache 1/09 erstattet habe.
VII. Schließlich beantragen die Antragsteller die Rückzahlung der Überprüfungsantragsgebühr.
VIII. Am 22. Februar 2011 hat die Große Beschwerdekammer mündlich verhandelt und am Ende der Verhandlung die aus dem Tenor ersichtliche Entscheidung verkündet.
Antrag auf Aussetzung des Verfahrens
1. Ausgehend von den einen Rechtsstaat konstituierenden Grundsätzen der Gewaltenteilung, der Gesetzmäßigkeit allen staatlichen Handelns und der Anerkennung der Menschenrechte vermag die Große Beschwerdekammer die von den Antragstellern unter Berufung auf die Ausführungen der Generalanwältin beim EuGH in ihrer Stellungnahme 1/09 erhobenen Bedenken gegen die rechtstaatliche Verfasstheit der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, insbesondere ihre richterliche Unabhängigkeit, nicht zu teilen.
1.1 Dabei steht die Große Beschwerdekammer nicht allein. Denn entgegen der Auffassung der Antragsteller und der Generalanwältin haben in der Vergangenheit mehrere hohe nationale Gerichte der Vertragsstaaten des EPÜ die Beschwerdekammern als unabhängige Gerichte im rechtsstaatlichen Sinne bezeichnet und deren Entscheidungen als Entscheidungen eines unabhängigen Gerichts anerkannt, die sie bei der Entwicklung ihrer Rechtsprechung berücksichtigen (vgl. etwa die Entscheidung des BGH vom 26. Oktober 2010, X ZR 47/07 Rdnr. 31 Wiedergabe topografischer Informationen). Das gilt insbesondere für den Patents Court des Vereinigten Königreichs, den deutschen Bundesgerichtshof und das deutsche Bundesverfassungsgericht, auf deren Rechtsprechung die Antragsteller sich in ihrem Vorbringen wiederholt berufen (siehe dazu in st. Rspr. Patents Court vom 20.12.1997 - Lenzing [1997] R.P.C. 245; ferner VG München vom 08.07.1999 ABl. EPA 2000, 205; VG München vom 20.11.2006 GRUR Int. 2007, 352 - Fernsehgerät; GBK G 1/86 ABl. EPA 1987, 447 Nr. 14; GBK G 6/95 ABl. EPA 1996, 649 Nr. 2; GBK G 3/08 ABl. EPA 2011, 10 Nr. 7.2; siehe auch Pignatelli in Benkard, Europäisches Patentübereinkommen, Art. 21 Rdnr. 33; Stauder in Singer/Stauder, (Hrsg.), Europäisches Patentübereinkommen, 5. Aufl. 2010, Art. 21 Rdnr. 1 ff.).
1.2 Erst in jüngerer Zeit hatte die Große Beschwerdekammer zum wiederholten Male Gelegenheit, sich in diesem Sinne eingehend zu äußern (siehe Stellungnahme vom 12. Mai 2010 G 3/08, ABl. EPA 2011, 10). In ihrer Stellungnahme G 3/08 legt sie dar, weshalb es sich bei den Beschwerdekammern nach dem EPÜ um eine unabhängige Judikative innerhalb des auf dem Grundsatz der Gewaltenteilung basierenden Europäischen Patentsystems handelt und verweist dabei auf Artikel 21 und 23 EPÜ, die als wesentliche Merkmale gerichtlicher Unabhängigkeit die Trennung der Instanzen, die Unabsetzbarkeit der Beschwerdekammermitglieder und ihre Weisungsfreiheit statuieren. Diese Grundsätze werden zusätzlich von den die Mitglieder der Beschwerdekammern betreffenden Sonderregelungen des Beamtenstatuts des EPA flankiert und bekräftigt (vgl. Luginbühl in Singer/Stauder, aaO., Art. 23 Rdnr. 9).
1.3 Überdies wäre es den nahezu ausnahmslos rechtsstaatlich organisierten Vertragsstaaten des EPÜ aufgrund ihres nationalen Staatsrechts verwehrt, einem völkerrechtlichen Vertrag beizutreten, mit dem sie ihr souveränes Recht auf Erteilung gewerblicher Schutzrechte mit Wirkung für ihr Staatsgebiet einer internationalen Organisation übertragen, ohne dass eine Nachprüfung ablehnender Entscheidungen dieser Organisation durch ein unabhängiges, rechtstaatlichen Grundsätzen verpflichtetes Gericht möglich wäre (G 3/08 ABl. EPA 2011, 10 Nr. 7.2.1; siehe auch BVerfG 2 BvR 2368/99 Rdnr. 13).
1.3.1 Nicht zuletzt aus diesem Grunde eröffnet das deutsche Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde auch gegen solche Akte öffentlicher Gewalt, die nicht lediglich der nationalen Staatsgewalt unmittelbar zuzurechnen sind, und überprüft Rechtsakte internationaler Organisationen auf ihre Vereinbarkeit mit der deutschen Verfassung, namentlich deren international weithin respektierten rechtsstaatlichen Prinzipien. In diese Überprüfung einbezogen ist auch das Handeln der Europäischen Patentorganisation, die Hoheitsrechte mit Wirkung für das deutsche Staatsgebiet nach Artikel 24 (1) des deutschen Grundgesetzes wahrnimmt (siehe BVerfG 2 BvR 2368/99 Rdnr. 12; für die EU gilt insoweit Artikel 23 (1) Satz 2 des Grundgesetzes).
1.3.2 In dem zitierten Beschluss, mit dem die zugrundeliegende Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde, hat das Bundesverfassungsgericht unter näherer Betrachtung ihrer rechtlichen Ausgestaltung den Beschwerdekammern des EPÜ, insbesondere aufgrund der Qualifikation und der Unabhängigkeit ihrer Mitglieder sowie der strikten Trennung von erstinstanzlichem Erteilungs- und Einspruchsverfahren einerseits und Beschwerdeverfahren andererseits, bescheinigt, Gerichtsentscheidungen zu treffen und im Wesentlichen den rechtstaatlichen Prinzipien des deutschen Grundgesetzes und den sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen (siehe BVerfG 2 BvR 2368/99 Rdnrn. 19, 20). Das gelte, so das Bundesverfassungsgericht, auch für die Grundsätze des rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens nach Artikel 6 EMRK. Zusammenfassend stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Große Beschwerdekammer und die Beschwerdekammern auf der Grundlage der Artikel 113 ff. EPÜ für sämtliche Verwaltungsverfahren vor dem Europäischen Patentamt Verfahrens- und Organisationsmaximen anerkannt und so die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren vor dem Europäischen Patentamt gesichert haben (siehe BVerfG 2 BvR 2368/99 Rdnr. 21). Diese Auffassung teilt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 16.6.2009 (Individualbeschwerde Nr. 40382/04 Rambus Inc./. Deutschland GRUR Int. 2010, 840/842 f.), und es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen andere nationale Gerichte der Vertragsstaaten des EPÜ zu einer im Wesentlichen abweichenden Auffassung gelangen sollten.
1.3.3 Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts machen deutlich, dass den Beschwerdekammern ohne eine besondere gesetzliche Ermächtigung die Überprüfung des EPÜ auf seine Vereinbarkeit mit den Menschenrechten und den Verfassungen der Vertragsstaaten versagt ist. Die Beschwerdekammern haben lediglich die Normen des EPÜ - zweifellos im Lichte völkerrechtlich anerkannter Grundsätze wie den zwischenzeitlich in den Artikeln 31 und 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge normierten Auslegungsregeln (zur sinngemäßen Anwendung des Wiener Übereinkommens im Rahmen des EPÜ siehe G 1/83 ABl. EPA 1985, 60; J 8/82 ABl. EPA 1984, 155) -zu interpretieren. Dabei sind sie freilich befugt, innerhalb des Normensystems des EPÜ die Vereinbarkeit nachgeordneter Vorschriften (Ausführungsordnung, Verfahrensordnungen etc.) mit den Artikeln des Übereinkommens zu überprüfen und unter Umständen solche Normen wegen ihrer Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht nicht anzuwenden. Jedoch ist es ihnen versagt, Artikel des EPÜ zu verwerfen, weil sie mit Normen anderer nationaler oder internationaler Kodifikationen oder Verträge nicht im Einklang stehen. Letzteres kann je nach Problemstellung allenfalls Aufgabe nationaler oder internationaler Gerichte wie im Falle der Bundesrepublik Deutschland des Bundesverfassungsgerichts bzw. des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg sein. Letzterer hat jedoch bereits an seiner Zuständigkeit zur Überprüfung von Verfahrensmängeln einer internationalen Gerichtsbarkeit, namentlich nach dem EPÜ, Zweifel erkennen lassen, weil neben dem europäischen das nationale Patentsystem weiterbestehe und es dem Patentanmelder freistehe, an welches System, einschließlich seines gerichtlichen Rechtsschutzes, er sich wende wolle (siehe EGMR GRUR Int. 2010, 840/842 - Rambus Inc../. Deutschland).
2. Eine Aussetzung des vorliegenden Überprüfungsverfahrens bis zur Entscheidung des EuGH in dem Vorlageverfahren über die Vereinbarkeit des Entwurfs eines Übereinkommens über die Einführung eines Europäischen Patentgerichts kommt nicht in Betracht. Denn eine Entscheidung des EuGH, die die Unabhängigkeit der Beschwerdekammern im Sinne einer rechtsstaatlichen Gerichtsbarkeit verneinen würde, entfaltete für die Beschwerdekammern keine Bindungswirkung. Grund dafür ist, dass das EPÜ nicht Bestandteil der EU-Gesetzgebung ist, sondern mit der europäischen Patentorganisation ein seinem Wesen nach von der Europäischen Union unabhängiges, eigenständiges völkerrechtliches Subjekt begründet, dem zwar allen EU-Mitgliedstaaten, jedoch auch Nicht-EU-Staaten angehören. Abgesehen davon gibt das zwischenzeitlich vom Plenum des EuGH erstattete Gutachten 1/09 vom 8. März 2011 keine Veranlassung zu einer anderen Sicht der Dinge.
Zulässigkeit des Überprüfungsantrags
3. Der vorliegende Überprüfungsantrag ist im Namen der beiden Patentinhaber von deren gemeinsamem Vertreter eingelegt worden, obwohl die angegriffene Entscheidung nur einen von ihnen als Beschwerdegegner und Patentinhaber im Rubrum und in den Gründen aufführt. Die Große Beschwerdekammer sieht in diesem Versäumnis keinen schwerwiegenden Mangel, sondern lediglich eine offenbare Unrichtigkeit, die sich mit dem fehlerhaft ausgefüllten Verhandlungsprotokoll in die Akte eingeschlichen hat. Sie ist nach Regel 140 EPÜ zu korrigieren, weil sich hinter der Unrichtigkeit keine ernsthaft begründbare Meinung der Kammer verbirgt und die Entscheidung durch die Korrektur keine inhaltliche Änderung erfährt, also ihre Identität bewahrt, so dass keine Partei durch die Unrichtigkeit einen Nachteil erleidet.
Besteht eine bloße formale Unrichtigkeit, sieht sich die Große Beschwerdekammer nicht daran gehindert, auch ohne bereits durchgeführtes Berichtigungsverfahren die Unrichtigkeit zu ignorieren und vom zutreffenden Sinngehalt der angegriffenen Beschwerdekammerentscheidung auszugehen. Somit ist der in der angegriffenen Entscheidung formal nicht angeführte weitere Patentinhaber - wie in der Antragsschrift als Antragsteller benannt gleichfalls als verfahrensbeteiligt anzusehen, zumal er durch den Widerruf seines Patents ebenso im Sinne des Artikel 112a (1) EPÜ beschwert ist wie der erstgenannte Patentinhaber.
4. Der vorliegende gegen die Entscheidung der Beschwerdekammer 3.2.04 vom 19. November 2009 gerichtete Antrag wurde am 1. März 2010 unter gleichzeitiger Einzahlung der vorgeschriebenen Antragsgebühr eingereicht. Da die angegriffene Entscheidung am 17. Dezember 2009 zur Post gegeben wurde, gilt sie nach der Zustellungsfiktion der Regel 126 (2) EPÜ 10 Tage später, d.h. am 27. Dezember 2009, als zugestellt mit der Folge, dass ein zulässiger Überprüfungsantrag, der wie hier nicht auf dem Überprüfungsgrund des Artikel 112a (2) lit. e EPÜ beruht (durch eine Straftat beeinflusste Entscheidung), innerhalb von zwei Monaten ab diesem Datum eingelegt sein muss (Artikel 112a (4) EPÜ). Diese Frist haben die Antragsteller mit ihrem Schriftsatz vom 1. März 2010 (einem Montag) und der gleichzeitigen Einzahlung der Überprüfungsantragsgebühr eingehalten. Denn eine Frist, deren rechnerisches Ende auf ein Wochenende fällt (hier Samstag, der 27. Februar 2010), läuft erst am darauffolgenden Wochentag, hier Montag, dem 1. März 2010, ab (Regel 134 EPÜ).
5. Ein fristgerechter Überprüfungsantrag hat zudem den Zulässigkeitserfordernissen der Regel 107 (1) und (2) EPÜ zu genügen, indem er sowohl Name und Adresse der Antragsteller angibt als auch die angegriffene Entscheidung genau bezeichnet und schließlich substantiiert darlegt, auf welchen Gründen und gestützt auf welche Tatsachen sowie Beweismittel der Antrag beruht. Dies ist hier der Fall, denn im Überprüfungsantrag ist unter Bezugnahme auf den Akteninhalt und die angefochtene Entscheidung näher ausgeführt, weshalb der Antrag sich auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß Artikel 112a (2) lit. c in Verbindung mit Artikel 113 EPÜ sowie darauf stützt, dass die Beschwerdekammer einen schwerwiegenden Verfahrensfehler nach Artikel 112a (2) lit. d in Verbindung mit Regel 104 EPÜ begangen hat. Auch diese Voraussetzungen sind somit vorliegend als erfüllt anzusehen (dazu Schachenmann in Singer/Stauder, aaO., Art. 114 Rdnr. 45 ff.).
Soweit die Antragsteller nach Ablauf von zwei Monaten nach der Zustellung der Beschwerdekammerentscheidung weitere Schriftsätze eingereicht haben, sind sie inhaltlich insoweit nicht präkludiert, als es sich dabei nicht um tatsächliche, sondern rechtliche Ausführungen zu dem gestellten Überprüfungsantrag handelt (vgl. Schachenmann in Singer/Stauder, aaO., Art. 114 Rdnr. 48).
6. Als weiteres Zulässigkeitserfordernis verlangt schließlich Regel 106 EPÜ, dass die Antragsteller die im Überprüfungsverfahren beanstandeten schwerwiegenden Verfahrensmängel während des Beschwerdeverfahrens gerügt haben und die Kammer ihre Einwände zurückgewiesen hat, es sei denn, sie haben ihre Einwände im Beschwerdeverfahren nicht erheben können.
6.1 Die Antragsteller haben in diesem Zusammenhang bereits die Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit dem Überprüfungsantragsrecht nach Artikel 112a EPÜ beanstandet, weil dessen Durchsetzung durch Regel 106 EPÜ unzulässigerweise eingeschränkt werde. Regel 106 EPÜ dürfe deshalb nicht angewendet werden. Sie verweisen dabei auf allgemeine Grundsätze des Verfahrensrechts in den Vertragsstaaten, die nach Artikel 125 EPÜ in den Verfahren vor dem EPA zu beachten seien. So entfalle zum Beispiel nach der deutschen Zivilprozessordnung (§ 296 ZPO) das Recht auf Verfahrensrügen dann nicht, wenn es um die Verletzung von Vorschriften gehe, auf deren Befolgung eine Partei nicht verzichten könne.
6.1.1 Die Große Beschwerdekammer vermag diese Auffassung nicht zu teilen. Denn der Gesetzgeber hat mit der Regel 106 EPÜ den Ausnahmecharakter des außerordentlichen Rechtsmittels nach Artikel 112a EPÜ unterstrichen und die Durchbrechung der Rechtskraft einer Beschwerdekammerentscheidung infolge ihrer Aufhebung im Überprüfungsverfahren nur dann zugelassen, wenn der Antragsteller durch die ausdrückliche Rüge eines vermeintlichen schwerwiegenden Verfahrensfehlers, namentlich der Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 EPÜ, in der mündlichen Verhandlung der Beschwerdekammer auch Gelegenheit gegeben hat, den gerügten Fehler unmittelbar zu korrigieren, um eine spätere Durchbrechung der Rechtskraft zu vermeiden. Hat er das nicht getan, soll im Interesse des Rechtsfriedens eine nachträgliche Korrektur des schwerwiegenden Fehlers in einem aufwändigen und kostspieligen Verfahren nach Artikel 112a EPÜ nicht mehr möglich sein. Insoweit genießt das Interesse weiterer Parteien und der Öffentlichkeit an der Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung Vorrang vor der Korrektur eines schwerwiegenden Verfahrensfehlers. Ein Verstoß gegen den Wesensgehalt der Ausnahmevorschrift des Artikel 112a EPÜ vermag die Große Beschwerdekammer in dieser in Regel 106 EPÜ zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Abwägung nicht zu sehen.
6.1.2 Entgegen der Auffassung der Antragsteller kommt im vorliegenden Fall die Vorschrift des Artikels 125 EPÜ nicht zur Anwendung. Denn sie erlaubt den Rückgriff auf das nationale Verfahrensrecht der Vertragsstaaten nur dann, wenn das EPÜ insoweit keine Verfahrensvorschriften enthält, also eine Lücke aufweist. Dies ist hier aber gerade nicht so. Das EPÜ normiert in Regel 106 EPÜ eine spezielle Zulässigkeitsvoraussetzung, die nicht schon deshalb unanwendbar ist, weil eine ähnliche nationale Vorschrift weniger streng gefasst ist.
6.1.3 Dazu sei ferner angemerkt, dass - im Unterschied zum Revisionsverfahren nach nationalem deutschem Zivilprozessrecht - das Verfahren nach Artikel 112a EPÜ der Überprüfung einer rechtskräftigen Entscheidung dient, auf deren Bestandskraft sich die Parteien und die Öffentlichkeit grundsätzlich einzurichten berechtigt sind. Wenn der Gesetzgeber dennoch unter Abwägung der betroffenen Schutzgüter - Rechtskraft einer Entscheidung einerseits und Gewährung eines fairen Verfahrens, insbesondere des rechtlichen Gehörs andererseits - sich zur Einführung eines weiteren verfahrensrechtlichen Instruments zum Schutz dieser verfahrensrechtlichen Grundrechte entschieden hat, so ist er auch berechtigt und zum Schutz des in die Rechtskraft gesetzte öffentlichen Vertrauens verpflichtet, die Nutzung dieses Instruments im Wege der Güterabwägung an enge gesetzliche Voraussetzungen wie etwa die Rügepflicht nach Regel 106 EPÜ zu binden.
6.2 Die maßgeblichen Einwände der Patentinhaber beziehen sich erstens darauf, dass die Kammer trotz einer entsprechenden Bitte es unterlassen habe, den Parteien ihre vorläufige Einschätzung der Beschwerde in einem Ladungszusatz mitzuteilen. Infolgedessen hätten - zweitens - die Antragsteller vor der mündlichen Verhandlung keine Hilfsanträge formulieren können, die der Auffassung der Kammer Rechnung getragen hätten. Drittens habe die Kammer nicht dem Antrag entsprochen, einen neuen Termin für die mündliche Verhandlung anzuberaumen, um ihnen Gelegenheit zur Formulierung neuer Hilfsanträge zu geben. Und viertens habe die Kammer ihren in der mündlichen Verhandlung eingereichten vierten Hilfsantrag als verspätet zurückgewiesen.
6.3 Die Große Beschwerdekammer geht nicht zuletzt auf Grund der Ausführungen in der Beschwerdekammerentscheidung davon aus, dass die Antragsteller diese Einwände während der mündlichen Verhandlung tatsächlich vorgetragen haben, die Sachverhaltsschilderung im Überprüfungsantrag also zutrifft. Denn die Entscheidung der Beschwerdekammer beschäftigt sich inhaltlich mehr oder weniger ausführlich mit den Fragen der unterbliebenen Mitteilung, dem Antrag auf Terminsverlegung und der Zurückweisung des vierten Hilfsantrags und rechtfertigt insoweit ausdrücklich das Vorgehen der Beschwerdekammer.
6.4 Jedoch steht nach dem schriftlichen und mündlichen Vortrag der Antragsteller ebenfalls außer Zweifel, dass sie während des Beschwerdeverfahrens nicht, wie es Regel 106 EPÜ verlangt, die vorgetragenen, vermeintlichen Verfahrensmängel als schwerwiegend im Sinne dieser Vorschrift ausdrücklich gerügt haben oder dass sie während der Verhandlung daran gehindert gewesen wären, dies zu tun. Denn dem Vortrag der Antragsteller und ihren Anträgen im Beschwerdeverfahren lassen sich keine Erklärungen entnehmen, die den von der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer in den Fällen R 4/08 und R 7/08 aufgestellten strengen Anforderungen an eine qualifizierte Rüge im Sinne der Regel 106 EPÜ entsprechen.
6.4.1 Wie in den zitierten Entscheidungen, denen sich diese Besetzung der Großen Beschwerdekammer insoweit anschließt, ausgeführt ist, stellt die Rüge nach Regel 106 EPÜ - außer in den Fällen, in denen sie nicht möglich ist - eine unverzichtbare Prozesshandlung dar, die erst den Weg zu einem zulässigen Überprüfungsantrag gegen abschließende Entscheidungen der Beschwerdekammern eröffnet. Dabei müssen nach dieser Rechtsprechung derartige Rügen zwei Voraussetzungen erfüllen:
6.4.2 Zunächst muss eine Rüge nach Regel 106 EPÜ ausdrücklich und in einer von sonstigen Erklärungen abgehobenen Form vorgebracht werden, damit die Kammer sofort und ohne Zweifel zu erkennen vermag, dass es bei der fraglichen Prozesserklärung um eine derartige qualifizierte Rüge handelt, die prozessuale Weiterungen nach sich ziehen kann. Denn nur dann ist die Kammer in der Lage, dem Sinn und Zweck der Vorschrift entsprechend unmittelbar zu reagieren und den gerügten Verfahrensmangel zu beheben oder die Rüge zurückzuweisen. Diesen von der Rechtsprechung gestellten Anforderungen an die Form einer Rüge nach Regel 106 EPÜ genügen die von den Antragstellern im Laufe des Verfahrens abgegebenen Erklärungen bereits nach ihrem eigenen Vorbringen nicht.
6.4.3 Sodann hat die Rüge spezifiziert zu sein. Dies bedeutet, dass sie entsprechend dem Wortlaut der Regel unmissverständlich zum Ausdruck bringen muss, worin der gerügte Verfahrensfehler nach Artikel 112a (2) lit. a bis d EPÜ nach Auffassung des Antragstellers zu sehen ist. Dass die Antragsteller diese Voraussetzung erfüllt haben, geht weder aus ihrem Antragsschriftsatz vom 1. März 2010 hervor noch besagt das Protokoll der mündlichen Verhandlung etwas Gegenteiliges, vielmehr räumen die Antragsteller ein, es an einer derart qualifizierten Rüge fehlen gelassen zu haben. Schließlich tragen sie auch nicht vor, keine Gelegenheit zu einer ausdrücklichen Verfahrensrüge gehabt zu haben (Regel 106 EPÜ am Ende).
7. Da die Voraussetzungen der Regel 106 EPÜ somit nicht erfüllt sind, wird der Überprüfungsantrag von der Großen Beschwerdekammer in der Besetzung von zwei rechtskundigen Mitgliedern und einem technisch vorgebildeten Mitglied als offensichtlich unzulässig verworfen (Regel 108 (1) EPÜ).
8. Bleibt der Überprüfungsantrag erfolglos, scheidet die beantragte Gebührenerstattung aus (Regel 110 EPÜ).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens wird zurückgewiesen.
2. Der Antrag vom 1. März 2010 auf Überprüfung wird als offensichtlich unzulässig verworfen.
3. Der Antrag auf Rückzahlung der Überprüfungsantragsgebühr wird zurückgewiesen.