T 0482/18 11-03-2021
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Optische Kontrolle von Produkten der Tabak verarbeitenden Industrie
Änderung des Beschwerdevorbringens - Zulassung (nein)
Änderung des Beschwerdevorbringens - rechtfertigende Gründe des Beteiligten (nein)
Neuheit (ja)
Neuheit - Zweckangabe mit enschränkender Wirkung in Verfahrensanspruch
I. Die Einsprechende hat gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent Nr. 1826557 in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten, Beschwerde eingelegt.
II. Mit dem Einspruch war das Patent in gesamtem Umfang im Hinblick auf Artikel 100 a) EPÜ, in Verbindung mit den Artikeln 52(1), 54(1) und 56 EPÜ, und im Hinblick auf Artikel 100 c) angegriffen worden.
III. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen gemäß dem ersten Hilfsantrag das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügten.
IV. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020 vom 16. April 2020, die als Anlage einer Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügt war, teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige und unverbindliche Meinung zu bestimmten, wesentlichen Aspekten des vorliegenden Beschwerdeverfahrens mit.
V. Die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 11. März 2021 statt.
VI. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents.
Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag) oder die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang mit Ansprüchen gemäß
- Hilfsantrag 1 eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung vom 31. August 2018 oder
- Hilfsanträgen 2, 3 oder 5 eingereicht mit Schreiben vom 14. September 2017 oder
- Hilfsantrag 5a eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung vom 31. August 2018 oder
- Hilfsanträgen 6 oder 7 eingereicht mit Schreiben vom 14. September 2017 oder
- die Zurückverweisung der Angelegenheit in Bezug auf Hilfsanträge 2, 3 und 5 bis 7 an die erste Instanz, falls der Hauptantrag oder der Hilfsantrag 1 als nicht gewährbar angesehen werden sollten, gemäß Schreiben vom 11. Februar 2021.
VII. Die vorliegende Entscheidung nimmt Bezug auf das folgende, aus dem erstinstanzlichem Verfahren bereits bekannte Dokument:
D9: EP 0 731 350 A1.
VIII. Der Wortlaut des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag lautet (die Nummerierung M1.1 bis M1.8 der Merkmale des Anspruchs 1 ist dem eigentlichen Wortlaut der jeweiligen Merkmale vorangestellt):
M1.1 "Einrichtung zur elektromagnetischen, insbesondere optischen, Kontrolle von stabförmigen Produkten (4) der Tabak verarbeitenden Industrie
M1.2 in einer Kontrollzone (1),
M1.3 wobei die Einrichtung eine Vorrichtung (8) zum Fördern der Produkte (4) in einlagiger Reihe hintereinander durch die Kontrollzone (1) aufweist,
M1.4 mit einer Vorrichtung (9) zur Auswertung der von Aufnahmevorrichtungen (2, 3) erfassten Aufnahmen,
M1.5 wobei mindestens zwei aus unterschiedlichen Richtungen auf die Kontrollzone (1) ausgerichtete Aufnahmevorrichtungen(2, 3) vorgesehen sind,
M1.6 wobei zwei Aufnahmevorrichtungen (2, 3) auf das mindestens eine Produkt (4) ausgerichtet sind,
dadurch gekennzeichnet, dass
M1.7 die Aufnahmevorrichtungen (2, 3) derart versetzt und winkelig zueinander angeordnet sind, dass ein Teilbereich der Oberfläche des Produkts (4) zweifach und aus zwei verschiedenen Blickwinkeln abgebildet wird,
M1.8 wobei die Vorrichtung (9) zum Vergleichen der zu den von den Aufnahmevorrichtungen (2, 3) aufgenommenen Aufnahmen gehörenden Daten miteinander ausgebildet ist".
Der Wortlaut des Anspruchs 4 gemäß Hauptantrag lautet (die Nummerierung M4.1 bis M4.8 der Merkmale des Anspruchs 4 ist dem eigentlichen Wortlaut der jeweiligen Merkmale vorangestellt):
M4.1 Verfahren zur elektromagnetischen, insbesondere optischen, Kontrolle von stabförmigen Produkten (4) der Tabak verarbeitenden Industrie
M4.2 in einer Kontrollzone (1),
dadurch gekennzeichnet, dass
M4.3 die Kontrollzone (1) von Aufnahmevorrichtungen (2, 3) aus zwei unterschiedlichen Richtungen aufgenommen wird,
M4.4 wobei zwei Aufnahmen von einem Teilbereich der Oberfläche des wenigstens einen Produkts (4) aus unterschiedlichen Richtungen erfasst werden,
M4.5 die beiden Aufnahmen an eine Auswertevorrichtung (9) weitergeleitet und
M4.6 in der Auswertevorrichtung (9) die zu den Aufnahmen gehörigen Daten miteinander verglichen werden,
M4.7 wobei eine Unregelmäßigkeit auf der Oberfläche (5) des Produkts (4) dann unterstellt wird, wenn eine Unregelmäßigkeit auf den zwei Aufnahmen an solchen Positionen (6a, 6b) auftritt, dass solchen zwei Positionen (6a, 6b) genau eine Stelle auf der Oberfläche (5) des Produkts (4) zugeordnet werden kann".
1. Hauptantrag - Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973
Die Ansprüche des Hauptantrags sind identisch mit denjenigen von Hilfsantrag 1, auf der Grundlage dessen die Einspruchsabteilung das Patent aufrecht erhalten hatte.
Der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1 und 4 des jetzigen Hauptantrags erfüllt die Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ und die Ansprüche 1 und 4 diejenigen von Artikel 84 EPÜ 1973.
1.1 Die von der Einsprechenden in der ersten Instanz erhobenen Einwände gemäß Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973 hinsichtlich der Merkmale der Ansprüche 1 und 4 des vorliegenden Hauptantrags wurden von der Einspruchsabteilung zurückgewiesen. Siehe die angefochtene Entscheidung, Seiten 5 und 6 zum geänderten Merkmal M1.7 in Ansprüchen 1 und 4 des seinerzeitigen Hauptantrags sowie Seiten 9 und 10 betreffend die Erfüllung der Erfordernisse von Artikeln 123 (2) und 84 EPÜ nach Ergänzung von Merkmal M1.1 in Anspruch 1 des jetzigen Hauptantrags (seinerzeitigen Hilfsantrags 1) mit dem Begriff "stabförmig". In der Beschwerdebegründung hat die Einsprechende die Entscheidung der Einspruchsabteilung insoweit nicht angegriffen. Wie in der der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung, Punkte 6.1 und 6.2, bereits vorläufig zum Ausdruck gebracht, hat auch die Kammer keine Bedenken, dass der Gegenstand der Ansprüche 1 und 4 die Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ und die Ansprüche 1 und 4 die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ 1973 erfüllen.
1.2 Zulassung neuen Vortrags der Einsprechenden
Die Kammer lässt den angekündigten neuen Vortrag der Einsprechenden hinsichtlich Einwänden gemäß Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973 nicht in das Verfahren zu (Artikel 13 VOBK 2020).
1.2.1 Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer stellte die Einsprechende einen entsprechenden Antrag, ohne zunächst konkrete Einwände vorzubringen. Später behauptete sie, der Merkmal M1.1 hinzugefügte Begriff "stabförmig" in dem Ausdruck "Kontrolle von stabförmigen Produkten der Tabak verarbeitenden Industrie", sei nicht ursprünglich offenbart, sondern stehe im Widerspruch zur Beschreibung. Darüber hinaus sei das Merkmal unklar. Es handele sich bei ihrem beabsichtigten neuen Vortrag nicht um die nochmalige Diskussion der in der ersten Instanz bereits erhobenen Einwände gemäß Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973, sondern um neue Aspekte hinsichtlich des hinzugefügten Begriffs "stabförmig". Vor der Einspruchsabteilung hatte die Einsprechende keine Bedenken im Hinblick auf eine unzulässige Erweiterung bezüglich des durch den Begriff "stabförmig" ergänzten fraglichen Merkmals geäußert (angefochtene Entscheidung, Seite 9), einen diesbezüglichen Einwand nach Artikel 84 wies die Einspruchsabteilung zurück (ebenda, Seiten 9 und 10).
1.2.2 Auch im Verlauf des Beschwerdeverfahrens bis zur mündlichen Verhandlung erhob die Einsprechende bezüglich des jetzigen Hauptantrags keine Einwände gemäß Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973. Die Einsprechende hat sich in ihrer Beschwerdebegründung insbesondere nicht gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung gewandt, wonach die Voraussetzungen gemäß Artikel 123 (2) EPÜ und 84 EPÜ gegeben seien. Ebenso wenig hat die Einsprechende der vorläufigen Meinung der Kammer vom 16. April 2020, wonach die Erfordernisse der Artikel 123(2) EPÜ (Merkmal M1.7) und 84 EPÜ 1973 (Merkmal M1.1, "stabförmig") erfüllt seien (siehe Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020, Punkte 6.1 und 6.2), vor dem Termin der mündlichen Verhandlung am 11. März 2021 widersprochen. Was den Begriff "stabförmig" betrifft, so schloss sich die Kammer der Auffassung der Einspruchsabteilung an, wonach dieser Begriff klar sei. Eine eigene inhaltliche Erörterung der Frage der Klarheit führte sie nicht durch. Nachdem die Einsprechende diesen Einwand in der Beschwerdebegründung nicht weiterverfolgt habe, ging die Kammer davon aus, dass die Einsprechende diesen Einwand (ebenso wie den vorgenannten Einwand gegen die ursprüngliche Offenbarung von Merkmal M1.7) im Beschwerdeverfahren fallengelassen habe.
Die Patentinhaberin hat sich bis vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ebenfalls nicht zu Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 84 EPÜ 1973 geäußert.
Gemäß Artikel 12 (1) (a) bzw. (d) VOBK 2020 lagen dem Beschwerdeverfahren damit bis zur mündlichen Verhandlung ausschließlich die obigen, in der angefochtenen Entscheidung bzw. in der Mitteilung der Kammer gemachten Ausführungen betreffend Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 84 EPÜ 1973 zugrunde.
1.2.3 Ein Vortrag hinsichtlich Einwänden gemäß Artikel 123 (2) EPÜ und 84 EPÜ 1973, der von der Einsprechenden während der mündlichen Verhandlung ausdrücklich als neuer Vortrag angekündigt wurde, würde daher eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne des Artikels 13 (1) VOBK 2020 darstellen.
1.2.4 Änderungen des Beschwerdevorbringens des Einsprechenden nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung bedürfen rechtfertigender Gründe, und ihre Zulassung steht im Ermessen der Kammer (Artikel 13 (1) VOBK 2020). Darüber hinaus sollen gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020
Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten ... nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung ... grundsätzlich unberücksichtigt [bleiben], es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
(Hervorhebungen der Kammer)
Argumente der Einsprechenden für die Zulassung des neuen Vortrags zu Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973
1.2.5 Ermittlung von Amts wegen - Artikel 114(1) EPÜ 1973
a) Die Einsprechende hat während der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass die Kammer gemäß Artikel 114(1) EPÜ 1973 von Amts wegen die grundlegenden formalen Erfordernisse der Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973 zu überprüfen habe, und zwar unabhängig von dem Zeitpunkt, an dem diesbezügliche Bedenken an die Kammer herangetragen würden. Die Einsprechende berief sich insoweit zunächst auf die Entscheidung T 701/97, Leitsatz, wonach bei Stützung des Einspruchs auf den Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ 1973 und dessen Behandlung in der angefochtenen Entscheidung die Kammer die Pflicht habe, zu überprüfen, ob die Anträge der Patentinhaberin das Erfordernis des Artikels 100 c) EPÜ 1973, bzw. des Artikels 123(2) EPÜ, erfüllten. Diese Pflicht der Kammer sei unabhängig von dem Zeitpunkt, zu dem die Einwände im Verfahren erhoben worden seien.
Die Einsprechende berief sich zur Stützung ihrer Position auch auf G 9/91, G 10/91 und T 1914/12. Die Kammer habe sich mit den Themen ursprüngliche Offenbarung und Klarheit befasst, und die Einsprechende möchte sich dazu äußern. Der Einwand nach Artikel 100 c) EPÜ sei rechtzeitig im Einspruchsverfahren erhoben worden, so dass kein neuer Einspruchsgrund vorliege. Die Tatsachen seien im Übrigen identisch.
Die Patentinhaberin wandte sich gegen eine Zulassung, da es sich für sie um neues Vorbringen handeln würde, weil die angekündigten Einwände in der Beschwerdebegründung nicht vorgebracht worden seien. Sie wies darauf hin, dass sich die Kammer bereits in ihrer vorläufigen Meinung vom 16. April 2020 zu den beiden Themen geäußert habe und die Einsprechende hierauf erst in der mündlichen Verhandlung reagieren wolle.
b) Hierzu ist zu wiederholen, dass die Kammer im Hinblick auf die Erfordernisse der Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973 in ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020 die Entscheidung der Einspruchsabteilung bestätigt hatte (siehe, Punkte 6.1 und 6.2). Dabei kann offen bleiben, ob die Kammer überhaupt die von der Einsprechenden geltend gemachte Pflicht zum Eingehen auf diese Erfordernisse traf, nachdem die Einsprechende Einwände nach Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 84 EPÜ 1973 im Beschwerdeverfahren nicht vorgebracht hatte. Da die Kammer von dem Prüfungsergebnis der Einspruchsabteilung nicht abgewichen ist, war die Rechtsposition der Patentinhaberin durch die Prüfung nicht berührt. Daher war der Kammer die Prüfung jedenfalls nicht verwehrt.
c) Des Weiteren kann die Kammer aus Artikel 114 EPÜ 1973 eine grundsätzlich absolute Berechtigung, noch gar die von der Einsprechenden geltend gemachte Verpflichtung ihrerseits zur Ermittlung von Amts wegen, insbesondere zur Überprüfung aller möglichen Einwände unter allen möglichen Umständen und zu jedem Zeitpunkt, nicht ableiten. Demnach sind erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer von der Einsprechenden zu Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 84 EPÜ 1973 erhobene Einwände nicht aufgrund von Artikel 114 EPÜ 1973 ohne Weiteres zuzulassen. Das wird nachstehend erläutert.
d) Hierzu wird nachstehend zunächst die Anwendung von Artikel 114 (1) EPÜ 1973 in den beiden vorgenannten Entscheidungen T 1914/12 und T 701/97 zusammengefasst und bewertet.
Der mit "Ermittlung von Amts wegen" überschriebene Artikel 114 EPÜ 1973 hat folgenden Wortlaut:
(1)
In Verfahren vor dem Europäischen Patentamt ermittelt das Europäische Patentamt den Sachverhalt von Amts wegen; es ist dabei weder auf das Vorbringen noch auf die Anträge der Beteiligten beschränkt.
(2)
Das Europäische Patentamt braucht Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten verspätet vorgebracht werden, nicht zu berücksichtigen.
Die Einsprechende hat geltend gemacht, dass die Auslegung von Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht gegen Artikel 114 (2) 1973 verstoßen dürfe und diesbezüglich auf T 1914/12 hingewiesen. Nach dieser Entscheidung (siehe Leitsatz) haben die Beschwerdekammern bei der Zulassung spät vorgebrachter Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen, keinen Ermessensspielraum.
Wie es in der Entscheidung T 1914/12 heißt (unter Nr. 7.2.3), räumt Artikel 114 (2) EPÜ 1973 einen Ermessensspielraum in Bezug auf verspätet vorgebrachte Tatsachen ein, nicht aber in Bezug auf spät vorgebrachte Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen. Nach Auffassung der Kammer in der Entscheidung T 1914/12 kann die VOBK zwar zur Präzisierung und Auslegung des EPÜ herangezogen werden, nicht aber, um den Beschwerdekammern Befugnisse einzuräumen, die im Übereinkommen nicht vorgesehen sind. (Siehe die Zusammenfassung in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 9. Auflage 2019, Kapitel V.A.4.10.1.)
Die Entscheidung der Kammer beruht auf den begrifflichen Annahmen in der vorhergehenden Schlussfolgerung in Nr. 7.1.4 (2. Absatz) (Übersetzung der Kammer aus dem französischen Originaltext):
Wenn beispielsweise ein Einspruch gegen ein Patent im Hinblick auf Neuheit erhoben wird und die Einsprechende auf der Grundlage der Offenbarung des Absatzes [0017] des Dokuments D1 sich auf mangelnde Neuheit von Anspruch 1 beruft, so ist der geltend gemachte (Widerrufs-)Grund mangelnde Neuheit (d.h. die Geltendmachung, dass der Gegenstand des Anspruchs im Stand der Technik enthalten ist). Dieser (Widerrufs-)Grund stützt sich auf ein oder mehrere Argumente (im weiteren Sinne, die Argumentation), im vorliegenden Fall das Argument, dass der Gegenstand des Anspruchs in Absatz [0017] des Dokuments D1 offenbart wird. Eine Übersetzung oder Kopie dieses Dokuments wird als (ein) Beweis(-mittel) hinterlegt. Die Argumentation stützt sich auf die Tatsache, die aus dem Wortlaut dieses Absatzes besteht. Sie enthält beispielsweise das Argument (im engeren Sinne), dass der Fachmann unter Berücksichtigung seiner allgemeinen Kenntnisse verstehen würde, dass das Merkmal X, das nicht ausdrücklich in Absatz [0017] offenbart wird, implizit darin offenbart wird.
Kurz zusammengefasst sollen demnach
- der Wortlaut des Absatzes 17 eine Tatsache,
- das Dokument, in welchem Absatz 17 enthalten ist, ein Beweismittel und
- die Behauptung der nicht ausdrücklichen, aber impliziten Offenbarung von Merkmal X in Absatz 17 ein Argument
darstellen.
Die Anwendung dieser Begrifflichkeit hat im Fall T 1914/12 in Nr. 7.3 (1. Absatz) denn auch zum Ergebnis geführt:
Die von der Beschwerdeführerin in ihrem Schreiben vom 15. Oktober 2015 zum ersten Mal vorgebrachte Behauptung über die Art des verwendeten Klebstoffs ist ein weiteres Argument zur Stützung der von ihr vertretenen Auffassung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber den [sic] Dokument D51 neu ist.
Diese Annahmen stehen offenbar im Einklang mit denjenigen in der Entscheidung T 701/97 auf welche sich die Einsprechende ebenfalls berufen hat. Unter Nr. 1.2 heißt es dort (Übersetzung aus dem englischen Original von der Kammer):
... Bei der Prüfung der Einwände nach Artikel 100 c) EPÜ sind der Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und des erteilten Patents als relevante Tatsachen anzusehen, und alle Versuche, Unterschiede zwischen ihnen aufzuzeigen, sind als Argumente zu betrachten, die auf diesen Tatsachen beruhen. In einem solchen Fall wird der "rechtliche und tatsächliche Rahmen" im Sinne der Stellungnahme G 10/91 (Gründe 6) nicht verändert, da keine neuen Tatsachen oder Beweismittel und kein neuer Grund geltend gemacht werden müssen. Wurde Artikel 100 c) EPÜ als Einspruchsgrund erhoben und in der angegriffenen Entscheidung berücksichtigt, so ist die Kammer verpflichtet, zutreffend zu beurteilen, ob die Anträge des Beschwerdegegners diesem Artikel entsprechen. Daher hat die Kammer alle Argumente zu berücksichtigen, unabhängig von
- dem Zeitpunkt, zu dem sie in das Verfahren eingeführt wurden,... (Hervorhebungen durch die Kammer)
Beide Entscheidungen gehen danach ganz offenbar davon aus, dass der Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und des erteilten Patents als - sich stets und in vollem Umfang im Verfahren befindliche - Tatsachen anzusehen sind. Neue Argumente zu Neuheit (T 1914/12) oder ursprünglicher Offenbarung (T 701/97) müssen daher stets berücksichtigt werden, da mit ihnen keine neuen Tatsachen ins Verfahren eingeführt werden.
e) Die erkennende Kammer teilt die in den beiden besprochenen Entscheidungen vertretene Auffassung nur teilweise:
- Sie teilt die ausdrücklich in T 1914/12 vertretene Sichtweise, wonach Artikel 114 (2) 1973 keine Grundlage darstellt, um Argumente - die man auch als Rechtsausführungen bezeichnen kann - zurückzuweisen. Rechtsvorschriften im Rang unterhalb des EPÜ wie die Verfahrensordnung der Beschwerdekammern müssen im Sinne des EPÜ ausgelegt werden, welches in der vorgenannten Vorschrift Tatsachen und Beweismittel, nicht aber Argumente erwähnt.
- Die Kammer teilt ebenfalls die Auffassung, dass die sich im Verfahren befindlichen Patentdokumente, insbesondere der Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und des erteilten Patents, mit ihrem vollen Inhalt Beweismittel darstellen.
- Sie teilt noch die Auffassung, dass die sich im Verfahren befindlichen Patentdokumente eine Anzahl, meist eine Vielzahl, einzelner Tatsachen umfassen.
- Sie teilt aber ausdrücklich nicht die Auffassung, wonach alle diese Tatsachen ohne Weiteres, d.h. ohne ausdrückliche Geltendmachung, Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sind, so dass an sie jederzeit Rechtsfolgen geknüpft werden können.
Eine derartige Auffassung widerspricht der Natur eines gerichtlichen Verfahrens, wie des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vor den Beschwerdekammern des EPA (siehe unten, Buchst. g), das auf Sachvortrag, also der Geltendmachung von Tatsachen, beruht. Es ist dem Charakter eines gerichtlichen Verfahrens fremd, lediglich den einen, bereits zulässig eingeführten, auf bestimmte Tatsachen gestützten Rechtsgrund für einen Anspruch zu nennen und es dann dem Gericht zu überlassen, aus dem vorhandenen großen Tatsachenfundus die passenden Tatsachen herauszusuchen. Das gilt auch im Falle des Amtsermittlungsgrundsatzes in mehrseitigen Verfahren vor den Beschwerdekammern des EPA. Auch hier muss der Beschwerdeführer die einzelnen Tatsachen, auf welche er sich stützt, konkret im Verfahren vorbringen. Geschieht das innerhalb der vom EPÜ gesetzten Fristen, befinden sich diese Tatsachen grundsätzlich im Verfahren, andernfalls brauchen sie nach Artikel 114 (2) EPÜ 1973 und insbesondere der diese Rechtsnorm konkretisierenden VOBK als verspätet nicht berücksichtigt zu werden.
f) Nach den obigen Erwägungen würde die von der Einsprechenden beantragte Einführung neuen Vorbringens betreffend ursprüngliche Offenbarung und Klarheit des Begriffes "stabförmig" in Merkmal M1.1 zwingend neuen Sachvortrag, d.h. die Einführung neuer Tatsachen, umfassen. Denn die Einsprechende hat ihre Beschwerde nicht auf diese Gründe, sondern ausschließlich auf mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit, gestützt und dementsprechend keine Tatsachen zu Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 84 EPÜ im Beschwerdeverfahren bis zur mündlichen Verhandlung vorgebracht. Wie oben (unter Nr. 1.2.1) ausgeführt, handele es sich laut Einsprechender bei ihrem beabsichtigten neuen Vortrag nicht um die nochmalige Diskussion der in der ersten Instanz bereits erhobenen Einwände gemäß Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973, sondern um neue Aspekte hinsichtlich des hinzugefügten Begriffs "stabförmig". Damit geht es um die Behauptung einer neuen Tatsache, wonach ein spezieller Gegenstand des Patents, bzw. ein spezielles Merkmal eines Anspruchs des Patents, nicht klar sei und eine Information aufweise, die über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinausginge.
g) Zulassung von Änderungen nach Artikel 13 VOBK 2020
Die Beschwerdekammer kann die Zulassung von - hier demnach vorliegenden - neuen Tatsachen nach Artikel 13 VOBK 2020 verweigern, sofern und soweit diese Vorschrift in Einklang mit höherrangigem Recht, namentlich - wie von der Einsprechenden in Zweifel gezogen - mit dem in Artikel 114 EPÜ 1973 verankerten Amtsermittlungsgrundsatz - steht. Die Kammer ist der Auffassung, dass das jedenfalls für die vorliegende Fallgestaltung gilt.
Zum Umfang der Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes im Einspruchsbeschwerdeverfahren hat die Große Beschwerdekammer in den von der Einsprechenden zitierten (in den wesentlichen Entscheidungsgründen identischen) Entscheidungen G 9/91 und G 10/91 (ABl. EPA 1993, 408 und 420) grundsätzliche Ausführungen gemacht. Dort heißt es (in der amtlichen deutschen Übersetzung) u.a.:
18. Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens ist es, der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten. Die Prüfung von Einspruchsgründen, die nicht als Grundlage für die Entscheidung der Einspruchsabteilung gedient haben, entspricht nicht dieser Zweckbestimmung. Überdies ist das Beschwerdeverfahren - anders als das rein administrative Einspruchsverfahren - als verwaltungsgerichtliches Verfahren anzusehen, wie die Große Beschwerdekammer in ihren jüngst ergangenen Entscheidungen G 7/91 und G 8/91 (s. Nr. 7 der Entscheidungsgründe) dargelegt hat. Ein solches Verfahren ist seiner Natur nach weniger auf Ermittlungen ausgerichtet als ein Verwaltungsverfahren. Daher erscheint es gerechtfertigt, Artikel 114 (1) EPÜ [1973], obwohl er sich formal gesehen auch auf das Beschwerdeverfahren erstreckt, in einem solchen Verfahren generell restriktiver anzuwenden als im Einspruchsverfahren [vor der Einspruchsabteilung]. Vor allem neue Einspruchsgründe dürfen nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer daher in der Beschwerdephase grundsätzlich nicht mehr in das Verfahren eingeführt werden. ...
Die erkennende Kammer versteht diesen Absatz zum Einen als Ausdruck des Grundsatzes einer generell restriktiveren Anwendung von Artikel 114 (1) EPÜ 1973 im Beschwerdeverfahren als im Einspruchsverfahren, zum Anderen als der konkreten Anwendung dieses Grundsatzes auf die Zulassung neuer Einspruchsgründe.
In G 9/91 und G 10/91 heißt es weiter:
19. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei schließlich noch betont, daß Änderungen der Ansprüche oder anderer Teile eines Patents, die im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vorgenommen werden, in vollem Umfang auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ (z. B. des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ) zu prüfen sind. (Hervorhebungen durch die Kammer)
Die Ausführungen in Nr. 19 stellen klar, dass der Umfang der Sachprüfung nicht wie beim erteilten Patent allein durch die in der Einspruchsschrift geltend gemachten und gemäß Regel 76 (2) c) EPÜ substantiiert vorgetragenen Einspruchsgründe bestimmt wird. Der Inhalt von Nr. 19 hat demnach keine Auswirkungen auf denjenigen von Nr. 18.
Vor diesem Hintergrund sind Einschränkungen der Zulassung von Änderungen, so wie sie die Verfahrensordnung der Beschwerdekammer, die am 1. Januar 2020 in Kraft trat, vorsieht, grundsätzlich mit dem Amtsermittlungsgrundsatz vereinbar. Wie die nachfolgende Erörterung zeigt, begegnet die Anwendung dieser Einschränkungen jedenfalls im vorliegenden Fall keinen Bedenken.
Vorliegend wurde im spätest möglichen Zeitpunkt, nämlich der mündlichen Verhandlung, der Vortrag neuer Tatsachen angekündigt. Auf die ausdrückliche Frage der Kammer, wieso der neue Vortrag zu Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973 nicht zu einem früheren Zeitpunkt gemacht wurde, erwiderte die Einsprechende lediglich, dass gemäß Artikel 114(1) EPÜ 1973 die Kammer von Amts wegen die Erfordernisse Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973 zu überprüfen habe. Diese - von der Einsprechenden auf T 701/97 und T 1914/12 gestützte - Auffassung ist - wie oben festgestellt - unzutreffend.
Die Einsprechende hat nicht vorgetragen und belegt, dass es sich bei T 701/97 vom August 2001 und T 1914/12 vom April 2018 im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Fall im März 2021 um eine gefestigte Rechtsprechung handele.
Sie hat sich ebenso wenig darauf berufen, dass sie es im Vertrauen darauf, dass die beiden vorgenannten Entscheidungen eine gefestigte Rechtsprechung darstellten, unterlassen hätte, Einwände nach Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 84 EPÜ 1973 früher im Beschwerdeverfahren vorzubringen. Was die Entscheidung T 1914/12 vom Juni 2018 betrifft, so wäre das auch tatsächlich gar nicht möglich gewesen, da sie erst nach Einreichung der Beschwerdebegründung im April 2018 ergangen ist. Die in dieser Entscheidung zitierten, von deren Rechtsauffassung abweichenden Entscheidungen, insbesondere die Entscheidungen T 1069/08 und T 1621/09, beide vom September 2011 (siehe T 1914/12, Nr. 7.2.2b)) sowie eine große Zahl darauf gestützter späterer Entscheidungen (ebenda, Nr. 7.2.2c)), belegen im Übrigen, dass T 701/97 vom August 2001 keinesfalls - jedenfalls im Hinblick auf spätere Fassungen der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern - zu einer gefestigten Rechtsprechung geführt hatte. Nach Alledem konnte die Einsprechende nicht davon ausgehen, dass die erkennende Kammer mit Sicherheit T 701/97 anwenden würde. Sie hätte daher Einwände nach Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 84 EPÜ 1973 bereits in der Beschwerdebegründung im April 2018 vorbringen müssen.
Bei Zulassung des angekündigten neuen Vorbringens zu den beiden Themen unzulässige Erweiterung und Klarheit hätten sich die Patentinhaberin ebenso wie die Kammer auf das neue tatsächliche Vorbringen betreffend unzulässige Erweiterung und Klarheit einstellen und die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen prüfen müssen.
Das widerspräche den in Artikel 13 (1) VOBK, der Änderungen nach Einreichung der Beschwerdebegründung betrifft, genannten Kriterien für die Ermessensausübung.
Zu deren Geltendmachung besagt Artikel 13 (1) VOBK 2020:
Der Beteiligte muss die Gründe dafür angeben, weshalb er die Änderung erst in dieser Phase des Beschwerdeverfahrens einreicht.
Zu letzterem Punkt bemerkt die Kammer: Auf die ausdrückliche Frage der Kammer, wieso der neue Vortrag zu Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973 nicht zu einem früheren Zeitpunkt gemacht wurde, erwiderte die Einsprechende lediglich, dass gemäß Artikel 114(1) EPÜ 1973 die Kammer von Amts wegen die Erfordernisse Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973 zu überprüfen habe.
Von den Kriterien der Ermessensausübung nach Artikel 13 (1) VOBK sind die folgenden vorliegend relevant:
Bei der Ausübung ihres Ermessens berücksichtigt die Kammer insbesondere den Stand des Verfahrens, die Eignung der Änderung zur Lösung der von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren in zulässiger Weise aufgeworfenen Fragen oder der von der Kammer selbst aufgeworfenen Fragen, ferner ob die Änderung der Verfahrensökonomie abträglich ist,[ und bei Änderung einer Patentanmeldung...]
Die Zurückweisung der Zulassung des angekündigten neuen Vorbringens kann im vorliegenden Fall ohne Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz offenkundig auf sämtliche der vorgenannten Kriterien gestützt werden:
- Die Änderung des Vorbringens sollte im spätest möglichen Stand des Verfahrens (mündliche Verhandlung) vorgenommen werden,
- Was die Eignung der Änderung zur Lösung der von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren in zulässiger Weise aufgeworfenen Fragen oder der von der Kammer selbst aufgeworfenen Fragen betrifft, so gilt schlicht, dass keine derartigen Fragen aufgeworfen wurden.
- Die Zulassung hätte eine negative Auswirkung auf die Verfahrensökonomie, da die von der Patentinhaberin geltend gemachte Notwendigkeit einer Vertagung nicht fern liegt.
Das in Artikel 13 (1) nicht genannte, aber von den Beschwerdekammern weiterhin grundsätzlich zu Recht herangezogene Kriterium der Prima-facie-Relevanz, auf das sich die Einsprechende berufen hat, könnte im Hinblick auf den Verfahrensstand und die mangelnde Veranlassung neuen Vorbringens durch Äußerungen der Patentinhaberin im Verfahren vor der Kammer oder Äußerungen der Kammer selbst nicht durchgreifen. Es ist keine Rechtfertigung erkennbar, warum selbst angeblich hochrelevantes Vorbringen ohne Veranlassung durch den Gegner oder die Kammer im spätest möglichen Zeitpunkt des späten Vorbringens ins Verfahren zugelassen werden soll.
Daraus folgt ohne Weiteres, dass es auf das Kriterium der Komplexität ebenfalls nicht ankommt (Artikel 13 (1) in Verbindung mit 12 (4) VOBK 2020).
h) Ein Rückgriff auf Art. 13 (2) VOBK (wiedergegeben oben unter Nr. 1.2.4), der sich auf den Fall von Änderungen nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung bezieht, wäre daher gar nicht erforderlich. In diesem Fall können nach den amtlichen Erläuterungen zu dieser Vorschrift Kriterien von Artikel 13 (1) ebenfalls herangezogen werden. Jedenfalls hat die Einsprechende "außergewöhnliche Umstände" im Sinne dieser Vorschrift nicht geltend gemacht. Außerdem sieht die Kammer im Hinblick auf die vorstehend erörterten Kriterien von Artikel 13 (1) VOBK keinen Grund, davon abzuweichen, dass die Änderungen "grundsätzlich unberücksichtigt" bleiben.
1.2.6 Der neue Vortrag der Einsprechenden zu den Artikeln 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973 beruht daher nicht nur auf den von der Einsprechenden oben allgemein erwähnten Tatsachen (ursprünglicher Einspruchsgrund; Wortlaut der Ansprüche; ursprüngliche Anmeldung), sondern zusätzlich auf der Behauptung einer neuen Tatsache, wonach ein spezieller Gegenstand des Patents, bzw. ein spezielles Merkmal der Ansprüche des Patents, nicht klar sei und eine Information aufweise, die über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinausginge. Da die behauptete Tatsache sich nicht bereits im Beschwerdeverfahren befindet, ist der neue Vortrag der Einsprechenden zu den Artikeln 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973, inklusive möglicher Argumente um die aufgestellte Behauptung zu beweisen, nicht in das Verfahren zuzulassen.
Nach Alledem lässt die Kammer den neuen Vortrag der Einsprechenden zu den Einwänden gemäß Artikel 123(2) EPÜ und 84 EPÜ 1973 nicht zu (Artikel 13 VOBK 2020).
2. Hauptantrag - Artikel 54(1) EPÜ 1973 im Hinblick auf D9
2.1 Der Gegenstand des Anspruchs 4 ist neu im Hinblick auf Dokument D9 (Artikel 54(1) EPÜ 1973); insbesondere offenbart D9 wenigstens das Merkmal M4.1 nicht.
2.1.1 Auslegung des Wortlauts "Verfahren zur (...) Kontrolle von stabförmigen Produkten der Tabak verarbeitenden Industrie" im Anspruch 4
a) Mit der Zweckangabe "zur Kontrolle von stabförmigen Produkten der Tabak verarbeitenden Industrie" sind indirekt bestimmte Verfahrensschritte verbunden, die nötig sind, um den angegebenen Zweck zu erreichen. So sollen nicht irgendwelche Produkte kontrolliert werden, sondern spezifische, stabförmige Produkte der Tabak verarbeitenden Industrie. Dies schließt Produkte aus, die eine nicht-stabförmige Gestalt aufweisen. Ebenfalls sind Produkte ausgeschlossen, die hinsichtlich Gewicht oder Größe nicht kompatibel sind mit der Herkunft aus der Tabak verarbeitenden Industrie. Die Auswahl eines spezifischen Produkts impliziert einen weiteren Verfahrensschritt. Aufgrund der Zweckangabe im Anspruch 4 muss das beanspruchte Kontrollverfahren so ausgeführt werden, dass tatsächlich stabförmige Produkten der Tabak verarbeitenden Industrie kontrolliert werden.
b) Darüber hinaus wird durch die Zweckangabe die Eignung des Verfahrens zu dem besagten Zweck beansprucht, und die Zweckangabe schränkt den Schutzbereich des beanspruchten Verfahrens weiter ein. Herkömmliche Verfahren, welche alle Schritte des Anspruchs 4 aufweisen, sind nämlich nicht automatisch zur Kontrolle von stabförmigen Produkten der Tabak verarbeitenden Industrie geeignet.
c) Die Kammer ist daher der Auffassung, dass die "Kontrolle von stabförmigen Produkten der Tabak verarbeitenden Industrie" ein potenziell Neuheit begründendes funktionelles technisches Merkmal des beanspruchten Verfahrens ist.
2.1.2 Neuheit begründende Merkmale: Produktauswahl und Eignung des Verfahrens zur Kontrolle von stabförmigen Produkten der Tabakindustrie
a) D9 offenbart im Wesentlichen ein Verfahren zur Erfassung von Defekten in der Oberfläche von gerolltem Bandstahl anhand von Dunkelfeld- und Hellfeldaufnahmen (D9, Spalte 1, Zeilen 3 bis 15; Spalte 3, Zeilen 41 bis 45). Die zu kontrollierenden Produkte in D9 sind nicht stabförmig, sondern bandförmig und als Stahlprodukte nicht der Tabak verarbeitenden Industrie zuzuordnen. Die Produktauswahl der zu kontrollierenden Produkte in D9 entspricht daher nicht dem Merkmal M4.1 des vorliegenden Anspruchs 4. Die Bemerkung am Ende von D9, Spalte 6, Zeilen 29 bis 36, wonach die Erfindung von D9 auch in anderen technischen Gebieten, wie beispielsweise in der Herstellung von Papier- oder Plastikrollen einsetzbar sei, stellt diese Sachlage nicht in Frage, weil sie zu allgemein ist.
b) Des Weiteren ist das in D9, Figur 1, offenbarte Verfahren nicht geeignet, stabförmige Produkte der Tabak verarbeitenden Industrie zu kontrollieren. Wie in D9, Spalte 1, Zeilen 24 bis 30, offenbart, wird der Bandstahl über eine Rolle in einer erhöhten Position bewegt und somit schräg zur Horizontalen. Wie in der angefochtenen Entscheidung, Seite 11, zweiter Absatz, argumentiert, würde der in D9, Figur 1, gezeigte Bandstahl gar nicht mehr vorhanden und, wenn doch vorhanden, würden auf dem Bandstahl platzierte Zigaretten oder Schachteln sich zur Seite bewegen. Die Patentinhaberin weist in der Beschwerdeerwiderung, Seite 14, zweiter Absatz, auf ein weiteres Problem des Verfahrens von D9 hinsichtlich dessen Eignung hin, das beanspruchte Verfahren auszuführen, welches darin bestehe, dass "bei einer Reflexionsmessung unter streifendem, tangentialem Lichteinfall echte Fehler in der Oberfläche der stabförmigen Artikel der Tabak verarbeitenden Industrie nur schwach oder überhaupt nicht registriert werden können". Die Einsprechende hat in der mündlichen Verhandlung zwar die gegenteilige Behauptung aufgestellt, ohne jedoch die Eignung des Dunkelfeldmessverfahrens von D9 zur Kontrolle von stabförmigen Produkten der Tabakindustrie durch geeignetes Vorbringen zu stützen.
2.1.3 Das Verfahren in D9 offenbart weder die zur Kontrolle von stabförmigen Produkten der Tabakindustrie notwendigen Verfahrensschritte, noch ist das Verfahren von D9 dazu geeignet, stabförmige Produkten der Tabakindustrie zu kontrollieren. Daher ist das Verfahren des Anspruchs 4 neu gegenüber D9.
2.2 Gegenargumente der Einsprechenden
Die Einsprechende hat folgende Argumente zur Stützung ihrer Auffassung, wonach der Gegenstand des Anspruchs 4 von D9 vorweggenommen sei, vorgetragen (siehe Beschwerdebegründung, Punkt III.4.2; mündlicher Vortrag während der mündlichen Verhandlung):
2.2.1 Unter Hinweis auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, insbesondere auf die Entscheidung T 461/07, trug die Einsprechende vor, dass die Zweckangabe eines Verfahrens nicht die Wirkung eines funktionalen technischen Merkmals habe, die darin bestehe, das beanspruchte Verfahren von einem anderen Verfahren mit identischen Schritten, aber unterschiedlichem Zweck zu unterscheiden.
Die Kammer kann sich dieser Auffassung der Einsprechenden in ihrer Allgemeinheit nicht anschließen:
Gemäß der Entscheidung T 1931/14, ist "im Kontext eines Verfahrens zwischen verschiedenen Arten von Zweckangaben zu unterscheiden (...), nämlich denen, die die Anwendung eines Verfahrens definieren, und denen, die eine Wirkung definieren, die sich aus den Verfahrensschritten ergibt und darin implizit enthalten ist" (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage 2019, Abschnitt I.C.5.2.5). Zweckangaben in einem Verfahrensanspruch können abhängig von dem konkreten Fall eine einschränkende oder eben keine einschränkende Wirkung entfalten. In dem Fall T 1931/14 kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Zweckangabe von der ersten Art sei und eine einschränkende Wirkung auf das Verfahren entfalte.
Die Schlussfolgerung im Fall T 461/07, wonach der Zweck einer Verfahrensmaßnahme kein neuheitsbegründendes, funktionales technisches Merkmal des Verfahrensanspruchs sei, mag in dem speziellen, der Sache T 461/07 zugrundeliegenden Fall zutreffen. Die Kammer hat im Fall T 461/07 die Zweckangabe "lediglich als illustrativ und nicht einschränkend" angesehen. Jedoch hat diese Schlussfolgerung keine allgemeine Gültigkeit, insbesondere ist sie im vorliegendem Fall nicht anwendbar. Die erkennende Kammer ist der Auffassung, dass die Zweckangabe "zur Erhöhung der Waschechtheit der Färbung" in jenem Fall Begriffe beinhaltet, die eine relative Bedeutung haben, und damit nur eine vage Eignung des Verfahrens zur Erhöhung der Waschechtheit definiert und das beanspruchte Verfahren daher nicht eindeutig einschränken kann. Des Weiteren ergibt sich diese vage Eignung implizit aus den beanspruchten Verfahrensschritten und gehört somit zu der in der Entscheidung T 1931/14 definierten zweiten Art von nicht einschränkenden Zweckangaben.
Im Gegensatz zum Fall T 461/07 ergeben sich in der vorliegenden Angelegenheit, wie oben erläutert, weder die Auswahl eines stabförmigen Produkts der Tabak verarbeitenden Industrie noch die Eignung des Verfahrens zu dessen Kontrolle alleine aus den übrigen im Anspruch definierten Schritten M4.3 bis M4.7 des Anspruchs 4. Daher entfaltet die Zweckangabe im Merkmal M4.1 eine zusätzliche einschränkende Wirkung, die über die Wirkung der eigentlichen Verfahrensschritte M4.3 bis M4.7 des Anspruchs 4 hinausgeht. Des Weiteren ist anhand des Merkmals M4.4 sogar ausdrücklich definiert, dass nicht irgendwelche Produkte, sondern eben ganz bestimmte, nämlich stabförmige Produkte kontrolliert werden. Auch wegen dieser Rückbeziehung im Merkmal M4.4 auf die im Merkmal M4.1 definierten stabförmigen Produkte entfaltet die Zweckangabe im Merkmal M4.1 eindeutig eine einschränkende Wirkung (siehe unten Punkt 2.2.2).
2.2.2 Die Einsprechende argumentierte, dass die Verfahrensschritte M4.3 bis M4.7 des ursprünglich erteilten Anspruchs 4 zur Kontrolle für alle Produkte der Tabak verarbeitenden Industrie geeignet gewesen seien. Die eigentlichen Verfahrensschritte M4.3 bis M4.7 des geltenden Anspruchs 4 blieben gegenüber dem ursprünglich erteilten Anspruch 4 komplett unverändert. Nur die Verwendung des Verfahrens sei auf die Kontrolle von stabförmigen, anstatt von allen, Produkten eingeschränkt. Die stabförmigen Produkte gehörten jedoch nicht zum Verfahren. Das bedeute, dass das Verfahren des geltenden Anspruchs 4 an sich identisch gegenüber dem aus dem Stand der Technik bekannten Verfahren des ursprünglich erteilten Anspruchs 4 geblieben sei. Auch aus diesem Grund sei das Verfahren des vorliegenden Anspruchs 4 nicht neu.
Diese Argumentation der Einsprechenden ist nicht nachvollziehbar:
Wie oben im Punkt 2.1.1 ausgeführt, muss aufgrund der Zweckangabe im Merkmal M4.1 das Verfahren gemäß dem geltenden Anspruch 4 so ausgeführt werden, dass effektiv stabförmige Produkte kontrolliert werden.
Darüber hinaus werden gemäß Merkmal M4.4 des geltenden Anspruchs 4 zwei Aufnahmen "des wenigstens einen Produkts" erfasst, womit das stabförmige Produkt des Merkmals M4.1 gemeint ist. Trotz gleichen Wortlauts definiert der Verfahrensschritt M4.4 eine eindeutige Einschränkung gegenüber dem ursprünglich erteilten Anspruch 4, in dem allgemein Aufnahmen eines unbestimmten Produkts der Tabak verarbeitenden Industrie erfasst werden.
2.2.3 Die Einsprechende trug vor, dass der Begriff "stabförmige Produkte der Tabak verarbeitenden Industrie" breit auszulegen sei und nicht nur Fertigprodukte, wie beispielsweise Zigaretten, umfasse, sondern auch Zwischenprodukte, wie beispielsweise Papier zur Umhüllung des Tabaks der Zigaretten. Zigarettenpapier sei in Absatz [0003] offenbart. Papierrollen, und somit auch die entsprechenden Papierstreifen, seien stabförmige Produkte und ausdrücklich in D9, Spalte 6, Zeilen 34 bis 36, erwähnt. Die Kontrolle dieser Papierrollen bzw. Papierstreifen in D9 falle unter den Wortlaut des Merkmals M4.1. Auch das Merkmal M4.4. beziehe sich auf Aufnahmen des Zwischenprodukts der Zigaretten, nämlich Umhüllungspapier. Daher nehme D9 die Neuheit des Verfahrens des Anspruchs 4 vorweg.
Die Kammer ist von dieser Argumentation nicht überzeugt:
Der Wortlaut des Merkmals M4.4 verbietet eine solche Auslegung, weil gemäß Merkmal M4.4 Aufnahmen "des wenigstens einen Produkts" zu erfassen sind. Der bestimmte Artikel "des" in dem Ausdruck "des wenigstens einen Produkts" bezieht sich eindeutig auf eines der stabförmigen Produkte des Merkmals M4.1. Aufnahmen eines nicht-stabförmigen Produkts fallen daher nicht unter den Wortlaut des Merkmals M4.4 in Verbindung mit dem Merkmal M4.1.
Der Fachmann würde das Merkmal "Kontrolle von stabförmigen Produkten der Tabak verarbeitenden Industrie" nicht so auslegen, dass damit auch andere Produkte als stabförmige Produkte, beispielsweise bandförmiges Papier zur Umhüllung von stabförmigen Produkten, kontrolliert werden.
3. Hauptantrag - weitere Einwände gemäß Artikel 54(1) und 56 EPÜ 1973
3.1 Der einzige Vortrag der Einsprechenden während der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Erfordernisse der Artikel 54(1) und 56 EPÜ 1973 bezog sich auf den Einwand fehlender Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 4 im Hinblick auf D9 (siehe oben Punkt 2.). Die Einsprechende hat mehrmals während der mündlichen Verhandlung erklärt, dass sie keine weiteren Einwände gemäß Artikel 54(1) und/oder 56 EPÜ 1973 vortragen möchte.
3.2 In der Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020 vertrat die Kammer die vorläufige Meinung, dass das Patent in geänderter Fassung gemäß Hauptantrag alle Erfordernisse des EPÜ erfüllt (siehe Punkte 6.3 und 6.4.2 e) jener Mitteilung).
Die Einsprechende hat, abgesehen von ihrem Vortrag während der mündlichen Verhandlung (siehe oben Punkt 2.) hinsichtlich der angeblich fehlenden Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 4 gegenüber D9, nicht versucht, die vorläufige Stellungnahme der Kammer zu widerlegen. Die Kammer sieht keine Veranlassung, von ihrer vorläufigen Stellungnahme abzuweichen, die daher endgültig wird.
3.3 Daraus folgt, dass der Gegenstand der Ansprüche 1 und 4 gegenüber dem vorliegenden Stand der Technik neu ist und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Artikel 54(1) und 56 EPÜ 1973).
4. Anpassung der Beschreibung
4.1 Am Ende der mündlichen Verhandlung hat die Einsprechende Einwände gegen die angeblich nicht angepasste Beschreibung erhoben (Artikel 84 EPÜ 1973) und den Widerruf des Patents bei Verweigerung der Änderung der Beschreibung beantragt. Der Wortlaut in den Absätzen [0001], [0003] und [0010] der Beschreibung des Patents stehe nicht im Einklang mit dem Wortlaut der geänderten Ansprüche 1 und 4, weil in den Absätzen [0001], [0003] und [0010] der Beschreibung ein Hinweis auf die neu hinzugekommene Einschränkung der Ansprüche 1 und 4 des Patents auf stabförmige Produkte fehle.
4.2 Wie von der Patentinhaberin beantragt, lässt die Kammer diesen auf Tatsachen bezogenen, erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgebrachten Einwand der Einsprechenden und den entsprechenden Antrag auf Widerruf nicht in das Verfahren zu (Artikel 13 VOBK 2020). Wie im Fall des angekündigten neuen Vortrags zu Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 84 EPÜ 1973 (oben, Nr. 1), würde auch hier die Prüfung das Verfahren verzögern. Nachdem die Einsprechende nicht vorgetragen hat, warum sie den Antrag im spätest möglichen Stadium des Verfahrens vorgebracht hat und für die Kammer hierfür auch keine Gründe erkennbar sind, wäre eine hierdurch bedingte Verfahrensverzögerung nicht hinnehmbar.
5. Aus den genannten Gründen ist die Kammer davon überzeugt, dass das Patent gemäß geltendem Hauptantrag in der von der Einspruchsabteilung in geändertem Umfang aufrechterhalten Fassung und die Erfindung, auf die es sich bezieht, den Erfordernissen des EPÜ entsprechen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.