J 0014/19 19-04-2021
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VERFAHREN ZUM HERSTELLEN VON GETRÄNKEKISTEN AUS KUNSTSTOFF
Aussetzung des Erteilungsverfahrens (ja)
Zeitpunkt der Rechtshängigkeit eines nationalen Verfahrens - Anwendung fremden Rechts (ja)
Rechtsmissbräuchliches Verhalten (nein)
Fortsetzung des Erteilungsverfahrens (nein)
1.) Der Nachweis des Vorliegens der Voraussetzungen für die Aussetzung des Verfahrens nach Regel 14 (1) EPÜ muss während eines anhängigen Erteilungsverfahrens und somit vor Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung im Europäischen Patentblatt erfolgen. Beweismittel, die erst nach diesem Zeitpunkt eingereicht werden, dürfen vom Europäischen Patentamt hierfür nicht berücksichtigt werden (Nr. 4.3 der Gründe).
2.)Die Frage zu welchem Zeitpunkt ein nationales Verfahren im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ als eingeleitet gilt, ist nach dem Verfahrensrecht jenes Staates zu beurteilen, dessen Gerichte zum Treffen einer Entscheidung im Sinne des Artikels 61 (1) EPÜ angerufen wurden (Nr. 6.1 und 6.2 der Gründe).
3.) Bei der Anwendung fremden Rechtes muss das Europäische Patentamt dieses, soweit möglich, im Gesamtzusammenhang der fremden Rechtsordnung anwenden. Dabei ist das Europäische Patentamt als von staatlichen Behörden und Gerichten unabhängige internationale Organisation nicht an die Rechtsprechung nationaler Gerichte zur Auslegung der anzuwendenden fremden Rechtsnorm gebunden. Sofern dem Europäischen Patentamt bekannt, sollte insbesondere höchstgerichtliche nationale Rechtsprechung bei der Entscheidungsfindung jedoch berücksichtigt und gewürdigt werden(Nr. 6.5 der Gründe).
4.) Fragen des Rechtsmissbrauchs stellen sich auch in den Verfahren vor dem Europäischen Patentamt (siehe etwa Artikel 16 (1) e) VOBK 2020). Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen sind derartige Fragen vom Europäischen Patentamt auch im Rahmen des Aussetzungsverfahrens autonom, also unabhängig von nationalen Rechtsordnungen zu beurteilen (Nr. 6.22 der Gründe).
5.) Die zweckwidrige Inanspruchnahme eines Rechtes kann unter Umständen Rechtsmissbrauch begründen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Rechtsausübung überwiegend in Schädigungsabsicht erfolgt und andere, legitime Zwecke in den Hintergrund treten. Rechtsmissbrauch muss zweifelsfrei vorliegen und erfordert eine sorgfältige Prüfung und Abwägung der Einzelumstände. Die Beweislast trifft denjenigen, der sich auf Rechtsmissbrauch beruft (Nr. 13.1 der Gründe).
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Rechtsabteilung vom 28. Oktober 2019, folgende Anträge der Beschwerdeführerin zurückzuweisen:
- Antrag auf Aufhebung der Aussetzung des europäischen Patenterteilungsverfahrens
- Antrag auf Aufhebung der Löschung der Bekanntmachung des Hinweises über die Erteilung des europäischen Patents im Europäischen Patentblatt sowie Antrag auf Veröffentlichung einer Berichtigung der Löschung im Europäischen Patentblatt
- Hilfsantrag auf Anordnung der Fortsetzung des Verfahrens gemäß Regel 14 (3) EPÜ
II. Die Beschwerdeführerin beantragt, diese Entscheidung aufzuheben und diesen Anträgen stattzugeben.
III. Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen und die Aussetzung des Patenterteilungsverfahrens nicht aufzuheben.
IV. Mit Mitteilung vom 26. April 2019 hatte die Prüfungsabteilung die Beschwerdeführerin darüber informiert, dass die Entscheidung über die Erteilung eines europäischen Patents mit dem Hinweis über die Erteilung im Europäischen Patentblatt am 22. Mai 2019 wirksam werden würde.
V. Am 3. Mai 2019 beantragte die Beschwerdegegnerin die Aussetzung des Verfahrens und legte den Auszug einer am selben Tag beim Verwaltungsgericht München eingebrachten Vindikationsklage vor. Der Auszug bestand aus den ersten vier Seiten sowie der letzten Seite der Klageschrift, welchen die Verfahrensparteien, die Klageanträge sowie die Unterschrift entnommen werden konnten. Am 15. Mai 2019 legte die Beschwerdegegnerin eine Bestätigung über den Eingang der Klage beim Verwaltungsgericht München am 3. Mai 2019 vor. Das Verwaltungsgericht München stellte die Klage der Beschwerdeführerin zu und verwies den Rechtsstreit wegen Unzulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs an das Landgericht München I.
VI. Mit Mitteilung vom 21. Mai 2019 informierte die Rechtsabteilung die Beteiligten über die rückwirkende Aussetzung des Erteilungsverfahrens mit Wirkung vom 15. Mai 2019 sowie darüber, dass der Hinweis über die Erteilung berichtigt werden würde. Die Löschung dieses Hinweises wurde im Europäischen Patentblatt am 26. Juni 2019 veröffentlicht.
VII. Am 17. Juli 2019 stellte die Beschwerdeführerin jene Anträge, die von der Rechtsabteilung mit der nunmehr angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen wurden.
VIII. Am 7. Oktober 2019 legte die Beschwerdegegnerin in Entsprechung einer Aufforderung der Rechtabteilung die gesamte Klageschrift einschließlich der Klagebegründung vor.
IX. Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass nach der Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer in der Rechtssache J 15/13 bei einem Aussetzungsantrag unter anderem geprüft werden müsse, ob die Klage zu einem Urteil im Sinne des Artikels 61(1) EPÜ führen kann. Der Gegenstand einer Klage werde nicht nur durch die Anträge, sondern auch durch die Klagebegründung bestimmt. Daher sei die Vorlage der Klagebegründung zur Überprüfung des Vorliegens dieser Voraussetzung erforderlich. Eine erst nach Bekanntmachung des Hinweises über die Erteilung des europäischen Patents vorgelegte Klagebegründung dürfe bei der Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens nicht mehr berücksichtigt werden.
X. Die Beschwerdeführerin behauptete des Weiteren, dass die Vorlage eines bloßen Klageauszugs Rechtsmissbrauchsverdacht begründe. Aus der Vorlage der ersten Seite und der letzten Seiten der Klageschrift sei ersichtlich, dass die dazwischen befindliche Klagebegründung gezielt entnommen worden sei. Dies sei als starker Hinweis dafür anzusehen, dass die Beschwerdegegnerin befürchtet habe, die Vorlage der vollständigen Klageschrift werde einer Überprüfung durch das Europäische Patentamt nicht standhalten.
XI. Darüber hinaus verzögere die Beschwerdegegnerin das Verfahren vor dem Europäischen Patentamt rechtsmissbräuchlich, was in der angefochtenen Entscheidung nicht berücksichtigt worden sei. Zum einen sei der Antrag auf Aussetzung erst nach Ergehen der Mitteilung nach Regel 71 (3) EPÜ gestellt worden. Zum anderen sei auch die Vindikationsklage rechtsmissbräuchlich und bewusst im falschen Rechtsweg eingelegt worden, nämlich beim Verwaltungsgericht München anstatt beim Landgericht München I. Die Verhandlungen über Berechtigungsanteile seien als Einheit mit der rechtmissbräuchlichen Vindikationsklage anzusehen und hätten nur aus Forderungen der Beschwerdegegnerin bestanden.
XII. Bei der Zurückweisung des Hilfsantrags auf Anordnung der Fortsetzung des Verfahrens sei die Rechtsabteilung bei der Abwägung der Interessen der beiden Beteiligten nicht auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin eingegangen, dass die Erfindung bereits Gegenstand umfangreicher Nachahmungen von Wettbewerbern sei. Ebenso sei unberücksichtigt geblieben, dass ein rechtskräftiges Urteil über die Vindikationsklage erst am Ende der Patentlaufzeit zu erwarten sei. Dies verwehre der Beschwerdeführerin im Ergebnis den Schutz ihrer Erfindung vor Nachahmungen durch Wettbewerber.
XIII. Die Beschwerdegegnerin erwiderte, dass dem vorgelegten Klageauszug und der gerichtlichen Eingangsbestätigung entnommen habe werden können, dass die Beschwerdegegnerin ein Verfahren gegen die Beschwerdeführerin mit dem Ziel eingeleitet habe, eine Entscheidung im Sinne des Artikel 61 (1) EPÜ zu erwirken. Dementsprechend habe die Rechtsabteilung vor Treffen der Aussetzungsentscheidung auch keine weiteren Unterlagen von der Beschwerdegegnerin angefordert.
XIV. Eine ausführliche Prüfung der Klage sei nur bei Zweifeln über die Natur der Klage, insbesondere bei Rechtsmissbrauchsverdacht angezeigt. Im vorliegenden Fall habe es keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben. Ob eine ausführlichere Prüfung erforderlich sei, sei zudem eine Ermessenentscheidung der Rechtsabteilung. Diese habe ihr Ermessen korrekt ausgeübt.
XV. In der Entscheidung J 15/13 habe die Juristische Beschwerdekammer ausgeführt, dass die Prüfung der Voraussetzungen der Regel 14 i.V.m. Artikel 61 EPÜ nicht zu einer inhaltlichen Prüfung der Klage führen dürfe, da diese allein den nationalen Gerichten vorbehalten sei. Lediglich bei der Prüfung, ob es sich bei der Klage tatsächlich um eine im Sinne des Artikel 61 (1) EPÜ handle, dürfe das Europäische Patentamt auch das Klagevorbringen berücksichtigen. Dies sei jedoch nicht zwingend.
XVI. Das Verfahren werde durch die Beschwerdegegnerin nicht rechtsmissbräuchlich verzögert. Dritte könnten an jedem beliebigen Zeitpunkt vor dem Tag der Bekanntmachung der Patenterteilung eine Aussetzung des Verfahrens beantragen. Darüber hinaus habe die Beschwerdegegnerin erst am Ende des Prüfungsverfahrens abschätzen können, auf welchen beanspruchten Erfindungsgegenstand sich die Anmeldung letztlich beschränken werde. Die Vergleichsverhandlungen seien keinesfalls auf Forderungen der Beschwerdegegnerin beschränkt gewesen; vielmehr habe auch die Beschwerdeführerin einen Vorschlag für eine gütliche Einigung gemacht. Zudem sei es ein übliches Vorgehen, eine für ein Landgericht bestimmte Klage beim Verwaltungsgericht einzureichen, um die unmittelbare Rechtshängigkeit der Klage noch vor Zustellung an den Beklagten zu erreichen. Dieses Vorgehen sei angesichts der gebotenen Eile notwendig gewesen und begründe keinen Hinweis auf Rechtsmissbrauch.
XVII. Die Rechtsabteilung habe eine Abwägung der Interessen der beiden Beteiligten vorgenommen. Das Interesse der Beschwerdeführerin an der Verfolgung angeblicher Benutzungen durch Wettbewerber sei nicht stärker zu gewichten als das Interesse der Beschwerdegegnerin und Vindikationsklägerin, über ihre Erfindung bestimmen zu können. Zudem sei die Verfolgung von Benutzungen der Erfindung durch Wettbewerber auch im Interesse der Beschwerdegegnerin. Die Patentlaufzeit der Streitpatentanmeldung von maximal 20 Jahren ende im November 2032, also erst in 12 Jahren. Ein rechtskräftiges Urteil sei daher keineswegs erst am Ende der Patentlaufzeit zu erwarten. Die Beschwerde sei daher zurückzuweisen.
XVIII. Mit Mitteilung vom 15. Dezember 2020 teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Einschätzung der voraussichtlich entscheidungsrelevanten Punkte mit.
XIX. Mit Schriftsatz vom 27. Januar 2021 ergänzte die Beschwerdeführerin ihr Vorbringen zur Auslegung von Artikel 61 (1) EPÜ und Regel 14 (1) EPÜ dahingehend, dass die Rechtshängigkeit der Klage nicht schon mit deren Einreichung beim Verwaltungsgericht München begründet worden sei. In mehreren Gesetzeskommentaren zur deutschen Verwaltungsgerichtsordnung werde ausgeführt, dass Rechtshängigkeit nicht eintrete, wenn die Klage bei einem als unzuständig erkannten Gericht eingereicht werde, das Verwaltungsgericht nur als Bote genutzt werde und die Anwendung von § 253 (1) der deutschen Zivilprozessordnung (ZPO) umgegangen werden solle. All dies treffe auf die Beschwerdegegnerin zu, wie auch aus deren eigenen Eingaben hervorgehe. Die Rechtsgrundlagen des nationalen Rechts seien uneingeschränkt zu berücksichtigen. Als Sonderabkommen zur Pariser Verbandsübereinkunft dürfe das EPÜ den durch Artikel 2 PVÜ ausdrücklich vorbehaltenen Rechtsvorschriften jedes der Verbandsländer über das gerichtliche und das Verwaltungsverfahren und die Zuständigkeit zu Rechtsbehelfen nicht zuwiderlaufen.
XX. Die Beschwerdeführerin brachte zudem vor, dass dem Europäischen Patentamt bei der Entscheidung über die Aussetzung nach Regel 14(1) EPÜ kein Ermessen zukomme, auch nicht hinsichtlich der Frage, ob für die Prüfung des Nachweises eines Verfahrens im Sinne des Artikel 61 (1) EPÜ die ursprünglichen Klageanträge ausreichen und auf die Klagegründe verzichtet werden kann. Auf die ursprünglich eingereichten Klageanträge treffe auch nicht zu, dass diese Art und Umfang des Rechtsschutzbegehrens und damit den Tenor der angestrebten gerichtlichen Entscheidung determinierten, da die Anträge im Laufe eines Verfahrens vollständig geändert werden könnten. Aufgrund der zweigliedrigen Definition des Streitgegenstandes - bestehend aus Klageantrag und Klagegrund - müssten die Klagegründe bei der Prüfung des Nachweises einer Klage gemäß Artikel 61 (1) EPÜ zwingend miteinbezogen werden. Generell müsse Beweismaterial umso stichhaltiger sein, je schwerwiegender eine Tatfrage sei. Da die Entscheidung über die Aussetzung eine Blockierung der Patenterteilung bewirke, sei die Frage des Nachweises der Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 61 (1) EPÜ als äußerst schwerwiegend anzusehen, zumal der Anmelder vor Erlass der Entscheidung nicht gehört werde. Missbrauchsverdacht sei keine Voraussetzung für eine ausführliche Prüfung der Klage einschließlich der Klagegründe.
XXI. Des Weiteren brachte die Beschwerdeführerin vor, dass die vorläufige Meinung der Kammer im Widerspruch zu der Entscheidung J 15/13 stehe und folgende Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung aufwerfe:
a) ob es bei der Überprüfung der Einleitung eines Verfahrens nach Art. 61(1) EPÜ geboten sei, auch die Klagegründe zu überprüfen, da der Gegenstand der Klage durch die Klageanträge und die Klagegründe bestimmt werde;
b) ob im Hinblick darauf, dass allein der Antragsteller über die entsprechenden Nachweise verfüge, der Anmelder nicht gehört werde und die Möglichkeit des Missbrauches eines Antrags auf Aussetzung des Erteilungsverfahrens bestehe, ein erhöhtes Beweismaß für den Nachweis der Einleitung eines Verfahrens gemäß Artikel 61(1) EPÜ gelte;
c) ob es unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs zulässig sei, ein Erteilungsverfahrens ohne Anhörung des Anmelders und ohne Prüfung der Klagegründe auszusetzen.
Einen Antrag auf Vorlage dieser Fragen an die Große Beschwerdekammer stellte die Beschwerdeführerin nicht.
XXII. Am 19. April 2021 wurde mit Zustimmung der Beteiligten eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz durchgeführt.
XXIII. In der mündlichen Verhandlung beantragte die Beschwerdegegnerin, dass die Ausführungen der Beschwerdeführerin in deren Schriftsatz vom 27. Januar 2021 als verspätet nicht in das Verfahren zugelassen werden sollten. In inhaltlicher Hinsicht verwies die Beschwerdegegnerin darauf, dass Kommentarauszüge nicht mit Rechtsprechung gleichgesetzt werden könnten. Darüber hinaus werde die Rechtshängigkeit einer beim unzuständigen Gericht eingereichten Klage nach der deutschen Rechtsprechung nur in einzelnen Extremfällen verneint, etwa bei Fehlen eines ernsthaft gemeinten Rechtsschutzbegehrens oder bei Missbrauch eines Gerichtes als Boten. Letzteres wäre der Fall gewesen, wenn ein an das Landgericht adressierter Schriftsatz beim Briefkasten des Verwaltungsgerichtes eingeworfen worden wäre. Im gegenständlichen Fall sei die Klage jedoch an jenes Gericht adressiert gewesen, bei dem sie auch eingebracht worden sei. Die Ernsthaftigkeit des Rechtsschutzbegehrens sei von der Beschwerdeführerin nie in Zweifel gezogen worden.
XXIV. Hinsichtlich des Antrags auf Fortsetzung des Verfahrens führte die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung aus, dass die Beschwerdegegnerin keinerlei Anlass zu der Befürchtung habe, dass es zu ihr nachteiligen Verfügungshandlungen seitens der Anmelderin kommen könne. Die Beschwerdeführerin trug des Weiteren vor, dass die Beschwerdegegnerin die Vindikationsklage mittlerweile auf die zugehörige Teilanmeldung erweitert und die Aussetzung dieses Verfahrens erneut erst kurz vor Erteilung beantragt habe. Im gegenständlichen Fall dauere die Aussetzung des Erteilungsverfahrens auch bereits beinahe zwei Jahre an; die weitere Dauer des nationalen Vindikationsverfahrens sei ungewiss.
XXV. Die Beschwerdegegnerin erwiderte, dass der Zweck der Aussetzung des Erteilungsverfahrens nicht auf die Verhinderung von Verfügungshandlungen beschränkt sei. Vielmehr diene die Aussetzung des Verfahrens auch der Sicherung der eigenen Handlungsfreiheit und verhindere die Geltendmachung unberechtigter Unterlassungsansprüche. Im nationalen Vindikationsverfahren sei für 2. Juni 2021 eine Vorbesprechung anberaumt worden.
XXVI. Die Schlussanträge am Ende der mündlichen Verhandlung entsprachen den oben genannten Anträgen (siehe Nr. I-III oben).
1. Berücksichtigung des Vorbringens der Beschwerdeführerin im Schriftsatz vom 27. Januar 2021
1.1 Nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Ablauf einer von der Kammer in einer Mitteilung nach Regel 100 (2) EPÜ bestimmten Frist oder, wenn eine solche Mitteilung nicht ergeht, nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
1.2 Voraussetzung für die Anwendung von Artikel 13 (2) VOBK 2020 ist, dass das in Frage stehende Vorbringen eine "Änderung des Beschwerdevorbringens" im Sinne dieser Bestimmung ist. Dieser Begriff ist zunächst unter Heranziehung von Artikel 13 (1) VOBK 2020 auszulegen, in dem derselbe Begriff verwendet wird. Bezugspunkt der Prüfung, ob eine Änderung des Beschwerdevorbringens gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 vorliegt, ist demnach - soweit rechtzeitig eingelegt - die Beschwerdebegründung oder Erwiderung. Dadurch unterscheidet sich Artikel 13 (1) und (2) VOBK 2020 von Artikel 12 (4) VOBK 2020. Bei letzterer Bestimmung ist Bezugspunkt für die Frage, ob ein Teil des Beschwerdevorbringens als Änderung anzusehen ist, die angefochtene Entscheidung.
1.3 Gemäß Artikel 12 (2) VOBK 2020 ist Beschwerdevorbringen, das nicht auf die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden "Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel" gerichtet ist, als "Änderung" im Sinne des Artikels 12 (4) VOBK 2020 anzusehen. Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn der Beteiligte zeigt, dass der betroffene Teil des Vorbringens im erstinstanzlichen Verfahren in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurde.
1.4 Im Sinne einer systematischen Auslegung ist die Frage, ob ein Vorbringen eine "Änderung des Beschwerdevorbringens" im Sinne des Artikel 13 (1) und (2) VOBK 2020 bewirkt, unter Heranziehung der in Artikel 12 (2) VOBK 2020 enthaltenen Aufzählung der möglichen Bestandteile von Beschwerdevorbringen zu beantworten. Demnach bewirkt Vorbringen, das nicht auf die in der Beschwerdebegründung oder Erwiderung enthaltenen "Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel" gerichtet ist, eine Änderung des Beschwerdevorbringens. Dies ergibt sich auch aus Artikel 12 (3) VOBK 2020, in dem ebenfalls auf diese Bestandteile von Beschwerdevorbringen Bezug genommen und angeordnet wird, dass die Beschwerdebegründung und die Erwiderung das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten müssen.
1.5 Eine Änderung der Patentanmeldung oder des Patents nach dem in Artikel 13 (2) VOBK 2020 genannten Zeitpunkt stellt in der Regel daher ebenso eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne dieser Bestimmung dar wie die Änderung eines Einwandes auf Seiten der Einsprechenden.
1.6 Auf Ebene des EPÜ ist die Möglichkeit, verspätetes Vorbringen nicht zuzulassen, in Artikel 114 (2) EPÜ geregelt; im Hinblick auf Änderungen der Patentanmeldung oder des Patents kann Artikel 123 (1) EPÜ ergänzend als Rechtsgrundlage herangezogen werden (vgl. R 6/19, Nr. 5-10 der Gründe). Artikel 114 (2) EPÜ nimmt auf "Tatsachen und Beweismittel" Bezug; auf Grundlage dieser Bestimmung kann verspätetes Vorbringen, das ein Tatsachenelement enthält, unberücksichtigt bleiben.
1.7 Nach Ansicht der Kammer ist bereits die Bezugnahme auf eine bestimmte Textstelle eines Dokumentes - also auf einen Teil eines Beweismittels zum Nachweis einer bestimmten Tatsache - als Tatsachenelement eines Vorbringens anzusehen. Ob ein Vorbringen, das ein Tatsachenelement enthält, eine Änderung im Sinne des Artikels 12 (4) VOBK 2020 bzw. eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne des Artikels 13 (1) und (2) VOBK 2020 darstellt, muss - unter Anwendung des jeweiligen Bezugspunktes (siehe oben, Nr. 1.2 der Gründe) - im Gesamtzusammenhang der Umstände des Einzelfalles beurteilt werden.
1.8 Der bloße Umstand, dass eine Beteiligte bereits ein bestimmtes Dokument in das Beschwerdeverfahren eingeführt hat, bedeutet nicht, dass dessen gesamter Inhalt Teil des Beschwerdevorbringens dieser Beteiligten ist. Beruft sich eine Beteiligte in ihrem weiteren Vorbringen auf andere als die bisher herangezogenen Textstellen eines solchen Dokuments, kann dies daher eine Änderung des Beschwerdevorbringens bewirken (vgl. T 482/18, Nr. 1.2.5 e) der Gründe). Nach Ansicht der Kammer stellt grundsätzlich sowohl eine neue Kombination von Tatsachenelementen (z.B. die Wahl einer anderen Entgegenhaltung oder einer anderen Textstelle einer Entgegenhaltung als Ausgangspunkt für die Beurteilung erfinderischer Tätigkeit) als auch eine neue Kombination von Tatsachen- und Rechtselementen (z.B. die Bezugnahme auf eine bereits erörterte Textstelle in einem anderen rechtlichen Zusammenhang) eine Änderung des Beschwerdevorbringens dar. Von einer Änderung des Beschwerdevorbringens abzugrenzen ist die bloße Verfeinerung einer bereits bestehenden Argumentationslinie (vgl. T 247/20, Nr. 1.3 der Gründe).
1.9 Nach Ansicht der Kammer ist der Begriff der "Argumente" in Artikel 12 (2) VOBK 2020 so auszulegen, dass das Auslegungsergebnis im Einklang mit Artikel 114 (2) EPÜ steht. Ausführungen einer Beteiligten, die ausschließlich die Auslegung des EPÜ betreffen, enthalten kein Tatsachenelement, also keine Bezugnahme auf "Tatsachen und Beweismittel" im Sinne des Artikel 114 (2) EPÜ. Deartige reine Rechtsausführungen fallen nach Ansicht der Kammer daher nicht unter den Begriff der "Argumente" in Artikel 12 (2) VOBK 2020. Dieser Begriff bezieht sich nach Ansicht der Kammer vielmehr auf Ausführungen, die sowohl Rechts- als auch Tatsachenelemente enthalten. Dies ist insbesondere bei Fragen der Patentierbarkeit regelmäßig der Fall, etwa wenn eine Beteiligte unter Heranziehung der Kunstperson des Fachmanns und im Hinblick auf eine angestrebte Rechtsfolge zum Offenbarungsgehalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung oder einer vorveröffentlichten Patentschrift vorträgt.
1.10 Da Ausführungen, die ausschließlich die Auslegung des EPÜ betreffen, nicht unter den Begriff der "Argumente" gemäß Artikel 12 (2) VOBK zu subsumieren sind, bewirken derartige reine Rechtsausführungen auch keine Änderung im Sinne des Artikel 12 (4) VOBK 2020. Im Ergebnis wird dies auch in den erläuternden Bemerkungen zu der VOBK 2020 bestätigt: "Ausführungen eines Beteiligten, die ausschließlich die Auslegung des Rechts betreffen, sind nicht als Änderung im Sinne des neuen Artikels 12 (4) zu behandeln" (CA/3/19, Rn. 54; siehe auch die in CA/3/19 enthaltene Tabelle zu den Änderungen der VOBK mit Erläuterungen). Auf Artikel 13 (1) und (2) VOBK 2020 ist dies entsprechend anzuwenden, sodass reine Rechtsausführungen ohne Tatsachenelement auch keine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne dieser Bestimmungen bewirken können.
1.11 Die Ausführungen der Beschwerdeführerin in deren Schriftsatz vom 27. Januar 2021 sind entweder (i) eine Wiederholung oder Verfeinerung von bereits in der Beschwerdebegründung enthaltenen Ausführungen, (ii) Ausführungen, die ausschließlich die Auslegung von Artikel 61 (1) EPÜ und Regel 14 (1) EPÜ betreffen oder (iii) Ausführungen zu deutschem Recht, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den in der Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK 2020 erstmals getätigten Aussagen der Kammer zum deutschen Recht stehen. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin im Schriftsatz vom 27. Januar 2021 werden von der Kammer daher gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 berücksichtigt. Auf die Frage, ob Ausführungen einer Beteiligten, welche (ausschließlich) die Auslegung fremden Rechts betreffen, ebenfalls keine Änderung des Beschwerdevorbringens gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 bewirken können oder ob diese, wie in manchen nationalen Rechtsordnungen (vgl. C. Esplugues et al., General Report on the Application of Foreign Law by Judicial and Non-Judicial Authorities in Europe, in Esplugues et al., Application of Foreign Law, 2011, S. 8, Rn. 7) als Ausführungen mit Tatsachenelement anzusehen sind, muss insofern nicht eingegangen werden.
2. Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents
2.1 Gemäß Artikel 60 (1) EPÜ steht das Recht auf das europäische Patent dem Erfinder oder seinem Rechtsnachfolger zu. Im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt wird gemäß Artikel 60 (3) EPÜ fingiert, dass dem jeweiligen Anmelder - also demjenigen, der die Erteilung des europäischen Patents formal beantragt hat - das Recht auf das europäische Patent zukommt.
2.2 Das Europäische Patentamt ist nicht befugt, darüber zu entscheiden ob ein bestimmter Anmelder einen Anspruch gemäß Artikel 60 (1) EPÜ auf Erteilung eines europäischen Patents für den Gegenstand einer bestimmten Anmeldung hat (G 3/92, Nr. 3 der Gründe). Nach dem Anerkennungsprotokoll sind hierfür ausschließlich die Gerichte der Vertragsstaaten zuständig. Diese können den Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents einer Person zusprechen, die sich von der Person des Anmelders vor dem Europäischen Patentamt unterscheidet.
2.3 Gemäß Artikel 9 (2) des Anerkennungsprotokolls dürfen die Zuständigkeit des Gerichts, dessen Entscheidung über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents anerkannt werden soll sowie die Gesetzmäßigkeit dieser Entscheidung nicht nachgeprüft werden. Wenngleich primär an die Vertragsstaaten des EPÜ adressiert, ist das Anerkennungsprotkoll gemäß Artikel 164 (1) EPÜ Bestandteil des EPÜ und somit auch für das Europäische Patentamt verbindlich (siehe J 36/97, Nr. 4 der Gründe; zur Anerkennungspflicht siehe auch Regel 16 (2) EPÜ).
2.4 Wird der Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents durch rechtskräftige Entscheidung eines nationalen Gerichts einer anderen Person als dem Anmelder zugesprochen, kann diese gemäß Artikel 61 (1) EPÜ bestimmte Verfügungshandlungen vornehmen: Der tatsächliche Berechtigte kann die Anmeldung im eigenen Namen weiterverfolgen, eine neue Anmeldung für dieselbe Erfindung einreichen oder die Zurückweisung der Anmeldung beantragen.
3. Aussetzung des Erteilungsverfahrens - Zweck und Wirkung
3.1 Aufgrund der Fiktion des Artikel 60 (3) EPÜ kann ein unberechtigter Anmelder bis zum Vorliegen der rechtskräftigen Entscheidung eines nationalen Gerichts im Sinne des Artikel 61 (1) EPÜ im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt Verfügungshandlungen vornehmen, die nicht im Interesse des tatsächlich Berechtigten sind. Daher wird das Patenterteilungsverfahren gemäß Regel 14 (1) EPÜ ausgesetzt, wenn ein Dritter den Nachweis erbringt, ein nationales Gerichtsverfahren mit dem Ziel eingeleitet zu haben, eine Entscheidung im Sinne des Artikel 61 (1) EPÜ zu erwirken und der Fortsetzung des Erteilungsverfahrens nicht schriftlich zustimmt.
3.2 Die Aussetzung des Erteilungsverfahrens dient daher dem Schutz des Dritten, der nach rechtskräftigem Abschluss des nationalen Gerichtsverfahrens als rechtmäßiger Inhaber der Anmeldung feststehen könnte (J 7/96, Nr. 2.3 der Gründe; J 20/05, Nr. 3 der Gründe; J 2/14, Nr. 3.4 der Gründe; J 17/12, Nr. 5.1 der Gründe). Die Aussetzung des Verfahrens schützt den Dritten zudem vor der Geltendmachung von unberechtigten Unterlassungsansprüchen und sichert dadurch auch dessen Handlungsfreiheit. Darüber hinaus ermöglichen Regel 14 (3) EPÜ und Artikel 61 (1) EPÜ dem tatsächlich Berechtigten, die Stellung des Anmelders und die damit verbundenen Rechte im zentralisierten Verfahren vor dem Europäischen Patentamt zu erlangen. Ohne die Möglichkeit der Aussetzung des Verfahrens müsste der tatsächlich Berechtigte ab Erteilung des Europäischen Patents für jeden benannten Vertragsstaat, in dem das Patent validiert wurde, ein separates Vindikationsverfahren nach nationalem Recht führen.
3.3 Nach Regel 15 EPÜ darf ab dem Tag des Nachweises der Verfahrenseinleitung weder die Anmeldung noch die Benennung eines Vertragsstaates zurückgenommen werden. Dadurch soll der möglicherweise tatsächlich Berechtigte vor nachteiligen Verfügungshandlungen des Anmelders geschützt werden (J 7/96, Nr. 8 Gründe; J 24/13, Nr. 3.4 der Gründe). Zusätzlich zu diesem Verfügungsverbot für den Anmelder bewirkt eine Aussetzung, dass auch das Europäische Patentamt keine wirksamen Rechtsakte mehr vornehmen kann. Das Erteilungsverfahren verbleibt unverändert in dem Rechtsstadium, in dem es sich zum Zeitpunkt der Aussetzung befand (J 38/92, Nr. 2.5 der Gründe; siehe auch J 17/12, Nr. 4.2 und 6.8 der Gründe).
3.4 Als vorbeugende Maßnahme zur Sicherung der Rechte des Dritten erfolgt die Aussetzung unverzüglich. Der Anmelder wird - ohne davor gehört werden zu müssen - im Wege einer Mitteilung von der Aussetzung des Verfahrens unterrichtet. Anschließend hat er die Möglichkeit, sich dieser zu widersetzen und eine beschwerdefähige Entscheidung zu erwirken (J 28/94 vom 4. Dezember 1996, Nr. 2.1 und 2.2.1 der Gründe; J 15/06, Nr. 5 der Gründe). Die Aussetzung des Erteilungsverfahrens wird unmittelbar an jenem Tag wirksam, an dem das Vorliegen der Voraussetzungen der Regel 14 (1) EPÜ vom Dritten nachgewiesen wurde (J 9/12, Nr. 11 der Gründe) und kann auch rückwirkend auf diesen Tag ausgesprochen werden (J 7/96, Nr. 3 der Entscheidungsformel; J 36/97, Nr. 2 der Entscheidungsformel; J 15/06, Nr. 14 der Gründe).
3.5 Wurde die Aussetzung des Verfahrens von einer erstinstanzlichen Abteilung zu Unrecht angeordnet, kann im Beschwerdeverfahren nur die Fortführung des Erteilungsverfahrens mit Wirkung für die Zukunft angeordnet werden. Die unmittelbare Wirkung der Aussetzung kann weder rückwirkend beseitigt noch durch eine Entscheidung im Beschwerdeverfahren rückgängig gemacht werden (J 9/06, Nr. 5.2 der Gründe; vgl. auch J 10/19, Nr. 5-7 der Gründe, zur Unterbrechung des Verfahrens wegen Insolvenz nach Regel 142 (1) b) EPÜ).
4. Voraussetzungen für die Aussetzung und Zeitpunkt des Nachweises
4.1 Gemäß Regel 14 (1) EPÜ muss ein Dritter für eine Aussetzung des Erteilungsverfahrens nachweisen, dass
- der Dritte gegen den Anmelder
- ein Verfahren eingeleitet hat
- mit dem Ziel, eine Entscheidung im Sinne des Artikels 61 (1) EPÜ zu erwirken (vgl. J 15/13, Nr. 2.6.2.3 der Gründe).
4.2 Die Aussetzung eines Erteilungsverfahrens gemäß Regel 14 (1) EPÜ setzt zudem ein anhängiges Erteilungsverfahren voraus. Nach Artikel 97 (3) EPÜ wird die Entscheidung über die Erteilung des europäischen Patents an dem Tag wirksam, an dem der Hinweis auf die Erteilung im Europäischen Patentblatt bekannt gemacht wird. Bis dahin ist ein Erteilungsverfahren anhängig und dessen Aussetzung möglich (J 7/96, Nr. 10 der Gründe).
4.3 Der Nachweis des Vorliegens der Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens gemäß Regel 14 (1) EPÜ muss während eines anhängigen Erteilungsverfahrens und somit vor Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung im Europäischen Patentblatt erfolgen. Beweismittel, die erst nach diesem Zeitpunkt eingereicht werden, dürfen vom Europäischen Patentamt hierfür nicht berücksichtigt werden.
4.4 Die Beschwerdegegnerin legte den Klageauszug sowie die gerichtliche Eingangsbestätigung vor Bekanntmachung des Hinweises über die Erteilung des europäischen Patents im Europäischen Patentblatt und somit rechtzeitig vor. Die vollständige Klagebegründung wurde hingegen erst nach dieser Bekanntmachung vorgelegt. Dieses Beweismittel ist für die Beantwortung der Frage, ob die Beschwerdegegnerin das Vorliegen der in Regel 14 (1) EPÜ genannten Voraussetzungen während eines anhängigen Erteilungsverfahrens nachgewiesen hat, daher nicht zu berücksichtigen.
5. Nachweis der Parteienidentität
5.1 Mit dem rechtzeitig vorgelegten Klageauszug wurde der Nachweis der nach Regel 14 (1) EPÜ erforderlichen Parteienidentität erbracht: die die Aussetzung beantragende Beschwerdegegnerin ist Klägerin im nationalen Gerichtsverfahren und die Beschwerdeführerin und Anmelderin ist darin Beklagte.
6. Nachweis der Einleitung eines nationalen Verfahrens
6.1 Zu welchem Zeitpunkt ein nationales Verfahren als eingeleitet gilt, wird von Regel 14 (1) EPÜ nicht bestimmt. Auch an anderer Stelle enthält das EPÜ keine autonome Definition der Rechtshängigkeit nationaler Gerichtsverfahren (siehe demgegenüber etwa die autonome Definition des Zeitpunktes der Anrufung eines Gerichts in Artikel 32 EuGVVO). Die Frage des Zeitpunkts der Rechtshängigkeit ist daher nach dem Verfahrensrecht jenes Staates zu beurteilen, dessen Gerichte zum Treffen einer Entscheidung im Sinne des Artikels 61 (1) EPÜ angerufen wurden (siehe J 7/00, Nr. 3.1 der Gründe; J 2/14, Nr. 2.2 der Gründe; vgl. auch T 1138/11, Nr. 1.7.1. der Gründe, zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit gemäß Regel 89 (1) EPÜ beim Beitritt des vermeintlichen Patentverletzers).
6.2 Artikel 8 des Anerkennungsprotokolls stützt dieses Auslegungsergebnis. Nach dieser Bestimmung hat sich ein wegen desselben Anspruchs auf Erteilung eines europäischen Patents zwischen denselben Parteien später angerufenes Gericht zugunsten des zuvor angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären. Welches Gericht zuvor angerufen wurde, muss nach dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit entschieden werden. Diese wird im Anerkennungsprotokoll aber ebenso wenig definiert wie in Regel 14 (1) EPÜ. Im Sinne eines einheitlichen europäischen Rechtsverständnisses kann in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Artikel 21 EuGVÜ - der Artikel 8 des Anerkennungsprotokolls inhaltlich entspricht und diesem zeitlich vorausgeht - unterstützend herangezogen werden. Auch diesbezüglich ist der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit für jedes Gericht nach seinem jeweiligen nationalen Verfahrensrecht zu beurteilen (EuGH, Rs. 129/83, Nr. 15 der Gründe; ECLI:EU:C:1984:215).
6.3 Nach dem jeweiligen nationalen Verfahrensrecht der Vertragsstaaten des EPÜ kann die Rechtshängigkeit grundsätzlich entweder bereits mit Einreichung des verfahrenseinleitenden Schriftsatzes oder erst mit Zustellung dieses Schriftsatzes an die gegnerische Partei eintreten. Unterschiede hinsichtlich des Zeitpunktes der Rechtshängigkeit bestehen aber nicht nur zwischen den Vertragsstaaten. Auch innerhalb eines einzigen Vertragsstaates kann die Rechtshängigkeit je nach Rechtsweg zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt beginnen.
6.4 Im gegenständlichen Fall wurden die deutschen Gerichte zum Treffen einer Entscheidung im Sinne des Artikels 61 (1) EPÜ angerufen. Daher ist die Frage des Zeitpunkts der Rechtshängigkeit des nationalen Verfahrens nach deutschem Verfahrensrecht zu beurteilen. Aus Sicht des Europäischen Patentamts ist deutsches Recht im kollisionsrechtlichen Sinn fremdes Recht.
6.5 Bei der Anwendung fremden Rechtes muss das Europäische Patentamt dieses, soweit möglich, im Gesamtzusammenhang der fremden Rechtsordnung anwenden. Dabei ist das Europäische Patentamt als von staatlichen Behörden und Gerichten unabhängige internationale Organisation nicht an die Rechtsprechung nationaler Gerichte zur Auslegung der anzuwendenden fremden Rechtsnorm gebunden (zur fehlenden Bindungswirkung der Rechtsprechung des EuGH vgl. R 1/10, Nr. 2 der Gründe). Sofern dem Europäischen Patentamt bekannt, sollte insbesondere höchstgerichtliche nationale Rechtsprechung bei der Entscheidungsfindung jedoch berücksichtigt und gewürdigt werden.
6.6 Der Verweis der Beschwerdeführerin auf Artikel 2 (3) der Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ) scheint auf einem Missverständnis zu beruhen. Zweck dieser Bestimmung ist, den Vertragsstaaten der PVÜ in den genannten Bereichen Ausnahmen von dem Gebot der Inländerbehandlung zu ermöglichen. Grundsätze für die Anwendung nationalen Rechts im Rahmen des Aussetzungsverfahrens vor dem Europäischen Patentamt können dieser Bestimmung nicht entnommen werden.
6.7 In Deutschland beginnt die Rechtshängigkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mit Erhebung der Klage bei Gericht (§ 90 VwGO); im zivilgerichtlichen Verfahren hingegen erst mit Zustellung der Klage an den Beklagten (§§ 253 (1), 261 (1) ZPO).
6.8 Die Patentvindikationsklage der Beschwerdegegnerin ging am 3. Mai 2019 beim Verwaltungsgericht München ein; damit wurde die Streitsache rechtshängig. Gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 17b (1) GVG blieben die Wirkungen der Rechtshängigkeit bestehen, als das Verwaltungsgericht München die Klage wegen Unzulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs an das Landgericht München verwies.
6.9 Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, dass Rechtshängigkeit nicht schon mit Eingang der Vindikationsklage beim Verwaltungsgericht München, sondern frühestens mit der Verweisung an das Landgericht München I eintrat. Die Beschwerdeführerin begründet dies mit Verweisen auf deutsche Gesetzeskommentare.
6.10 Gesetzeskommentare sind keine amtlichen Veröffentlichungen und gehören weder zum durch Rechtsetzung entstandenen Recht noch zur Rechtsprechung. Für sich genommen sind sie bei der Anwendung fremden Rechtes durch das Europäische Patentamt daher nicht zu berücksichtigen.
6.11 Soweit in Gesetzeskommentaren nationale Rechtsprechung zur Auslegung der vom Europäischen Patentamt anzuwendenden nationalen Rechtsnormen angeführt ist, haben die Beteiligten diese Rechtsprechung aus den Kommentaren zu extrahieren und separat vorzutragen.
6.12 In den von der Beschwerdeführerin vorgelegten Kommentarauszügen fehlen teilweise die Fußnoten bzw. Quellengaben zu den darin getätigten Aussagen. Beteiligte und deren Vertreter sollten nicht davon ausgehen, dass die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts Zugang zu der gesamten rechtswissenschaftlichen Literatur aller Vertragsstaaten des EPÜ haben, insbesondere wenn diese Literatur nicht das Patentrecht betrifft. Die von der Beschwerdeführerin genannten Gesetzeskommentare zur deutschen Verwaltungsgerichtsordnung wurden daher nur in dem Ausmaß berücksichtigt, in dem diese vorgelegt wurden.
6.13 Sofern die Aussagen in den von der Beschwerdeführerin genannten Kommentaren von Rechtsprechung gestützt sind, handelt es sich dabei überwiegend um Einzelfallentscheidungen deutscher Rechtsmittelgerichte. Eine einheitliche, gefestigte Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes kann den vorgelegten Kommentarauszügen nicht entnommen werden. Darüber hinaus unterscheiden sich die Umstände der in den Kommentaren enthaltenen Entscheidungen maßgeblich von den Umständen des gegenständlichen Falles.
6.14 Das Urteil des Kammergerichts Berlin vom 12. Dezember 2007 in der Rechtssache 3 UF 88/07 betrifft einen vom Kammergericht als offenkundigen Rechtsmissbrauch angesehenen Fall. Darin hatte der Ehemann (Antragsteller) einen ersten Scheidungsantrag gegen seine Ehefrau beim zuständigen Amtsgericht eingereicht und, einige Wochen später, einen zweiten Scheidungsantrag beim unzuständigen Sozialgericht. Der zweite Scheidungsantrag sollte laut Antragsteller mit dem ersten von ihm beim zuständigen Amtsgericht eingeleiteten Verfahren verbunden werden. Ausschließlicher Zweck des zweiten Antrages war die unmittelbare Herstellung der Rechtshängigkeit durch Einreichen eines Scheidungsantrages beim Sozialgericht, um dadurch eine prozessuale Sperrwirkung gegenüber einem von der Ehefrau des Antragstellers in den USA zwischenzeitig gegen ihn eingereichten Scheidungsantrag zu bewirken. Der erste, beim zuständigen Amtsgericht eingereichte Scheidungsantrag war zu diesem Zeitpunkt noch nicht an die Ehefrau des Antragstellers zugestellt worden und konnte die angestrebte Sperrwirkung daher nicht begründen. Das Kammergericht entschied, dass der zweite, beim Sozialgericht eingereichte Scheidungsantrag wegen offenkundigen Rechtsmissbrauchs keine Rechtshängigkeit begründen konnte. Diese Fallkonstellation, bei der ein prozesseinleitender Antrag zunächst beim zuständigen und anschließend ein weiteres Mal beim unzuständigen Gericht eingereicht wird, lässt sich jedoch schon deswegen nicht auf den gegenständlichen Fall übertragen, da in diesem nicht zwei prozesseinleitende Anträge gleichen Inhalts eingereicht wurden.
6.15 In einer anderen Konstellation bejahte das Oberlandesgericht Schleswig mit Beschluss vom 14. Juli 2008 in der Rechtssache 12 WF 8/08 - trotz Annahme von Rechtsmissbrauch - die Fortwirkung der in einem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht eingetretenen Rechtshängigkeit eines Scheidungsantrags nach der Verweisung an das zuständige Amtsgericht.
6.16 Im Beschluss des Oberverwaltungsgerichtes Münster vom 29. April 2009 in der Rechtssache 8 E 147/09 ("Gericht als Bote") wurde die Statthaftigkeit der Beschwerde verneint, da das erstinstanzliche Verwaltungsgericht keine beschwerdefähige Entscheidung getroffen und die Klage weder an den Beklagten zugestellt noch an das Landgericht Berlin verwiesen hatte. Diese Konstellation unterscheidet sich insofern vom gegenständlichen Fall, als das Verwaltungsgericht München die Klage der Beschwerdeführerin zustellte und die Rechtssache anschließend an das Landgericht München I verwies.
6.17 Das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Koblenz vom 8. Oktober 1980 in der Rechtssache 2 A 28/80 betrifft einen Fall, in dem eine Klage aufgrund einer falschen Adressierung wegen eines administrativen Fehlers versehentlich beim unzuständigen Gericht erhoben wurde. Da die Klage nach dem Willen der Partei gar nicht bei dem adressierten Gericht eingebracht hätte werden sollen, ist auch dieser Fall anders gelagert.
6.18 Das Oberverwaltungsgericht Koblenz entschied mit Beschluss vom 11. Mai 1995 in der Rechtssache 10 A 11400/95, dass die Klagefrist durch Klageerhebung beim örtlich unzuständigen Verwaltungsgericht nach der Verweisung an das zuständige Gericht auch dann gewahrt ist, wenn der Kläger mit ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung über die Zuständigkeit belehrt wurde. Das Oberverwaltungsgericht betonte, dass es sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt, dass die Wirkungen der Rechtshängigkeit bestehen bleiben, wenn die Klage beim unzuständigen Gericht erhoben wird und der Rechtsstreit anschließend an das zuständige Gericht verwiesen wird. Nach dem Oberverwaltungsgericht kann dies im Grundsatz daher nicht zweifelhaft sein. Eine einschränkende Auslegung der Rechtsnorm im Sinne einer teleologischen Reduktion sei nicht geboten; Ausnahmefälle eindeutigen Rechtsmissbrauchs seien im Einzelfall nach anderen Kriterien zu lösen.
6.19 In Ergänzung zu den Entscheidungen, die der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Kommentarliteratur entnommen werden können, verweist die Juristische Beschwerdekammer auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in der Rechtssache 7 C 12/18 vom 19. Dezember 2019. In diesem Fall hätte eine Klage beim Oberverwaltungsgericht erhoben werden müssen, wurde stattdessen aber beim Verwaltungsgericht erhoben. Das Oberverwaltungsgericht wies die Klage wegen eines angeblichen Verstoßes gegen den Vertretungszwang vor dem Oberverwaltungsgericht als unzulässig zurück. Das Oberverwaltungsgericht begründete dies damit, dass durch die Verweisung gemäß § 17b (1) GVG lediglich Nachteile vermieden werden sollten, die sich aus der Anrufung des unzuständigen Gerichts ergeben, eine Bevorzugung desjenigen, der die Klage vor dem unzuständigen Gericht erhoben habe, jedoch nicht angezeigt sei. Das Bundesverwaltungsgericht hob diese Entscheidung auf und betonte, dass die Überlegungen des Oberverwaltungsgerichtes keinen Niederschlag im geltenden Recht gefunden haben. Demnach verbleibt es bei dem vor dem unzuständigen Gericht eingetretenen Rechtsstand, der in den neuen Verfahrensabschnitt vor dem zuständigen Gericht übergeleitet wird. Nach den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts kann der Kläger daher etwa auch davon profitieren, dass die Rechtshängigkeit nach den öffentlich-rechtlichen Prozessordnungen schon mit der Anhängigkeit der Klage eintritt und es hierfür im Unterschied zu der für das zuständige ordentliche Gericht einschlägigen ZPO keiner Zustellung der Klage bedarf. Ob es von diesem Grundsatz Ausnahmen geben kann, um einer missbräuchlichen Erschleichung günstiger Rechtspositionen zu begegnen, ließ das Bundesverwaltungsgericht offen.
6.20 Hinsichtlich der Frage des Rechtsmissbrauchs verwies die Beschwerdegegnerin auf das Urteil des Landgerichts München I vom 4. April 2016 in der Rechtssache 7 O 4170/15. Darin führte das Landgericht aus, dass die Erhebung einer patentrechtlichen Vindikationsklage beim Verwaltungsgericht nicht rechtsmissbräuchlich ist, da die Prozessordnungen dieses Vorgehen ermöglichen. Die hinter der Wahl des angerufenen Gerichts augenfällig stehende Motivation, schneller die Effekte der Rechtshängigkeit herbeizuführen, begründet nach dem Landgericht München I noch keine Rechtsmissbräuchlichkeit. Das Landgericht hielt zudem fest, dass § 17b (2) Satz 2 GVG eine Regelung zur Kostenerstattung im Fall der Anrufung eines unzuständigen Gerichts trifft und der Gesetzgeber mithin schon eine Regelung vorgesehen hat, um die aus der Anrufung eines unzuständigen Gerichts für den Gegner resultierenden Konsequenzen einem Ausgleich zuzuführen.
6.21 Insgesamt bietet die von den Beteiligten ins Treffen geführte nationale Rechtsprechung keinen Anlass, die dem Gesetz - also § 173 VwGO i.V.m. § 17b (1) GVG - unmittelbar entnehmbare Rechtsfolge in Frage zu stellen. Demnach trat die Rechtshängigkeit der Patentvindikationsklage am 3. Mai 2019 ein und blieb nach Verweis an das Landgericht München I auch bestehen. Mit der rechtzeitig vorgelegten Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichts München erbrachte die Beschwerdegegnerin daher den Nachweis der Einleitung eines nationalen Verfahrens.
6.22 Fragen des Rechtsmissbrauchs stellen sich auch in den Verfahren vor dem Europäischen Patentamt (siehe etwa Artikel 16 (1) e) VOBK 2020). Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen sind derartige Fragen vom Europäischen Patentamt auch im Rahmen des Aussetzungsverfahrens autonom, also unabhängig von nationalen Rechtsordnungen zu beurteilen. Im Hinblick auf das Vorbringen der Beteiligten wird die Frage des Rechtsmissbrauchs im Kontext des Hilfsantrags auf Anordnung der Fortsetzung des Verfahrens gemäß Regel 14 (3) EPÜ erörtert (siehe unten, Nr. 13 der Gründe, insbesondere Nr. 13.6 der Gründe).
7. Nachweis eines Verfahrens im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ
7.1 Ein Verfahren im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ ist ein Verfahren, in dem einer Person der Anspruch auf Erteilung des streitgegenständlichen europäischen Patents zugesprochen werden kann; die europäische Patentanmeldung oder das europäische Patent muss dabei eindeutig identifiziert werden können (J 9/06, Nr. 4.4 der Gründe).
7.2 Dem rechtzeitig vorgelegten Klageauszug können unter anderem die Klageanträge entnommen werden. Diese determinieren Art und Umfang des Rechtsschutzbegehrens und damit den Tenor der angestrebten gerichtlichen Entscheidung. In den Klageanträgen wird ausdrücklich die Abtretung des Anspruchs auf Erteilung des Patents von der Beschwerdeführerin an die Beschwerdegegnerin sowie die Abgabe einer Einwilligungserklärung zur Umschreibung der Anmelderstellung im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt beantragt. Das europäische Patent wird in den Klageanträgen mit Nummer benannt und kann daher eindeutig als das im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt streitgegenständliche Patent identifiziert werden. Zudem kann dem vorgelegten Klageauszug entnommen werden, dass es sich bei der Klage um eine ,,Patentvindikation" wegen ,,der widerrechtlichen Entnahme bzw. der unberechtigten Patentanmeldung seitens der Beklagten" handelt. Mit dem Klageauszug wurde daher nachgewiesen, dass es sich bei dem von der Beschwerdegegnerin eingeleiteten Verfahren um ein Verfahren im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ handelt.
7.3 Im gegenständlichen Fall konnte die Frage, ob ein Verfahren im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ eingeleitet wurde, ohne Prüfung des in der Klagebegründung dargelegten Klagegrunds - verstanden als das Tatsachenvorbringen, aus dem die Klageanträge abgeleitet werden - beantwortet werden.
7.4 Dies bedeutet nicht, dass dem Europäischen Patentamt die Prüfung der gesamten Klageschrift im Hinblick auf die Frage, ob ein Verfahren im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ eingeleitet wurde, verwehrt ist. In J 15/13 brachte der Anmelder vor, dass das eingeleitete nationale Verfahren nur dem Namen nach - aber nicht inhaltlich - ein Verfahren zur Ermittlung der Berechtigung an der Anmeldung sei. In einem solchen Fall ist es in der Tat angezeigt, die Richtigkeit dieses Vorbringens auch anhand der Klagebegründung zu überprüfen.
7.5 Auch eine solche Überprüfung ist gemäß Regel 14(1) EPÜ jedoch auf die Frage beschränkt, ob ein Verfahren "mit dem Ziel" eingeleitet wurde, eine Entscheidung im Sinne des Artikel 61 (1) EPÜ zu erwirken. Sie erstreckt sich nicht auf eine Einschätzung der Erfolgsaussichten der Klage, da dies in die ausschließliche Zuständigkeit des zur Entscheidung berufenen nationalen Gerichtes eingreifen würde (J 3/18, Nr. 5 der Gründe). Die inhaltliche Prüfung der Klage ist nach dem Anerkennungsprotokoll dem nationalen Gericht vorbehalten; das Europäische Patentamt hat diesbezüglich keinerlei Befugnis (siehe G 3/92, Nr. 3 der Gründe). Die Beurteilung der Schlüssigkeit der Klage, also ob die vom Kläger in der Klagebegründung vorgetragenen Tatsachen die Klageanträge rechtfertigen, ist Teil der Prüfung der Begründetheit der Klage und somit ebenfalls dem nationalen Gericht vorbehalten.
7.6 Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin verlangt die Entscheidung J 15/13 keine unbedingte Prüfung der Klagegründe in jedem Fall. Ausgehend von den konkreten Umständen des Einzelfalles wurde in J 15/13 vielmehr die Aussage getroffen, dass sich die Prüfungsbefugnis der Beschwerdekammern bei der Frage, ob ein Verfahren im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ eingeleitet wurde, auch auf die Klagegründe erstreckt. Dieser Aussage ist zuzustimmen. Insofern besteht kein Widerspruch zu dieser Entscheidung.
7.7 Die Definition des Streitgegenstands nach deutschem Recht betrifft Fragen der Rechtskraft und der anderweitigen Rechtshängigkeit innerhalb der deutschen Rechtsordnung. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ist diese Definition für die Frage, ob ein Verfahren gemäß Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ vorliegt, daher nicht maßgeblich. Zudem ist bei der Prüfung, ob ein solches Verfahren vorliegt, auf die Sachlage zum Zeitpunkt der Entscheidung des Europäischen Patentamts abzustellen. Die von der Beschwerdeführerin genannte hypothethische Möglichkeit einer Änderung von Klageanträgen zu einem späteren Zeitpunkt ist daher unerheblich.
8. Ermessen, Beweiswürdigung und Beweismaß
8.1 Dem Europäischen Patentamt kommt bei der Entscheidung über eine Aussetzung nach Regel 14 (1) EPÜ kein Ermessen zu. Weist ein Dritter das Vorliegen der in Regel 14 (1) EPÜ genannten Voraussetzungen rechtzeitig nach, muss das Erteilungsverfahren ausgesetzt werden (J 33/03, Nr. 2.1 der Gründe; siehe auch J 28/94 vom 4. Dezember 1996, Nr. 3.1 der Gründe und J 7/96, Nr. 2.1 der Gründe).
8.2 Aus dem Umstand, dass eine Aussetzung nach Regel 14 (1) EPÜ keine Ermessensentscheidung ist, folgt nach Ansicht der Beschwerdeführerin, dass dem Europäischen Patentamt auch bei der Frage, ob für die Prüfung des Nachweises der Einleitung eines Verfahrens im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ die ursprünglichen Klageanträge ausreichen, kein Ermessen zukommt.
8.3 Dem ist nicht zuzustimmen. Ermessen bedeutet, dass dem Entscheidungsorgan des Europäischen Patentamts ausgehend von bestimmten tatsächlichen Gegebenheiten auf Rechtsfolgenseite grundsätzlich mehrere unterschiedliche Entscheidungen offenstehen. Dies ist bei Regel 14 (1) EPÜ nicht der Fall: sind die darin genannten tatsächlichen Voraussetzungen erfüllt, muss das Verfahren ausgesetzt werden; sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, darf nicht ausgesetzt werden.
8.4 Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Aussetzung nach Regel 14 (1) EPÜ erfüllt sind oder nicht. Dabei handelt es sich um keine Frage des Ermessens, sondern um eine Frage der Beweiswürdigung. Bei dieser verschafft sich das Entscheidungsorgan anhand der Beweismittel eine Überzeugung von der Richtigkeit der behaupteten Tatsachen (zur freien Beweiswürdigung siehe G 1/12, Nr. 2 der Entscheidungsformel).
8.5 Steht eine entscheidungserhebliche Tatsache nach Ansicht des Entscheidungsorgans nicht fest, kann es gemäß Artikel 114(1) EPÜ die Vorlage von weiteren Beweismitteln anorden. Darunter fällt auch die Anordnung der Vorlage der vollständigen Klageunterlagen zum Nachweis der behaupteten Einleitung eines Verfahrens im Sinne des Artikel 61 (1) EPÜ. Diese Möglichkeit steht nicht im Widerspruch dazu, dass die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens nach Regel 14 (1) EPÜ keine Ermessensentscheidung ist.
8.6 Die Beschwerdeführerin nahm auch auf das anzuwendende Beweismaß Bezug, hat jedoch keine überzeugenden Gründe dargelegt, weswegen bei der Frage, ob ein nationales Verfahren im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ eingeleitet wurde, vom Regelbeweismaß im Verfahren vor den Beschwerdekammern, also vom Abwägen der Wahrscheinlichkeit (siehe dazu Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage 2019, III.G.4.3) abgewichen werden sollte. Dass der Anmelder vor einer Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens nach Regel 14 EPÜ nicht gehört werden muss, spricht entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin nicht dafür. Dies ist vielmehr dem Umstand geschuldet, dass die Aussetzung eine vorbeugende und zeitnah zu erlassende Maßnahme zur Sicherung der Rechte des Dritten ist (siehe oben, Nr. 3.4 der Gründe).
8.7 Zudem kann der Anmelder nach der Aussetzung des Erteilungsverfahrens jederzeit - und auch wiederholt - die Fortsetzung des Verfahrens gemäß Artikel 14 (3) EPÜ beantragen. Aus der gemäß Regel 14 (1) erforderlichen Parteienidentität folgt, dass der Anmelder aufgrund seiner Parteistellung im nationalen Verfahren üblicherweise Zugang zu den darin befindlichen Dokumenten hat. Der Anmelder kann im nationalen Verfahren befindliche Dokumente somit in der Regel ohne Mitwirkung der Gegenpartei vorlegen und den Zeitpunkt seines Fortsetzungsantrags nach Artikel 14 (3) EPÜ auch selbst wählen. Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung stellen sich in diesem Zusammenhang nicht.
9. Fortsetzung des Erteilungsverfahrens gemäß Regel 14 (3) EPÜ
9.1 Das Europäische Patentamt kann bei der Aussetzung des Erteilungsverfahrens oder später gemäß Regel 14 (3) EPÜ einen Zeitpunkt festsetzen, zu dem es beabsichtigt, das Erteilungsverfahren ohne Rücksicht auf den Stand des eingeleiteten nationalen Verfahrens fortzusetzen. Diesbezüglich kommt dem dafür zuständigen Entscheidungsorgan des Europäischen Patentamts nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern Ermessen zu (J 1/16, Nr. 3 der Gründe; J 3/18, Nr. 3 der Gründe).
9.2 Bei der Ausübung des Ermessens muss das Entscheidungsorgan die Interessen des Anmelders und des Dritten, der das nationale Vindikationsverfahren angestrengt hat, gegeneinander abwägen und sich dabei am Regelungszweck von Artikel 61 EPÜ orientieren (J 13/12, Nr. 3.1.10 der Gründe; siehe auch J 2/14, Nr. 3.3 und 3.4 der Gründe).
9.3 Grundsätzlich hat der Anmelder ein Interesse daran, das Erteilungsverfahren frühestmöglich zum Abschluss zu bringen, um anschließend die Rechte aus dem europäischen Patent nutzen zu können, beispielsweise zur Lizenzierung oder zur Untersagung der Nutzung der Erfindung durch andere. Der Dritte wiederum hat ein Interesse daran, jegliche Verfügungshandlungen durch den Anmelder vor rechtskräftigem Abschluss des nationalen Verfahrens zu unterbinden und die eigene Handlungsfreiheit sicherzustellen.
9.4 Welches dieser beiden widerstreitenden Interessen letztlich berechtigt ist, hängt vom Ausgang des nationalen Verfahrens ab und lässt sich erst nach dessen rechtskräftigem Abschluss zweifelsfrei feststellen. Kommt dem Anmelder der Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents zu, war dessen Interesse an der Fortsetzung berechtigt; kommt dieser Anspruch hingegen dem Dritten zu, war dessen Interesse an der Aussetzung berechtigt. Zur Klärung der Frage der tatsächlichen Berechtigung sind jedoch ausschließlich die nationalen Gerichte zuständig (siehe oben, Nr. 2.2 der Gründe). Die Interessenabwägung durch das Europäische Patentamt nach Regel 14 (3) EPÜ hat daher grundsätzlich ohne inhaltliche Beurteilung des nationalen Gerichtsverfahrens (J 24/13, Nr. 3.3 der Gründe; J 2/14, Nr. 3.3 der Gründe) und somit nach anderen Kriterien zu erfolgen.
10. Kriterien der Ermessensausübung
10.1 Bei der Interessenabwägung sind insbesondere folgende Kriterien miteinzubeziehen (J 4/17, Nr. 4.3 der Gründe; siehe auch J 6/10, Nr. 4.2 der Gründe und J 15/13, Nr. 2.5 der Gründe):
- wie lange das Verfahren vor den nationalen Gerichten oder Behörden bereits andauert,
- wie lange die Aussetzung des
Erteilungsverfahrens bereits andauert,
- ob die Aussetzung in einem späten Stadium des
Erteilungsverfahrens beantragt wurde und
- ob seitens des Dritten rechtsmissbräuchliches Verhalten vorliegt.
10.2 Bei der Ausübung von Ermessen haben die Entscheidungsorgane des Europäischen Patentamts einen gewissen Spielraum. Die Beschwerdekammern beschränken sich in der Überprüfung der Ausübung dieses Ermessens in der Regel darauf, ob die erstinstanzliche Abteilung das Ermessen nach den richtigen Kriterien und in angemessener Weise ausgeübt sowie den ihr eingeräumten Ermessensspielraum nicht überschritten hat (G 7/93, Nr. 2.6 der Gründe).
10.3 Dieser Grundsatz gilt auch für die Überprüfung einer Ermessenentscheidung nach Regel 14 (3) EPÜ (J 15/13, Nr. 2.3 der Gründe; siehe auch J 4/17, Nr. 4.1 der Gründe und J 3/18, Nr. 4 der Gründe). Hat die erstinstanzliche Abteilung den Ermessensspielraum erkannt, die bei der Abwägung einzubeziehenden Aspekte umfassend herangezogen, keine sachfremden Erwägungen einfließen lassen und bei der Würdigung der Umstände keine gedanklichen Fehler erkennen lassen, liegt kein Ermessensfehler vor und es ist der Kammer verwehrt, ihr eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen der Rechtsabteilung zu setzen (J 1/16, Nr. 3.2.2 und 3.2.3 der Gründe).
10.4 Die Rechtsabteilung hat bei ihrer Ermessensentscheidung zum Fortsetzungsantrag der Beschwerdeführerin sowohl die Dauer des nationalen Vindikationsverfahrens als auch die Dauer der Aussetzung miteinbezogen (siehe Nr. II.4.1 der Gründe der angefochtenen Entscheidung). Dass sowohl das nationale Vindikationsverfahren als auch die Aussetzung des Erteilungsverfahrens erst von äußerst kurzer Dauer waren, wurde von der Rechtsabteilung in nachvollziehbarer Weise zugunsten der Beschwerdegegnerin gewertet.
10.5 Die späte Stellung des Aussetzungsantrags berücksichtigte die Rechtsabteilung ebenfalls in ihrer Entscheidung, und zwar im Rahmen ihrer Prüfung, ob die Beschwerdegegnerin eine rechtsmissbräuchliche Verzögerungstaktik verfolgt (siehe Nr. I.10 und Nr. II.4.2 - 4.2.1 der Gründe der angefochtenen Entscheidung). Diesbezüglich kam die Rechtsabteilung in nachvollziehbarer Weise zu dem Schluss, dass sich die späte Stellung des Aussetzungsantrags und der Vindikationsklage auf vorangegangene Vergleichsgespräche zurückführen lässt und Rechtsmissbrauch daher nicht feststellbar ist.
10.6 Die Beschwerdeführerin bringt vor, dass die Rechtsabteilung bei der Interessenabwägung nicht auf ihr Vorbringen eingegangen sei, dass ein rechtskräftiges Urteil über die Vindikationsklage wegen der zu erwartenden Gesamtverfahrensdauer erst am Ende der Patentlaufzeit zu erwarten sei. Ebenso sei nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt worden, dass die Erfindung bereits Gegenstand umfangreicher Nachahmungen von Wettbewerbern sei, sowie dass die Beschwerdegegnerin das Verfahren rechtsmissbräuchlich verzögere.
10.7 Einleitend ist diesbezüglich festzuhalten, dass die Rechtsabteilung bei der Ausübung ihres Ermessens gemäß Regel 14 (3) EPÜ nicht verpflichtet ist, jedes einzelne Argument der Beteiligten aufzugreifen (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage 2019, III.B.2.4.3).
11. Gesamtverfahrensdauer und Patentlaufzeit
11.1 Die Rechtsabteilung berücksichtigte das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu der prognostizierten Gesamtverfahrensdauer der Vindikationsklage in ihrer Entscheidung insofern, als sie diese als nicht relevant ansah (siehe Nr. II.4.1 der Gründe). Wenngleich die Kammer diese Ansicht in dieser Absolutheit nicht teilt, kommt der bereits verstrichenen Dauer des nationalen Verfahrens in der Tat ein größeres Gewicht zu. Hinsichtlich der zukünftigen Dauer fremder Verfahren vor nationalen Gerichten sollte das Europäische Patentamt Prognosen nur anhand konkreter Anhaltspunkte (Verhandlungstermine, Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens, etc.) abgeben. Dies gilt umso mehr im Anfangsstadium solcher nationaler Verfahren.
11.2 In jedem Fall würde die restliche Laufzeit des europäischen Patents bei Ausschöpfung der gesamten Schutzdauer zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwölf Jahre betragen. Selbst nach der Prognose der Beschwerdeführerin würde eine rechtskräftige Entscheidung im nationalen Verfahren daher nicht erst am Ende der Patentlaufzeit vorliegen.
12. Nachahmungen von Wettbewerbern
12.1 Der Umstand, dass die Erfindung bereits Gegenstand umfangreicher Nachahmungen von Wettbewerbern ist, betrifft im Wesentlichen das Interesse des Anmelders, die Rechte aus dem europäischen Patent frühestmöglich für sich nutzen zu können. Ob dieses Interesse berechtigt ist, hängt letztlich davon ab, ob dem Anmelder der Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents auch tatsächlich zukommt (siehe oben, Nr. 9.4 der Gründe). Dementsprechend erwiderte die Beschwerdegegnerin, dass sie ebenfalls ein Interesse an der Verfolgung von Benutzungen der Erfindung durch Wettbewerber habe. Darüber hinaus wiege das diesbezügliche Interesse der Beschwerdeführerin keinesfalls schwerer als ihr eigenes Interesse, selbst über ihre Erfindung verfügen zu können.
12.2 Nach Ansicht der Kammer trifft die unrechtmäßige Nutzung der Erfindung der Streitanmeldung durch Wettbewerber jene Person nachteilig, der der Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents tatsächlich zusteht. Die Klärung dieser Frage fällt aber in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte. Bei der Interessenabwägung im Rahmen eines Antrags auf Fortsetzung des Erteilungsverfahrens gemäß Regel 14 (3) EPÜ kommt diesem Umstand für sich genommen daher kein besonderes Gewicht zu.
13. Rechtsmissbräuchliches Verhalten
13.1 Die zweckwidrige Inanspruchnahme eines Rechtes kann unter Umständen Rechtsmissbrauch begründen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Rechtsausübung überwiegend in Schädigungsabsicht erfolgt und andere, legitime Zwecke in den Hintergrund treten. Rechtsmissbrauch muss zweifelsfrei vorliegen und erfordert eine sorgfältige Prüfung und Abwägung der Einzelumstände. Die Beweislast trifft denjenigen, der sich auf Rechtsmissbrauch beruft.
13.2 Die Beschwerdeführerin bringt vor, die Beschwerdegegnerin verzögere das Erteilungsverfahren rechtsmissbräuchlich durch folgendes Verhalten:
- der Antrag auf Aussetzung sei trotz langjähriger Kenntnis des Anmeldeverfahrens erst kurz vor Abschluss des Erteilungsverfahrens gestellt worden;
- die von der Beschwerdegegnerin genannten Vergleichsverhandlungen hätten sich in Forderungen der Antragstellerin erschöpft;
- die Vindikationsklage sei für die Beschwerdegegnerin nach eigenen Angaben nur ein ,,formales Mittel" und bewusst im unzulässigen Rechtsweg eingebracht worden; und
- die Klagebegründung der Vindikationsklage sei bei dem Antrag auf Aussetzung bewusst zurückgehalten worden.
13.3 Der legitime Zweck der Aussetzung des Erteilungsverfahrens besteht in der Sicherung der in Artikel 61 (1) EPÜ genannten Rechte und der Handlungsfreiheit der tatsächlich Berechtigten (siehe oben, Nr. 3.2 der Gründe). Rechtsmissbrauch wäre dann gegeben, wenn die Beschwerdegegnerin ihr Recht, die Aussetzung des Verfahrens zu beantragen, nicht überwiegend zu diesem Zweck ausüben würde, sondern stattdessen überwiegend zum Zweck der Schädigung der Beschwerdeführerin durch eine Verzögerung des Erteilungsverfahrens. Die Verzögerung eines Verfahrens, etwa mit unrichtigen Tatsachenbehauptungen oder aussichtslosen rechtlichen Einwendungen, setzt jedoch das Bewusstsein der Unrichtigkeit des eigenen Standpunkts voraus. Im gegebenen Zusammenhang müsste daher zweifelsfrei festgestellt werden können, dass sich die Beschwerdegegnerin auch selbst nicht für die tatsächlich Berechtige hält. Die Beweislast hierfür trifft die Beschwerdeführerin.
13.4 Der von der Beschwerdegegnerin gewählte Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Aussetzung des Erteilungsverfahrens kurz vor Erteilung ist kein Indiz für Rechtsmissbrauch, sondern lediglich ein bei der Ermessenausübung nach Regel 14 (3) EPÜ zu berücksichtigendes Kriterium (siehe oben, Nr. 10.1 der Gründe). Die Beschwerdegegnerin erklärt ihr Zuwarten bis kurz vor der Erteilung damit, dass sie abwarten wollte, welchen Gegenstand das Patent in der zu erteilenden Fassung haben wird und vor Stellen des Aussetzungsantrags zudem noch Vergleichsverhandlungen mit der Beschwerdeführerin geführt hatte. In diesem Zusammenhang ist nicht von Bedeutung, ob die Beschwerdeführerin das Zustandekommen eines Vergleichs als völlig aussichtslos erachtete oder nicht. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Beschwerdegegnerin selbst die Möglichkeit eines positiven Abschlusses dieser Gespräche ernsthaft in Erwägung zog oder nicht. Die E-Mail einer Mitarbeiterin der Beschwerdegegnerin vom 3. Mai 2019 an einen Mitarbeiter der Beschwerdeführerin legt dies nahe: Darin wird seitens der Beschwerdegegnerin die Auffassung wiedergegeben, ,,dass sich eine partnerschaftliche Übereinkunft in unserer Thematik der Patentanmeldung finden lassen wird". Das Führen dieser Gespräche ist daher kein Indiz für Rechtsmissbrauch.
13.5 Aus dem Umstand, dass die Mitarbeiterin der Beschwerdegegnerin in der E-Mail vom 3. Mai 2019 die Einreichung der Vindikationsklage als ,,formales Mittel" dafür angesehen hat, ,,um Zeit für weitere Gespräche" für eine partnerschaftliche Übereinkunft bei der Patentanmeldung zu gewinnen, kann ebenfalls kein Rechtsmissbrauch abgeleitet werden. Zunächst handelt es sich hierbei lediglich um die Offenlegung der beabsichtigen Anrufung eines nationalen Gerichtes zur Klärung der Frage der Berechtigung an der Anmeldung während laufender Vergleichsgespräche. Der Abschluss des Erteilungsverfahrens hätte insofern zu einer Schlechterstellung der Beschwerdegegnerin geführt, als sie nach Erteilung des europäischen Patents für jeden benannten Vertragsstaat, in dem das Patent validiert wurde, ein separates Vindikationsverfahren nach nationalem Recht führen hätte müssen und Unterlassungsansprüchen ausgesetzt sein hätte können (siehe oben, Nr. 3.2 der Gründe). Es ist davon auszugehen, dass damit eine Verschlechterung der Verhandlungsposition der Beschwerdegegnerin in den Vergleichsgesprächen mit der Beschwerdeführerin einhergegangen wäre. Das Ziel, eine solche Schlechterstellung durch die Aussetzung des Erteilungsverfahrens vor dem Europäischen Patentamt zu vermeiden, stellt keinen unlauteren Beweggrund dar.
13.6 Gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 17b (1) GVG bleiben die Wirkungen der Rechtshängigkeit bestehen, wenn eine Klage von einem Verwaltungsgericht an ein Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit verwiesen wird (siehe oben, Nr. 6.21 der Gründe). Es ist nicht rechtsmissbräuchlich, wenn eine Partei von einer Möglichkeit Gebrauch macht, die in einer nationalen Prozessrechtsordnung ausdrücklich vorgesehen ist. Dies ist auch dann nicht der Fall, wenn sich daraus ein Vorteil für diese Partei im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt ergibt. Im gegenständlichen Fall bestand dieser Vorteil in der Begründung einer früheren Rechtshängigkeit der Klage für die Zwecke der Regel 14 (1) EPÜ. Dies stellt jedoch kein unlauteres Motiv dar.
13.7 Der Umstand, dass die Beschwerdegegnerin mit dem Antrag auf Aussetzung des Erteilungsverfahrens nicht die vollständige Klageschrift, sondern nur einen Auszug vorlegte, ist ebenfalls kein Hinweis auf Rechtsmissbrauch. Die Übermittlung nur eines Teiles der Klageschrift begründet vielmehr ein Risiko für den Antragsteller, dass der übermittelte Auszug nicht ausreicht, um vor Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung nachzuweisen, dass ein Verfahren mit dem Ziel eingeleitet wurde, eine Entscheidung im Sinne des Artikels 61 (1) EPÜ zu erwirken. Mit dem vorgelegten Klageauszug konnte dieser Nachweis im gegenständlichen Fall jedoch erbracht werden (siehe oben, Nr. 7.2 der Gründe).
13.8 Im Übrigen legte die Beschwerdegegnerin die vollständige Klageschrift einschließlich der Klagebegründung in der Folge auch vor, wenngleich erst nach Bekanntmachung des Hinweises über die Erteilung im Europäischen Patentblatt. Zur Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Aussetzung des Verfahrens rechtzeitig - also während der Anhängigkeit des Erteilungsverfahrens - gegeben waren, darf eine erst nach diesem Zeitpunkt vorgelegte Klagebegründung nicht herangezogen werden (siehe oben, Nr. 4.3-4.4 der Gründe). Bei der Entscheidung über einen Antrag auf Fortsetzung des Erteilungsverfahrens gemäß Regel 14 (3) EPÜ können solche Beweismittel hingegen berücksichtigt werden. Im gegenständlichen Fall lässt auch die Einbeziehung der vollständigen Klagebegründung die Vindikationsklage nicht als rechtsmissbräuchlich erscheinen. Die Beschwerdeführerin hat auch nicht vorgetragen, weswegen dies der Fall sein sollte.
14. Keine maßgeblich geänderte Sachlage
14.1 Ändert sich die Sachlage zwischen dem Zeitpunkt zu dem die angefochtene Entscheidung getroffen wurde und dem Zeitpunkt der Entscheidung im Beschwerdeverfahren maßgeblich, kann die Beschwerdekammer die Fortsetzung des Erteilungsverfahrens auch aus diesem Grund anordnen (J 4/17, Nr. 4.1 der Gründe; J 3/18, Nr. 4 Gründe; siehe auch J 36/97, Nr. 7 der Gründe).
14.2 Im gegenständlichen Fall besteht kein Anlass für eine solche Anordnung der Fortsetzung des Verfahrens. Selbst in Vertragsstaaten, in denen eine erstinstanzliche Gerichtsentscheidung vergleichsweise rasch ergeht, ist eine zwei Jahre überschreitende Verfahrensdauer nicht ungewöhnlich.
14.3 Die von der Beschwerdeführerin zusätzlich zur bisherigen Verfahrensdauer von zwei Jahren ins Treffen geführte Ungewissheit über die zukünftige Verfahrensdauer überzeugt schon deshalb nicht, da vom nationalen Gericht ein Vorbesprechungstermin für 2. Juni 2021, also in unmittelbarer Zukunft anberaumt wurde. Der Hinweis der Beschwerdeführerin auf die zwischenzeitig erfolgte Aussetzung des Erteilungsverfahrens für die zugehörige Teilanmeldung ist für die Frage der Fortsetzung des streitgegenständlichen Verfahrens unerheblich, da die beiden Verfahren voneinander unabhängig sind.
15. Ergebnis
15.1 Zusammenfassend hat die Rechtsabteilung den Antrag der Beschwerdeführerin auf Aufhebung der Aussetzung des europäischen Patenterteilungsverfahrens sowie deren Anträge auf Aufhebung der Löschung der Bekanntmachung des Hinweises über die Erteilung und auf Veröffentlichung einer Berichtigung der Löschung zu Recht zurückgewiesen. Bei der nach Regel 14 (3) EPÜ erforderlichen Interessenabwägung hat die Rechtsabteilung die nach der Rechtsprechung der Juristischen Beschwerdekammer relevanten Kriterien herangezogen. Sie hat ihr Ermessen in angemessener Weise ausgeübt und ihren Ermessenspielraum nicht überschritten.
15.2 Seit Ergehen der angefochtenen Entscheidung hat sich die Sachlage nicht deart verändert, dass eine Fortsetzung des Verfahrens gerechtfertigt wäre. Sollten sich zu einem späteren Zeitpunkt - etwa nach Ergehen einer für die Beschwerdeführerin günstigen erstinstanzlichen Entscheidung - Anhaltspunkte ergeben, die für eine Forsetzung des Erteilungsverfahrens sprechen, steht es der Beschwerdeführerin frei, jederzeit einen neuen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens gemäß Regel 14 (3) EPÜ bei der Rechtsabteilung des Europäischen Patentamtes zu stellen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.