T 0736/95 (Neuer Einspruchsgrund) 09-10-2000
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(Met-1,des-Cys1,des-Tyr2,des-Cys3) menschliches Gamma-Interferon und dafür kodierende DNS-Sequenz
Zulässigkeit eines neuen Einspruchsgrunds - Relevanz
Verpflichtung der Einspruchsabteilung zur Prüfung der Relevanz eines neuen Einspruchsgrunds
Zurückverweisung an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung - bejaht
Befassung der Großen Beschwerdekammer - verneint
I. Der Einspruch der Beschwerdeführerin gegen das europäische Patent Nr. 0 108 128 wurde mit der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen. Als Einspruchsgründe waren in der Einspruchsschrift mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit (Art. 100 a) EPÜ) und unvollständige Offenbarung (Art. 100 b) EPÜ) genannt. Im Verfahren vor der Einspruchsabteilung machte die Beschwerdeführerin auch nach Artikel 100 c) EPÜ geltend, der Gegenstand des europäischen Patents gehe über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus. Letzterer Grund wurde von der Einspruchsabteilung nicht zum Verfahren zugelassen.
II. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
III. Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
IV. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer wurde erörtert, ob der von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ zulässig ist. Die Beteiligten trugen zu dieser Frage im wesentlichen folgendes vor:
Die Beschwerdeführerin erklärte, dieser Einspruchsgrund sei zwar in der Einspruchsschrift nicht genannt gewesen, aber rund 18 Monate später bzw. ca. 16 Monate vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgebracht worden. Die Einspruchsabteilung und die Beschwerdegegnerin hätten somit genügend Zeit gehabt, ihn zu prüfen. Die Einspruchsabteilung hätte diesen Grund als hochrelevant zulassen sollen. Das habe sie de facto auch getan, denn sie sei unter dem Punkt Neuheit im Zusammenhang mit dem Prioritätsanspruch auf diese Frage eingegangen (Seiten 5 bis 7 der angefochtenen Entscheidung). Somit entstünde im Beschwerdeverfahren keine dem Kernpunkt der Entscheidungen G 10/91, ABl. EPA 1993, 420 und G 1/95, ABl. EPA 1996, 615 zuwiderlaufende neue Rechts- oder Sachlage, wenn dieser Grund zum Verfahren zugelassen würde. Es bestehe kein Zusammenhang zwischen dem Sachverhalt, der den Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer zugrunde liege, und dem Sachverhalt im vorliegenden Fall, in dem ein hochrelevanter Einspruchsgrund im Einspruchsverfahren als unzulässig zurückgewiesen worden sei. Daher bestehe Veranlassung, die Große Beschwerdekammer zu befassen. In der Entscheidung T 922/94 vom 30. Oktober 1997 gehe es um eine ähnliche Situation wie im vorliegenden Fall, in dem der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ in der Einspruchsschrift nicht erwähnt gewesen, aber von der Einspruchsabteilung in ihren Entscheidungsgründen de facto erörtert worden sei. Die Beschwerdekammer habe beschlossen, diesen Einspruchsgrund zum Beschwerdeverfahren zuzulassen, da durch ihn keine neue Rechts- oder Sachlage entstehe. Sei die Kammer im vorliegenden Fall nicht bereit, diesen Sachverhalt selbst zu prüfen und zu entscheiden, so könne die Angelegenheit entweder an die erste Instanz zur Prüfung zurückverwiesen oder die Große Beschwerdekammer befaßt werden.
Die Beschwerdegegnerin erklärte, die Entscheidungen G 10/91 und G 1/95 schränkten die Möglichkeiten, neue Einspruchsgründe vorzubringen, insoweit stark ein, als ein neuer Einspruchsgrund nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers zum Verfahren zugelassen werden dürfe, was im vorliegenden Fall nicht gegeben sei. Ein in der Einspruchsschrift nicht erwähnter neuer Einspruchsgrund könne ansonsten im Beschwerdeverfahren nur geprüft werden, wenn er von der Einspruchsabteilung selbst in das Einspruchsverfahren eingeführt worden sei. Die Beschwerdegegnerin habe keine Einwände gegen eine Befassung der Großen Beschwerdekammer oder eine Zurückverweisung an die erste Instanz zur Prüfung des neuen Einspruchsgrunds nach Artikel 100 c) EPÜ. Nach der Entscheidung G 1/95 könne dieser Grund jedoch nicht von der Kammer geprüft werden.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Der von der Beschwerdeführerin nach Artikel 100 c) EPÜ angeführte Einspruchsgrund war in der Einspruchsschrift nicht vorgebracht worden. Es stellt sich somit die Frage, ob er überhaupt nach Artikel 114 (1) EPÜ und der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer, insbesondere den Entscheidungen G 10/91 und G 1/95, in denen diese Bestimmung ausgelegt wird, geprüft werden kann. Die Entscheidung T 922/94 erscheint weniger bedeutsam, da die Einspruchsabteilung in diesem Fall den verspätet vorgebrachten Einspruchsgrund nach Artikel 123 (2) EPÜ als relevant anerkannt und zugelassen hatte. Die Beschwerdekammer war folglich der Auffassung, dieser Grund sei Teil des rechtlichen Rahmens des Einspruchs gewesen und seine Zulassung zum Beschwerdeverfahren werfe keine neue Rechtsfrage auf; sie beschloß deshalb, ihn zu prüfen. Außerdem hätten die Beschwerdekammern nach Artikel 102 (3) EPÜ in Verbindung mit Regel 66 (1) EPÜ umfassende Befugnisse, alle möglichen Einwände - ob ausdrücklich vorgebracht oder nicht - zu prüfen, die sich aus Änderungen der ursprünglich eingereichten Ansprüche ergäben. Im Gegensatz dazu wurde im vorliegenden Fall der neue Einspruchsgrund als unzulässig zurückgewiesen. Auch wurden im Unterschied zu T 922/94 im vorliegenden Fall die erteilten Ansprüche nicht geändert.
3. In der Entscheidung G 10/91 wurde unter Nummer 16 der Entscheidungsgründe der Rahmen erörtert, innerhalb dessen die Einspruchsabteilung in der Einspruchsschrift nicht genannte Gründe zu prüfen hat. Die Große Beschwerdekammer sah keinen hinreichenden Anlaß, die Praxis zu ändern, daß im Prüfungs- oder Einspruchsverfahren neue Einspruchsgründe nach Artikel 114 (1) EPÜ geprüft werden. Diese Praxis solle offenkundig verhindern, daß ungültige europäische Patente aufrechterhalten werden. Eine Einspruchsabteilung könne daher von sich aus einen solchen Einspruchsgrund einführen bzw. prüfen, wenn er vom Einsprechenden nach Ablauf der Frist gemäß Artikel 99 (1) EPÜ vorgebracht werde. Die Große Beschwerdekammer stellte jedoch zugleich fest, daß dies nur geschehen sollte, wenn prima facie triftige Gründe dafür sprechen, daß diese Einspruchsgründe relevant sind und der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenstehen würden.
4. In Anbetracht der angeführten Textstelle scheint das Argument der Beschwerdegegnerin, die Große Beschwerdekammer beschränke einen Einspruch streng auf den in der Einspruchsschrift gemäß Regel 55 c) EPÜ angegebenen Umfang, nur für Beschwerdeverfahren relevant zu sein. Im vorliegenden Fall traf die Einspruchsabteilung die Verfahrensentscheidung nach Artikel 114 (1) EPÜ, den neuen Einspruchsgrund nicht zuzulassen, ohne den Beteiligten einen Hinweis zu geben, daß sie ihn für weniger bedeutsam erachtete. In der Entscheidung G 10/91 wird zwar festgestellt, daß die Einspruchsabteilung bei der Zulassung neuer Einspruchsgründe über einen Ermessensspielraum verfügt ("kann ... einen ... Einspruchsgrund von sich aus vorbringen oder einen solchen vom Einsprechenden ... vorgebrachten Grund prüfen"), aber nach den Richtlinien für die Prüfung im EPA, Teil D, Kapitel V, 2.2 sind Gründe, die prima facie der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenstehen könnten, im allgemeinen von der Einspruchsabteilung zu prüfen, wobei jedoch verfahrensökonomische Gesichtspunkte berücksichtigt werden sollten. In diesem Zusammenhang wird in den Richtlinien auf die Entscheidung G 10/91 verwiesen. Nach Teil E, Kapitel VI, 1.1 muß das zuständige Organ Artikel 114 (1) EPÜ während jedes bei ihm anhängigen Verfahrens beachten und prüfen, ob aktenkundige Tatsachen und Beweismittel prima facie der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen könnten. Die Richtlinien wurden auch von der Großen Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 10/91 angezogen.
5. Aus der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer, insbesondere den Entscheidungen G 10/91 und G 1/95, und den Richtlinien für die Prüfung im EPA folgt, daß das Ziel des Patenterteilungsverfahrens, ungültige Patente zu verhindern, im Vordergrund des erstinstanzlichen Verfahrens steht. Mit ihrer Feststellung, sie sehe keinen hinreichenden Anlaß, die Praxis der ersten Instanz zu ändern, gab die Große Beschwerdekammer zu erkennen, daß die erste Instanz zumindest prüfen muß, ob ein neuer Einspruchsgrund relevant ist. Deshalb hätte die Einspruchsabteilung erst nach Artikel 114 (1) EPÜ prüfen müssen, ob der nach Artikel 100 c) EPÜ vorgebrachte Grund der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen könnte, bevor sie ihn für unzulässig erklärte. Da sie dies unterließ und ihre Zurückweisung lediglich damit begründete, dieser Grund sei verspätet vorgebracht worden, nahm sie der Beschwerdeführerin die Möglichkeit, die Relevanz dieses Einspruchsgrunds und damit seine Zulässigkeit im Beschwerdeverfahren überprüfen zu lassen.
In Anbetracht der Entscheidung G 10/91 und der vorstehend genannten Richtlinien ist die Kammer der Auffassung, daß sich die Befassung der Großen Beschwerdekammer erübrigt; sie hält es aber für geboten, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Zu prüfen sind die Frage, ob der von der Beschwerdeführerin nach Artikel 123 (2) EPÜ (Art. 100 c) EPÜ) vorgebrachte Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen würde, sowie etwaige weitere Punkte, die sich aus der Beantwortung dieser Frage ergeben können.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen.