G 0001/95 (Neue Einspruchsgründe) 19-07-1996
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I. Im Zuge der Beschwerdeverfahren T 937/91 vor der Technischen Beschwerdekammer 3.2.5 (ABl. EPA 1996, 25) und T 514/92 vor der Technischen Beschwerdekammer 3.2.2 (ABl. EPA 1996, 270) wurde die Große Beschwerdekammer von diesen Kammern am 10. November 1994 bzw. 21. September 1995 nach Artikel 112 (1) a) EPÜ mit zwei ähnlichen Rechtsfragen befaßt.
II. Mit der Zwischenentscheidung T 937/91 legte die Technische Beschwerdekammer der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vor (Aktenzeichen G 1/95, ABl. EPA 1995, 171):
"Wenn der Einspruch gegen ein Patent aufgrund von Artikel 100 a) EPÜ eingelegt, aber nur mit mangelnder Neuheit und erfinderischer Tätigkeit gemäß Artikel 54 und 56 EPÜ substantiiert worden ist, kann die Beschwerdekammer dann von Amts wegen den Einspruchsgrund in das Verfahren einführen, daß der Gegenstand der Ansprüche den Erfordernissen des Artikels 52 (2) EPÜ nicht genügt?"
III. Die Technische Beschwerdekammer 3.2.5 hatte in einem der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Bescheid die vorläufige Auffassung vertreten, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 prima facie eine bloße Wiedergabe von Informationen zu sein scheine, die nach Artikel 52 (2) d) EPÜ nicht patentfähig sei. In seiner Erwiderung auf diesen Bescheid berief sich der Beschwerdegegner (Patentinhaber) auf die Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420) und argumentierte, daß die Beschwerdekammer danach nur die Einspruchsgründe prüfen dürfe, die der Entscheidung der Einspruchsabteilung zugrunde lägen. Von diesem Grundsatz dürfe nach Aussage der Großen Beschwerdekammer nur dann abgewichen werden, wenn der Patentinhaber der Prüfung eines neuen Einspruchsgrunds zustimme. Im Rahmen der vorliegenden Rechtsfrage ist somit zu klären, unter welchen Umständen die Beschwerdekammer von Amts wegen befugt oder der Einsprechende berechtigt ist, im Einspruchsbeschwerdeverfahren ohne das Einverständnis des Patentinhabers einen neuen Einwand zu erheben.
IV. In der Beschwerdesache T 514/92 verwies die Technische Beschwerdekammer 3.2.2 auf die frühere Entscheidung T 937/91 und beschloß, das Verfahren auszusetzen, bis eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer ergangen sei. Sie sah in der Definition des Begriffs "Einspruchsgründe" eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (Art. 112 (1) EPÜ), die eine Befassung der Großen Beschwerdekammer mit folgender weiteren Frage rechtfertige (Aktenzeichen G 7/95, ABl. EPA 1995, 816):
"Ist gegen ein Patent gemäß Artikel 100 a) EPÜ mit der Begründung Einspruch eingelegt worden, daß die Patentansprüche gegenüber den in der Einspruchsschrift angeführten Entgegenhaltungen keine erfinderische Tätigkeit aufweisen, und behauptet der Einsprechende erst im Beschwerdeverfahren, daß sie gegenüber einer der früher angeführten Entgegenhaltungen oder einem im Beschwerdeverfahren eingereichten Schriftstück nicht neu sind, muß dann die Beschwerdekammer die neue Behauptung ausschließen, weil damit ein neuer Einspruchsgrund eingeführt wird?"
V. In der Beschwerdesache T 514/92 hatte der Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren erstmals mangelnde Neuheit beanstandet und geltend gemacht, daß sich der Ausgangspunkt (die maßgebliche Entgegenhaltung) nicht geändert habe und der Einwand mangelnder Neuheit daher kein neuer Einspruchsgrund sei. Die Kammer sah den Kern des Problems in der Definition des Rechtsbegriffs "Einspruchsgrund". Bei einer weiten Auslegung dieses Begriffs würden sowohl ein Einwand wegen mangelnder Neuheit als auch ein solcher wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit unter den Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ fallen. Eine enge Auslegung würde dazu führen, daß die Beschwerdekammer über die erfinderische Tätigkeit zu befinden hätte, ohne vorher über die Neuheit entschieden zu haben.
VI. Die Beteiligten beider Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer wurden aufgefordert, zu den vorgelegten Rechtsfragen Stellung zu nehmen. Der Patentinhaber in der Sache T 937/91 reichte mit Schreiben vom 19. April 1995, der Patentinhaber in der Sache T 514/92 mit Schreiben vom 7. Dezember 1995 Stellungnahmen ein. Von den anderen Beteiligten gingen keine Stellungnahmen ein.
VII. Am 5. Februar 1996 wurden die an den Beschwerdeverfahren G 1/95 und G 7/95 Beteiligten von der Großen Beschwerdekammer zur Anhörung zu einer gemeinsamen mündlichen Verhandlung geladen. Die dort zu erörternden Fragen wurden in einem Bescheid umrissen, in dem die Große Beschwerdekammer auch drei mögliche Auslegungen für den Rechtsbegriff "Einspruchsgründe" nannte: Artikel 100 a) EPÜ könne per se a) als ein einziger Einspruchsgrund, b) als mehrere Einspruchsgründe oder c) einfach als Aufzählung verstanden werden, die sich auf eine Gruppe von Artikeln, nämlich die die Patentierbarkeit betreffenden Artikel 52 bis 57 EPÜ, beziehe, in denen mehrere zulässige Einspruchsgründe zu finden seien. Die Große Beschwerdekammer bat ferner die Beteiligten darzulegen, unter welchen Umständen eine Beschwerdekammer ihres Erachtens ermächtigt werden könnte, das Patent ohne Einverständnis des Patentinhabers wegen eines Einspruchsgrunds - etwa mangelnder Neuheit - zu widerrufen, der ihr zwar zutreffend erscheine, im Einspruchsverfahren aber nicht vorgebracht worden sei.
VIII. Am 15. April 1996 fand im Beisein der Vertreter der an den Verfahren G 1/95 und G 7/95 beteiligten Parteien die mündliche Verhandlung statt. Zu Beginn der Verhandlung gab der Vorsitzende bekannt, daß die Große Beschwerdekammer beschlossen habe, die ihr in den Verfahren G 1/95 und G 7/95 vorgelegten - eng zusammenhängenden - Rechtsfragen nach Artikel 8 der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer in einem gemeinsamen Verfahren zu behandeln.
IX. In der mündlichen Verhandlung trugen die Vertreter der Beteiligten ihre Hauptargumente vor. Der Beschwerdeführer in der Sache G 1/95 sah in Artikel 100 a) EPÜ einen einzigen Einspruchsgrund und betonte, daß das EPA im zentralen europäischen Verfahren kein Patent erteilen oder aufrechterhalten dürfe, das nach seiner Überzeugung nicht rechtsgültig sei. Daher müsse jeder der in Artikel 100 a) EPÜ angesprochenen Sachverhalte berücksichtigt werden dürfen, damit kostspielige Nichtigkeitsverfahren vor den nationalen Gerichten vermieden würden. Der Beschwerdegegner in der Sache G 1/95 brachte vor, daß im Lichte des EPÜ und der Stellungnahme G 10/91 unter den "Einspruchsgründen" nur die in der Einspruchsschrift konkret substantiierten Einspruchsgründe zu verstehen seien. Der Beschwerdeführer in der Sache G 7/95 vertrat die Auffassung, Artikel 100 a) EPÜ sei ein einziger Einspruchsgrund, in dessen Rahmen mehrere Angriffszüge geführt werden könnten, die dann die in der Einspruchsschrift tatsächlich substantiierten Gründe bildeten. Der Beschwerdegegner in der Sache G 7/95 führte schließlich aus, daß ein Einspruchsgrund nicht nur ein Sammelbegriff oder Verweis auf einen Teil des Artikels 100 EPÜ sei, sondern daß Artikel 100 a) EPÜ eine Liste von Einspruchsgründen enthalte. Er machte ferner geltend, daß es hier auf den Inhalt und nicht auf die Form ankomme.
1. Die Rechtsfragen, die der Großen Beschwerdekammer mit den Entscheidungen T 937/91 und T 514/92 vorgelegt worden sind, betreffen nur das Einspruchsbeschwerdeverfahren. In beiden Entscheidungen wurde die Auffassung vertreten, der Begriff "Einspruchsgründe" sei in den Entscheidungen und Stellungnahmen der Großen Beschwerdekammer noch nicht hinreichend geklärt worden. Daher muß festgelegt werden, was in Artikel 100 EPÜ im allgemeinen und in Buchstabe a im besonderen unter "Einspruchsgründen" zu verstehen ist, wobei es auch der Stellungnahme G 10/91 (ABl. EPA 1993, 408 und 420) Rechnung zu tragen gilt.
Bedeutung des Begriffs "Einspruchsgründe" in Artikel 100 EPÜ
1.1 In Artikel 100 EPÜ heißt es unter der Überschrift "Einspruchsgründe" wie folgt:
"Der Einspruch kann nur darauf gestützt werden, daß
a) der Gegenstand des europäischen Patents nach den Artikeln 52 bis 57 nicht patentfähig ist;
b) das europäische Patent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, daß ein Fachmann sie ausführen kann;
c) der Gegenstand des europäischen Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung, oder, wenn das Patent auf einer europäischen Teilanmeldung oder einer nach Artikel 61 eingereichten neuen europäischen Patentanmeldung beruht, über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht."
1.2 In der Stellungnahme G 10/91 hat sich die Große Beschwerdekammer unter Nummer 18 mit der richtigen Anwendung des Artikels 114 (1) EPÜ im Einspruchsbeschwerdeverfahren auseinandergesetzt und unter anderem folgendes festgestellt: "... erscheint es gerechtfertigt, Artikel 114 (1) EPÜ, obwohl er sich formal gesehen auch auf das Beschwerdeverfahren erstreckt, in einem solchen Verfahren generell restriktiver anzuwenden als im Einspruchsverfahren. Vor allem neue Einspruchsgründe dürfen nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer daher in der Beschwerdephase grundsätzlich nicht mehr in das Verfahren eingeführt werden.
... Eine berechtigte Ausnahme vom vorstehend dargelegten Grundsatz liegt jedoch dann vor, wenn der Patentinhaber mit der Prüfung eines neuen Einspruchsgrunds einverstanden ist ... Ergänzend sei darauf hingewiesen, daß die Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung sachlich in keiner Weise auf einen neuen Einspruchsgrund eingehen darf, wenn der Patentinhaber seiner Einführung in das Verfahren nicht zugestimmt hat." Dieser Regelung lag das Bestreben zugrunde, die Unwägbarkeiten für die Patentinhaber zu verringern, die sich ansonsten auch noch in einer sehr späten Phase des Einspruchsverfahrens auf unvorhersehbare Komplikationen einstellen müßten.
2. Die Beschwerdekammern haben den Begriff "Einspruchsgründe" im Zusammenhang mit Artikel 100 a) EPÜ in ganz unterschiedlichem Sinne gebraucht. Einige haben Artikel 100 a) EPÜ so angewandt, als handele es sich um einen einzigen Einspruchsgrund (z. B. T 796/90, T 18/93 und T 646/91), während andere beispielsweise mangelnde Neuheit per se wie einen eigenen Einspruchsgrund behandeln (z. B. T 550/88, ABl. EPA 1992, 117, Nr. 4.1).
3.1 Die in Artikel 108 EPÜ geforderte Begründung ist so auszulegen, daß sie sowohl die rechtlichen Gründe, d. h. die Rechtsgrundlage, als auch die faktischen Gründe, d. h. die Tatsachen und Beweismittel, umfaßt, die die Kammer braucht, um zu entscheiden, ob die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden muß (s. T 220/83, ABl. EPA 1986, 249 und T 550/88, a. a. O., Nr. 4.2).
3.2 In Artikel 138 (1) EPÜ sind dagegen alle zulässigen Rechtsgründe für eine Nichtigkeitsklage nach dem Recht eines Vertragsstaats aufgeführt. Sie bilden die "Rechtsgrundlage" für eine solche Klage, wobei die Nichtigerklärung eines Patents in den einzelnen Vertragsstaaten durchaus auf verschiedene "Rechtsgrundlagen", also z. B. auf mangelnde Neuheit, mangelnde erfinderische Tätigkeit oder mangelnde gewerbliche Anwendbarkeit, gestützt werden kann. Zweck des Artikels 138 EPÜ ist es, für den Kreis der Vertragsstaaten limitierend zu regeln, auf welchen Rechtsgrundlagen, d. h. aus welchen Gründen, ein Patent für nichtig erklärt werden kann.
4. Artikel 100 a) EPÜ hat denselben Wortlaut wie Artikel 138 (1) a) EPÜ. Entsprechend ist auch jeder der in Artikel 100 a) genannten Einspruchsgründe im Sinne von "Rechtsgrundlage" zu verstehen.
4.1 Artikel 100 EPÜ soll im Rahmen des EPÜ limitierend regeln, auf welche Rechtsgrundlagen, d. h. auf welche Einwände, ein Einspruch gestützt werden kann. Zu jedem in Artikel 100 EPÜ genannten "Einspruchsgrund" gibt es ein entsprechendes Erfordernis in einem anderen Artikel des EPÜ, das im Erteilungsverfahren erfüllt werden muß.
4.2 Während sich aber die Einspruchsgründe in Artikel 100 b) und c) EPÜ jeweils auf eine einzelne, klar abgegrenzte Rechtsgrundlage für einen Einspruch, nämlich unzureichende Offenbarung bzw. unzulässige Erweiterung vor der Erteilung, beziehen, verhält es sich bei Artikel 100 a) EPÜ anders.
4.3 Artikel 100 a) EPÜ bezieht sich - ganz abgesehen von der allgemeinen Definition patentfähiger Erfindungen nach Artikel 52 (1) EPÜ und den Ausnahmen von der Patentierbarkeit nach Artikel 53 EPÜ - auf eine Reihe von Definitionen, die in den Artikeln 52 (2) bis (4) und 54 bis 57 EPÜ zu den Begriffen "Erfindung", "Neuheit", "erfinderische Tätigkeit" und "gewerbliche Anwendbarkeit" aufgestellt werden und in Verbindung mit Artikel 52 (1) EPÜ bestimmte Erfordernisse vorgeben und somit gesonderte Einspruchsgründe im Sinne gesonderter rechtlicher Einwände oder Rechtsgrundlagen für einen Einspruch verkörpern.
4.4 All diese Artikel (d. h. Art. 52 bis 57 EPÜ) stellen daher im Sinne des Artikels 100 a) EPÜ nicht einen (einzigen) Einwand gegen die Aufrechterhaltung des Patents, sondern vielmehr eine Sammlung verschiedener Einwände dar, die zum Teil überhaupt nichts miteinander zu tun haben (wie z. B. Artikel 53 und die Artikel 52 (1) und 54 EPÜ), zum Teil aber auch enger miteinander verwandt sind (wie z. B. die Artikel 52 (1) und 54 und die Artikel 52 (1) und 56 EPÜ). Ein Einspruch im Rahmen des Artikels 100 a) EPÜ ist nur dann zulässig, wenn er sich auf mindestens eine der Rechtsgrundlagen für einen Einspruch, d. h. auf mindestens einen der in den Artikeln 52 bis 57 EPÜ behandelten Einspruchsgründe, stützt.
4.5 Die Regeln 55 und 56 EPÜ sollen unter anderem klären, was eine Einspruchsschrift enthalten muß, damit sie in dieser Hinsicht zulässig ist. Nach Regel 55 c) EPÜ gehört zur Einspruchsschrift eine Erklärung darüber, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt und auf welche Einspruchsgründe (d. h. auf welche vorstehend genannten rechtlichen Gründe) der Einspruch gestützt wird, sowie die Angabe der zur Begründung, d. h. Substantiierung, vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel. Im Wortlaut des Buchstabens c wird eindeutig unterschieden zwischen den Einspruchsgründen, mit denen - wie in Artikel 100 a) EPÜ - die rechtlichen Gründe oder Rechtsgrundlagen gemeint sind, und der Substantiierung.
4.6 Demgemäß ist ein "Einspruchsgrund" im Kontext der Artikel 99 und 100 und der Regel 55 c) EPÜ dahingehend auszulegen, daß er die jeweilige Rechtsgrundlage für einen Einwand gegen die Aufrechterhaltung eines Patents darstellt. Daraus ergibt sich insbesondere, daß Artikel 100 a) EPÜ eine Sammlung verschiedener Rechtseinwände (d. h. Rechtsgrundlagen) oder auch Einspruchsgründe enthält und nicht auf einen einzigen Einspruchsgrund gerichtet ist.
Befugnisse der Beschwerdekammern im Hinblick auf neue Einspruchsgründe, die im Einspruchsbeschwerdeverfahren vorgebracht werden
5. Wie vorstehend unter Nummer 1.2 zusammengefaßt, ist die Große Beschwerdekammer unter Nummer 18 ihrer Stellungnahme G 10/91 im Hinblick auf die Anwendung des Artikels 114 (1) EPÜ im Einspruchsbeschwerdeverfahren zu dem Schluß gelangt, daß ohne Einverständnis des Patentinhabers weder ein Einsprechender noch die Beschwerdekammer von Amts wegen einen "neuen Einspruchsgrund" in das Verfahren einführen darf. Zur Beantwortung der beiden vorgelegten Rechtsfragen muß die Große Beschwerdekammer nun entscheiden, was unter den in G 10/91 unter Nummer 18 verwendeten Begriff "neuer Einspruchsgrund" fällt.
5.1 Unter den Nummern 4 bis 6 von G 10/91 hat sich die Große Beschwerdekammer eingehend mit Sinn und Zweck der Regel 55 c) EPÜ befaßt und den Schluß gezogen, daß diese Regel nur dann einen Sinn ergibt, wenn ihr im Zuge der Auslegung eine Doppelfunktion zugesprochen wird, die darin besteht, daß sie zum einen die Zulässigkeit des Einspruchs regelt und zum anderen den rechtlichen und faktischen Rahmen festlegt, innerhalb dessen die materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs grundsätzlich durchzuführen ist.
5.2 Unter Nummer 16 von G 10/91 hat die Große Beschwerdekammer ausgeführt, daß eine Einspruchsabteilung in Anwendung des Artikels 114 (1) EPÜ einen durch die Einspruchsschrift nicht abgedeckten Einspruchsgrund entweder von sich aus oder auf Antrag eines Einsprechenden in das Einspruchsverfahren einführen kann, wenn er als hinreichend relevant im dort erläuterten Sinne anzusehen ist. Geschieht dies, so wird die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung natürlich auch darüber befinden, ob er der Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents entgegensteht.
5.3 Die Große Beschwerdekammer hat den Begriff "neuer Einspruchsgrund" in ihrer Stellungnahme G 10/91 erstmals unter Nummer 18 benutzt, wo es um die richtige Anwendung des Artikels 114 (1) EPÜ im Einspruchsbeschwerdeverfahren geht (s. vorstehend Nr. 1.2). Es liegt auf der Hand, daß damit ein Einspruchsgrund gemeint ist, der weder in der Einspruchsschrift geltend gemacht und substantiiert noch von der Einspruchsabteilung in Anwendung des Artikels 114 (1) EPÜ unter Beachtung der in G 10/91 unter Nummer 16 aufgestellten Grundsätze in das Verfahren eingeführt worden ist.
5.4 Da außerdem die Anforderungen, die Artikel 99 und Regel 55 c) EPÜ an die Einspruchsschrift stellen, in der Stellungnahme G 10/91 eingehend diskutiert wurden, kann mit dem in G 10/91 unter Nummer 18 verwendeten Begriff "neuer Einspruchsgrund" - in Anlehnung an die vorstehend unter Nummer 4.6 umrissene Bedeutung des Begriffs "Einspruchsgrund"- nur eine neue Rechtsgrundlage für einen Einwand gegen die Aufrechterhaltung des Patents gemeint gewesen sein, der in der Einspruchsschrift weder erhoben noch substantiiert, noch von der Einspruchsabteilung gemäß den unter Nummer 16 von G 10/91 aufgestellten Grundsätzen in das Verfahren eingeführt worden ist.
Vorlagefrage in der Sache G 1/95
6. Diese Frage bezieht sich auf einen Fall, in dem ein Einspruch mit mangelnder Neuheit und erfinderischer Tätigkeit (Artikel 52 (1) und 54 sowie 52 (1) und 56 EPÜ) substantiiert wurde, der Einspruchsgrund, daß der beanspruchte Gegenstand keine Erfindung im Sinne des Artikels 52 (1) und (2) EPÜ sei, aber weder in der Einspruchsschrift vorgebracht noch substantiiert, noch von der Einspruchsabteilung in das Verfahren eingeführt wurde. Aus den Ausführungen unter Nummer 5.2 ergibt sich, daß der auf Artikel 52 (1) und (2) EPÜ gestützte Einwand mangelnder Patentfähigkeit eine neue Rechtsgrundlage für einen Angriff gegen die Aufrechterhaltung des Patents und damit ein "neuer Einspruchsgrund" in dem in G 10/91, Nummer 18 angesprochenen Sinne ist und mithin nicht ohne das Einverständnis des Patentinhabers in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden darf.
Vorlagefrage in der Sache G 7/95
7. Diese Frage bezieht sich auf einen Fall, in dem ein Einspruch mit mangelnder erfinderischer Tätigkeit gegenüber bestimmten in der Einspruchsschrift angegebenen Entgegenhaltungen substantiiert und insbesondere auf eine Entgegenhaltung gestützt wurde, die den nächstliegenden Stand der Technik bildete. Im Beschwerdeverfahren erhob der Einsprechende erstmals den Einwand, daß die beanspruchte Erfindung gegenüber diesem nächstliegenden Stand der Technik nicht neu sei.
7.1 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß mangelnde Neuheit ein anderer rechtlicher Einwand mit einer anderen Rechtsgrundlage ist als mangelnde erfinderische Tätigkeit. Daher kann er - als "neuer Einspruchsgrund" im Sinne der Aussage unter Nummer 18 von G 10/91 - nicht ohne das Einverständnis des Patentinhabers in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden.
7.2 Ist aber - wie in dem der Vorlageentscheidung zur Sache G 7/95 zugrunde liegenden Fall - der nächstliegende Stand der Technik für den beanspruchten Gegenstand neuheitsschädlich, so kann dieser Gegenstand offensichtlich auch nicht erfinderisch sein. Mangelnde Neuheit hat also in diesem Fall unweigerlich zur Folge, daß der betreffende Gegenstand mangels erfinderischer Tätigkeit nicht schutzwürdig ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage wird wie folgt beantwortet:
Ist der Einspruch gegen ein Patent aufgrund der in Artikel 100 a) EPÜ genannten Einspruchsgründe eingelegt, aber nur mit mangelnder Neuheit und erfinderischer Tätigkeit substantiiert worden, so gilt der Einwand, daß der Gegenstand nach Artikel 52 (1) und (2) EPÜ nicht patentfähig ist, als neuer Einspruchsgrund und darf daher nicht ohne das Einverständnis des Patentinhabers in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden.