T 0198/17 25-03-2021
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SYSTEM ZUR VERABREICHUNG VON MEDIKAMENTEN UNTER BERÜCKSICHTIGUNG VON URINWERTEN
Neuheit (ja)
Erfinderische Tätigkeit (ja)
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, mit der die europäische Patentanmeldung Nr. 11 706 599.5 wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit hinsichtlich der Kombination folgender Dokumente zurückgewiesen wurde:
D1: US-A-2010/0036310
D5: US-A-2007/0088333
II. In einem der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Bescheid teilte die Kammer ihre vorläufige Auffassung mit, wonach der Gegenstand des Anspruchs 1 des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrags nicht neu gegenüber D5 sei.
III. Am 25. März 2021 fand eine mündliche Verhandlung statt.
Die Beschwerdeführerin beantragte am Ende der mündlichen Verhandlung die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten neuen Hauptantrags.
IV. Anspruch 1 des neuen Hauptantrags lautet wie folgt:
"1. System zur Verabreichung von Medikamenten für einen Patienten (2) umfassend:
- mindestens eine Zuführeinrichtung (1) zum Zuführen von flüssigen Medikamenten und flüssigen Nahrungswerten;
- eine erste Messeinrichtung (7, 8) zum Messen von Urinwerten (6a) des Urins eines Patienten (2);
- eine erste Auswerteeinrichtung (6) zum Auswerten der gemessenen Urinwerte (6a); und
- eine erste Berechnungseinrichtung (13) zum Berechnen von ersten Medikamentenparametern der den jeweiligen Patienten (2) zu verabreichenden Medikamente auf Basis der ausgewerteten, gemessenen Urinwerte (6a);
- eine zweite Messeinrichtung (9) zum Messen der Menge des vom Patienten (2) ausgeschiedenen Urins;
- eine zweite Auswerteeinrichtung (10) zum Auswerten der gemessenen Urinmenge; und
- eine zweite Berechnungseinrichtung (11) zum Berechnen einer Fluidbilanz des Körpers des Patienten (2) aus der ausgeschiedenen Urinmenge und aus einer durch die mindestens eine Zuführeinrichtung (1) zugeführten Menge an flüssigen Medikamenten und flüssigen Nahrungswerten, und zum Berechnen zweiter Medikamentenparameter aus der berechneten Fluidbilanz; wobei
- die mindestens eine Zuführeinrichtung (1) die flüssigen Medikamente mit einer auf der Grundlage von zumindest aus den ersten und zweiten Medikamentenparametern berechneten, gemeinsamen
Medikamentenparametern eingestellten Infusionsrate zuführt."
Ansprüche 2 bis 8 sind abhängige Ansprüche.
1. Die Erfindung betrifft ein System zur Verabreichung von Medikamenten, bei dem im Wesentlichen die Zuführung von flüssigen Medikamenten auf der Grundlage von einer aus "gemeinsamen Medikamentenparametern" eingestellte Infusionsrate erfolgt, wobei die "gemeinsamen Medikamentenparametern" aus gemessenen Urinwerten und einer aus der gemessenen Menge des ausgeschiedenen Urins und der zugeführten Menge an flüssigen Medikamenten und Nahrungswerten berechneten Fluidbilanz berechnet werden.
Damit wird ein System zur Verabreichung von Medikamenten für einen Patienten zur Verfügung gestellt, welches die Zuführung von Medikamenten mit den richtigen Medikamentenparametern in automatisierter Weise ermöglicht.
2. Neuheit
2.1 Dokument D5 offenbart ein System zur Infusion von osmotisch wirksamen Substanzen ("osmotic agents") zur Behandlung von Herzinsuffizienz ("congestive heart failure, CHF") oder Hirnödemen (Absätze [0011], [0014] und [0015]). Als Beispiel derartiger "osmotic agents" erwähnt D5 hypertonische Kochsalzlösungen (Absätze [0011] und [0014]). Eine hypertonische Kochsalzlösung zur Behandlung von Herzinsuffizienz oder Hirnödemen ist ebenfalls als Arzneimittel, oder gleichbedeutend Medikament (auch Therapeutikum genannt) zu sehen, da sie ein Stoff oder eine Stoffzusammensetzung darstellt, der bzw. die zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt ist oder sich zur Beeinflussung physiologischer Funktionen eignet. Diese Definition beruht auf der ausführlicheren Formulierung in zwei grundlegenden gesetzlichen Regelwerken der Europäischen Union, den Richtlinien 2001/83/EG und 2001/82/EG (https://de.wikipedia.org/wiki/Arzneimittel). Darüber hinaus offenbart D5 in Absatz [0031], dass das System auch Diuretika verabreichen kann. Somit ist das aus D5 bekannte System geeignet, flüssige Medikamente zu verabreichen.
2.2 In D5 wird ferner offenbart (Absatz [0045]; Figuren 1 und 2), dass mittels eines Sensors (111) die Natriumkonzentration im ausgeschiedenen Urin und mittels einer Waage (202) die ausgeschiedene Urinmenge gemessen werden. Eine CPU (201) verarbeitet die Messdaten und steuert eine Zuführeinrichtung von flüssigen Medikamenten (Infusionspumpe 105) so an, dass eine Natriumbilanz hergestellt wird. Das bedeutet, dass aus den gemessenen Urinwerten "erste Medikamentenparameter" berechnet werden, mit denen die Infusionsrate der Zuführeinrichtung von flüssigen Medikamenten eingestellt wird.
2.3 Die gemessene Menge an ausgeschiedenem Urin wird gemäß Absatz [0022] als Flüssigkeitsmengenverlust oder -zunahme auf dem Display angezeigt, so dass der Benutzer die Dauer der Therapie und den Soll-Flüssigkeitsverlust über die Zeit einstellen kann. D.h. in D5 wird die Soll-Fluidbilanz vom Benutzer manuell eingegeben. Es wird jedoch nicht, wie beansprucht, eine Ist-Fluidbilanz aus der ausgeschiedenem Urinmenge und der dem Patienten zugeführten Menge an flüssigen Medikamenten und flüssigen Nahrungswerten berechnet ("zweite Medikamentenparameter" im Anspruch 1).
Darüber hinaus definiert Anspruch 1 im Gegensatz zu D5, dass die flüssigen Medikamente mit einer Infusionsrate zugeführt werden, die auf der Grundlage von aus den ersten und zweiten Medikamentenparametern berechneten, gemeinsamen Medikamentenparametern eingestellt wird. Im beanspruchten System wird somit die Infusionsrate nicht nur auf der Grundlage der gemessenen Urinwerte eingestellt, wie in D5, sondern auf der Grundlage eines weiteren Parameters, der aus den gemessenen Urinwerten und der Fluidbilanz aus ausgeschiedener Urinmenge und zugeführter Menge an flüssigen Medikamenten und flüssigen Nahrungswerten berechnet wird.
2.4 Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 neu im Sinne von Artikel 54 EPÜ.
3. Erfinderische Tätigkeit
3.1 Ausgehend von der Lehre von D5 würde der Fachmann ohne Kenntnis der Erfindung nicht in naheliegender Weise zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangen. D5 gibt dem Fachmann keinerlei Anregung, die Infusionsrate von Medikamenten nicht nur auf der Grundlage der gemessenen Urinwerte einzustellen, sondern auch auf der Grundlage der berechneten Fluidbilanz aus ausgeschiedener Urinmenge und zugeführter Menge an flüssigen Medikamenten und flüssigen Nahrungswerten.
Die Berechnung der Infusionsrate mittels gemessener Urinwerte und berechneter Fluidbilanz des Patienten erlaubt eine wesentlich differenziertere Steuerung der Zuführung von Medikamenten als die in D5.
3.2 Die Kombination von D1 als nächstliegendem Stand der Technik mit D5, wie sie in der angefochtenen Entscheidung vorgebracht wurde, führt allein schon deshalb nicht zum beanspruchten Gegenstand, weil die oben erwähnten Unterscheidungsmerkmale gegenüber D5 auch in D1 nicht offenbart oder nahegelegt sind. D1 betrifft nämlich ein System zur Verabreichung von Medikamenten, bei dem die Zuführung eines flüssigen Medikaments auf der Grundlage eines (mittels Sensor 120) gemessenen Parameters erfolgt (Absätze [0018] und [0029]), wobei der Parameter auch ein Urinwert sein kann (Absatz [0033]). In D1 finden sich keine Anregungen, die Fluidbilanz für die Einstellung der Dosis der Medikamentenverabreichung zu verwenden.
3.3 Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 erfinderisch im Sinne von Artikel 56 EPÜ. Dies gilt um so mehr für die bevorzugten Ausführungen gemäß der abhängigen Ansprüche 2 bis 8.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird mit der Anordnung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen, das Patent wie folgt zu erteilen:
- Ansprüche 1 bis 8 des Hauptantrags wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer,
- Beschreibung: Seiten 1 bis 9 wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer,
- Zeichnungen: Figur 1 wie ursprünglich eingereicht.