D 0030/22 14-03-2023
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I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungskommission vom 6. Juli 2022, in der festgestellt wurde, dass die Prüfungsarbeit des Beschwerdeführers zur Aufgabe A der europäischen Eignungsprüfung 2022 (im Folgenden: Aufgabe A) mit 42 Punkten und damit mit der Note "NICHT BESTANDEN" bewertet wurde.
II. Mit Schreiben vom 12. August 2022, das am gleichen Tag beim EPA einging, legte der Beschwerdeführer gegen die Entscheidung der Prüfungskommission vom 6. Juli 2022 Beschwerde ein und begründete diese. Er entrichtete am 10. August 2022 die vorgeschriebene Beschwerdegebühr. Das Prüfungssekretariat legte die Beschwerde der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten (Beschwerdekammer) mit Schreiben vom 15. September 2022 vor und teilte mit, dass die Prüfungskommission beschlossen habe, der Beschwerde nicht abzuhelfen. Weder der Präsident des Europäischen Patentamtes noch der Präsident des Rats des Instituts der zugelassenen Vertreter, denen nach Artikel 24 (4) Satz 1 der Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung für zugelassene Vertreter (VEP) in Verbindung mit Artikel 12 der Vorschriften in Disziplinarangelegenheiten von zugelassenen Vertretern (VDV) Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden war, äußerten sich schriftlich zur Beschwerde.
III. Die Kammer teilte dem Beschwerdeführer am 16. Februar 2023 in einer Mitteilung gemäß Artikel 13(2) und 14 der Ergänzenden Verfahrensordnung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten des Europäischen Patentamtes (EVBD) ihre vorläufige Einschätzung mit.
IV. Der Beschwerdeführer nahm hierzu am 2. März 2023 Stellung und beantragte dabei die Verlegung der für 14. März 2023 geplanten mündlichen Verhandlung. Die Kammer gab diesem Antrag nicht statt.
V. Die mündliche Verhandlung fand daher wie mit Ladung vom 3. Januar 2023 mitgeteilt am 14. März 2023 in Anwesenheit des Beschwerdeführers und einer Vertreterin des Präsidenten des Rats des Instituts der zugelassenen Vertreter statt und wurde als Videokonferenz durchgeführt. Am Ende der Verhandlung wurde die vorliegende Entscheidung verkündet.
VI. Zur Begründung seiner Beschwerde machte der Beschwerdeführer unter anderem Folgendes geltend:
Sein auf ein Stampfwerk gerichteter Vorrichtungsanspruch entspreche weitgehend der Musterlösung. Die gegenüber dieser bei ihm fehlende Funktionsangabe sei weder beschränkend noch technisch notwendig und überdies im Begriff "Stampfwerk" bereits implizit enthalten. Ihr Fehlen könne daher keinen Mangel seiner Arbeit darstellen. Es gehe daher vorliegend nicht um ein möglicherweise der Prüfungskommission vorbehaltenes Ermessen, in welchem Umfang ein Punktabzug gerechtfertigt sei, sondern um die Feststellung, dass keinerlei Fehler vorliegt, der überhaupt einen Punktabzug rechtfertige.
Hinsichtlich des Produktanspruchs auf Papier oder Papierbögen sei die Angabe von "Roh-Pflanzenmaterial" überflüssig, da das Wort "Papier" bereits pflanzliches Material als Inhaltsstoff impliziere. Das Merkmal "ligninfrei" sei zwar wesentlich, sein Fehlen aber im vorliegenden Fall bereits im Rahmen des Verfahrensanspruchs durch einen Abzug sanktioniert worden. "Homogen untergemischter Leim" enthalte den relativen Begriff "homogen" und sei unklar, was der Prüferbericht im Parallelfall des Verfahrensanspruchs zum Ausdruck bringe. Die Grammatur des Papiers sei schließlich mit der Angabe zur Reißfestigkeit untrennbar verbunden, da bei gleicher Zusammensetzung und Herstellung schwereres Papier natürlich dicker und reißfester sei. Dieser Zusammenhang werde in Absatz [026] des Mandantenschreibens auch deutlich gemacht, die Herausnahme nur der Reißfestigkeit ohne die Angabe der Grammatur des Papiers, an der sie gemessen wurde, stelle eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung dar. Schließlich widerspreche es sowohl der Rechtsprechung als auch den Richtlinien, in einem Fall, in dem es genau ein Standardverfahren zur Messung eines Parameters gebe, die Aufnahme dieses Verfahrens in den Anspruch zu verlangen. Die Musterlösung im Prüferbericht und die darauf basierende Korrektur gingen daher von einer falschen rechtlichen Grundlage aus, was einen schweren und eindeutigen Fehler darstelle, der von der Kammer korrigiert werden könne.
VII. Der Beschwerdeführer beantragte abschließend,
- die angefochtene Entscheidung der Prüfungskommission vom 6. Juli 2022 aufzuheben,
- die Prüfungsaufgabe A der europäischen Eignungsprüfung 2022 des Beschwerdeführers mit mindestens der Note "nicht bestanden mit Ausgleichsmöglichkeit" gemäß Regel 6 (3) c) der Ausführungsbestimmungen zu den Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung (ABVEP) zu bewerten
und
- die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen.
VIII. Hinsichtlich der Einzelheiten der streitigen Prüfungsaufgabe wird auf die veröffentlichte Prüfungsaufgabe und den entsprechenden Prüferbericht verwiesen, die auf der Website des Europäischen Patentamts unter https:// www.epo.org/learning/eqe/compendium_de.html abrufbar sind.
IX. Von der Darstellung der weiteren Einwände des Beschwerdeführers wird abgesehen, da diese für die Entscheidung nicht mehr relevant sind (siehe unten Entscheidungsgründe 3.5).
Die zulässige Beschwerde erweist sich als begründet.
1. Vorrichtungsanspruch - Stampfwerk
1.1 Gemäß Artikel 24 (1) der Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung für zugelassene Vertreter (VEP) und nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten (im Anschluss an D 1/92, ABl. EPA 1993, 357) sind Entscheidungen der Prüfungskommission grundsätzlich nur dahingehend zu überprüfen, ob nicht die VEP, die bei ihrer Durchführung anzuwendenden Bestimmungen (ABVEP) oder höherrangiges Recht verletzt sind. Es ist nicht die Aufgabe der Beschwerdekammer, das Prüfungsverfahren sachlich zu überprüfen. Den Prüfungsausschüssen und der Prüfungskommission steht nämlich im Grundsatz ein Beurteilungsspielraum zu, der nur sehr begrenzt der gerichtlichen Überprüfung zugänglich ist.
1.2 Das eingeräumte Ermessen ist jedoch sachgerecht und willkürfrei auszuüben. Um insoweit die Entscheidung der Prüfungskommission im Einzelfall für den Bewerber nachvollziehbar zu machen, sieht Regel 4 (1) ABVEP als ein wesentliches Element des Prüfungsverfahrens
(vgl. D 13/17, Punkt 3.3 der Entscheidungsgründe) vor, dass den Teilnehmern Bewertungsbögen übersandt werden, die Einzelheiten zur Notengebung enthalten müssen. Die Grundlagen für die Vergabe der dort nach Kategorien aufgeschlüsselten Einzelpunkte lassen sich wiederum dem veröffentlichten Prüferbericht entnehmen, der Hinweise sowohl zu den von den Kandidaten erwarteten Lösungen als auch zu denkbaren Fehlern, die sich negativ auf die Bewertung ausgeübt haben, enthält. Auf diese Weise soll die anzustrebende einheitliche Bewertung der Arbeiten der Bewerber im Sinne von Artikel 6(2)b) VEP erleichtert werden.
1.3 Wenn auch diese Schemata und insbesondere die noch detaillierteren internen Bewertungsvorlagen nicht so strikt angewendet werden dürfen, dass für abweichende, aber dennoch vertretbare und kompetent begründete Antworten nicht ebenfalls angemessen Punkte vergeben werden (vgl. D 7/05, Punkt 13 der Entscheidungs-
gründe), so ist die von der VEP geforderte gerechte Bewertung der Bewerber umgekehrt nicht denkbar, wenn die Mitglieder der Prüfungskommissionen nicht für Lösungen, die alle geforderten Elemente enthalten und keine Fehler aufweisen, tatsächlich die gemäß Bewertungsbogen in der jeweiligen Kategorie erzielbare volle Punktzahl vergeben.
1.4 Sofern dies ohne Wiedereröffnung des gesamten Bewertungsverfahrens und ohne wertende Neubetrachtung der Prüfungsarbeit festgestellt werden kann, was angesichts der veröffentlichten Prüferberichte und Bewertungsbögen im Einzelfall gegeben sein mag, kann dieser Punkt auch von der Beschwerdekammer überprüft werden.
1.5 Der vom Beschwerdeführer im vorliegenden Fall entworfene Vorrichtungsanspruch unterscheidet sich von der Musterlösung nur dadurch, dass diese dem beanspruchten Stampfwerk noch die Funktionsangabe "zur Herstellung von Papierpulpe" anfügt. Außerdem hat der Beschwerdeführer die beiden in der Musterlösung als Alternativen vorgeschlagenen Merkmale
"dadurch gekennzeichnet, dass der Hammerkopf (2) in einer Schrägstellung zum Hammerschaft (3) angeordnet ist
[oder dadurch gekennzeichnet, dass der Kopf-Schaft-Winkel (alpha) ein fixer Winkel ungleich 90 Grad ist]"
in der folgenden Weise kombiniert:
"dadurch gekennzeichnet, dass der Hammer eine Schrägstellung des Hammerkopfs (2) bezüglich des Hammerschafts (3) mit einem fixen Kopf-Schaft-Winkel (alpha) ein fixer Winkel ungleich 90 Grad aufweist".
1.6 Diese Kombination beider Merkmale ist nicht stärker beschränkend als das zweitvorgeschlagene Merkmal für sich genommen und sie begegnet auch keinen Klarheitsbedenken, sondern präzisiert im Gegenteil, was mit dem relativen Begriff "Schrägstellung" im erstvorgeschlagenen Merkmal gemeint ist.
1.7 Für die von der Musterlösung vorgesehene Funktions-angabe ist im Kontext der Aufgabenstellung kein Anlass erkennbar, etwa dahingehend, dass eine Abgrenzung erforderlich erschiene gegenüber anderen Vorrichtungen, die auch als Stampfwerke zu sehen, aber nicht zur Pulpeherstellung geeignet wären. Die Angabe erscheint daher nicht notwendig und wird auch im Prüferbericht nicht näher begründet.
1.8 Die Antwort des Beschwerdeführers enthält damit alle im Prüferbericht als erforderlich angesehenen Merkmale, begegnet keinen Klarheitseinwänden und enthält keine überflüssigen, insbesondere unnötig beschränkenden Merkmale. Vor diesem Hintergrund ist kein nachvollziehbarer Grund ersichtlich, der eine Bewertung unterhalb der für diesen Aufgabenteil vorgesehenen vollen Punktzahl von 28 Punkten rechtfertigen könnte.
1.9 Das den Prüfern eingeräumte Ermessen ist vorliegend nicht berührt. Es betrifft insbesondere die Einschätzung, welcher Punktabzug für fehlerhafte Antworten angemessen ist oder welche hinter der Ideallösung zurückbleibenden Alternativen ebenfalls vertretbar sind und wie diese bepunktet werden sollten. Es kann dagegen nicht als Freibrief missverstanden werden, nach Belieben Punkte abzuziehen, selbst wenn die Antwort technisch und rechtlich einwandfrei ist und alle vor dem Hintergrund der Aufgabenstellung erwarteten und in der Musterlösung angeführten Aspekte enthält.
2. Produktanspruch - Papier
2.1 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern seit D 1/92 unterliegen Prüfungsentscheidungen einer Überprüfung durch die Beschwerdekammer nur dahin, ob sie auf schwerwiegenden und eindeutigen Fehler beruhen, die ohne Wiedereröffnung des gesamten Bewertungs-verfahrens festgestellt werden können. Ein solcher Fehler kann im Einzelfall darin liegen, dass die Prüfer bei ihrer Bewertung von einer technisch oder rechtlich falschen Beurteilungsgrundlage ausgegangen sind, auf der die angefochtene Entscheidung beruht (D 16/02 und D 6/04, jeweils Punkt 3 der Entscheidungsgründe). Der Bewertung einer Prüfungsarbeit können dabei aber nur solche Überlegungen der Bewerber zugrunde gelegt werden, die den Ausführungen der Bewerber in der Arbeit im Zeitpunkt ihrer Bewertung zugeordnet werden können. Spätere Erklärungen, die nur der Beschwerdebegründung entnommen werden können, können dafür nicht berücksichtigt werden (vgl. D 16/02, Punkt 3.2 der Entscheidungsgründe).
2.2 Der Produktanspruch des Beschwerdeführers enthält neben der Angabe der Reißfestigkeit von über 1900 N/m den Bezug auf eine Grammatur des Papiers von 70 g/m2. Die Iso-Norm des Messverfahrens ist nicht im Anspruch selbst genannt, sondern in der Beschreibung.
2.3 Der Beschwerdeführer hat diese Angaben damit begründet, dass er - anders als teilweise der Prüferbericht - von den faktischen Vorgaben ausgegangen sei, die die Prüfungsaufgabe gemacht hat. Insbesondere offenbare der Mandantenbrief die Reißfestigkeit von 1900 N/m, die ja technisch immer von der Stärke des gewählten Papiers abhänge, nicht in allgemeiner Form, sondern nur im Hinblick auf das konkret getestete Papier mit seiner Grammatur von 70 g/m2. Auch werde gemäß der Prüfungsaufgabe nicht nach einem von mehreren dem Fachmann zur Verfügung stehenden Verfahren getestet, sondern nach dem ersichtlich einzig gebräuchlichen. Die Vorgabe, dass dieses Verfahren daher im Anspruch selbst genannt werden müsse, sei daher rechtlich unzutreffend.
2.4 Die Prüfungsaufgabe enthält im Schreiben des Anmelders folgende Angaben (Hervorhebungen durch die Kammer):
[025] Das auf diese Weise hergestellte Papier ist chemisch inert und hat ausgezeichnete
Eigenschaften in Bezug auf Haltbarkeit und Alterungsbeständigkeit. Es hat eine glatte,
bedruckbare Oberfläche, die ausreichend undurchlässig ist, so daß Druckfarbe nicht in
die Fasern einsickert. Der homogen untergemischte Leim gibt den Zellulosefasern bessere Kohäsions- und Bindeeigenschaften. Wir fertigen Papierbögen mit einer Grammatur von 70 g/m2. Diese Grammatur ist in historischem Hadernpapier aus dem 17. und dem 18. Jahrhundert am häufigsten anzutreffen.
[026] Wir haben die Reißfestigkeit unseres Papiers gemäß dem Standardverfahren (ISO 1924-2) getestet. Die Reißfestigkeit bezieht sich auf die maximale Kraft, die erforderlich ist, um einen Streifen von einem Bogen abzureißen. Mit einer Reißfestigkeit
von über 1 900 N/m, vorzugsweise über 2 600 N/m, ist unser Papier besser als historisches Hadernpapier, das immer eine Reißfestigkeit von deutlich unter 1 900 N/m hat.
2.5 Es trifft somit zu, dass der Mandant die Werte der Reißfestigkeit nicht in allgemeiner Form für alle denkbaren Grammaturen von mit dem Verfahren erzeugbarem Papier offenbart, sondern nur im konkreten Zusammenhang mit der von ihm tatsächlich hergestellten Papiersorte, die eine Grammatur von 70g/m2 aufweist. Die Reißfestigkeit soll sich dabei auf die zum Abreißen eines Streifens von einem Bogen erforderliche Kraft beziehen, ist also ersichtlich neben den durch die Erfindung erzielten Produkteigenschaften auch von der Dicke des Papierbogens und damit der Grammatur abhängig. Eine erhöhte Reißfestigkeit kann mit anderen Worten nur dann einen erfinderischen Schritt gegenüber dem Stand der Technik dokumentieren, wenn sie bei gleicher Papierstärke (ausgedrückt durch die Grammatur) erreicht wird.
2.6 Die der Korrektur zugrunde liegende Lösung im Prüferbericht, die die oben genannten Angaben in der Prüfungsaufgabe ignoriert und davon ausgeht, dass - im Zusammenhang mit den strukturellen Merkmalen des Ausgangsmaterials (ligninfreies Roh-Pflanzenmaterial) und des Herstellungsprozesses (homogen untergemischter Leim) - der Parameter Reißfestigkeit alleine, also ohne Angabe der Grammatur des Papiers, einen Hinweis auf die erfinderischen Eigenschaften des Produkts geben kann, geht daher - wie aus der Prüfungsaufgabe selbst ohne Heranziehung weiteren Fachwissens (vgl. Regel 22(3) ABVEP) ersichtlich ist - von einer technisch falschen Beurteilungsgrundlage aus.
2.7 Es trifft des Weiteren ebenfalls zu, dass die Prüfungsaufgabe nicht erkennen lässt, dass die Messung nach einem von mehreren dem Fachmann zur Verfügung stehenden Messverfahren erfolgte, wie es der Prüferbericht suggeriert ("nach einer standardmäßigen ISO-Norm"). Die Aufgabe spricht vielmehr von "dem Standardverfahren" und erwähnt keine anderen, dem Fachmann ebenfalls bekannten Messverfahren.
2.8 Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, die normalerweise verlangt (siehe die Zusammenfassung in T 849/11 Punkt 1.1 (A) der Entscheidungsgründe), dass die zur Messung eines Parameters zu verwendende Methode komplett in den Anspruch selbst aufgenommen wird, sieht hiervon dann eine Ausnahme vor (siehe T 849/11 Punkt 1.1 (B) (i) und (ii) der Entscheidungsgründe), wenn die Methode zum allgemeinen Fachwissen gehört oder alle auf diesem technischen Gebiet bekannten Methoden im Rahmen der Messungenauigkeit zum gleichen Resultat führen. Dies wird auch in den Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt in Teil F, Kapitel IV unter Punkt 4.11 so reflektiert.
2.9 Eine Messmethode, die im Mandantenschreiben als
"das Standardverfahren" bezeichnet wird, kann als zum allgemeinen Fachwissen gehörend angesehen werden. Als einzige bekannte Messmethode ist auch keine Unsicherheit hinsichtlich etwaiger abweichender Resultate zu befürchten.
2.10 Nach Regel 23(3) ABVEP wird von den Bewerbern in der Prüfungsaufgabe A die Formulierung von Ansprüchen erwartet, die die Erfordernisse des EPÜ und die Richtlinien für die Prüfung im EPA berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund kann eine Antwort nicht beanstandet werden, die auf der Basis gefestigter und in den Prüfungsrichtlinien wiedergegebener Rechtsprechung der Beschwerdekammer begründet ist. Es erscheint daher vertretbar, von der Aufnahme der ISO-Nummer der Messmethode in den Anspruch abzusehen.
2.11 Es kann vorliegend auch angesichts der Formulierung der Beschreibungspassagen in der Arbeit des Beschwerdeführers davon ausgegangen werden, dass dieser schon zum Zeitpunkt der Beantwortung der Aufgabe bewusst und gerade aufgrund der beiden dargestellten Gründe von einer Formulierung des Papieranspruchs wie in der Musterlösung abgesehen hat; anders als in weiteren von der Kammer zu beurteilenden Fällen besteht hier daher nicht die Gefahr, dass erst später aufgedeckte in rechtlicher oder technischer Hinsicht zweifelhafte Hinweise der Musterlösung lediglich nachträglich zur Begründung einer Beschwerde herangezogen wurden. Den Anforderungen der Entscheidung D 16/02 (vgl. oben Punkt 2.1) scheint daher vorliegend genüge getan. Die Lösung des Beschwerdeführers ist damit zumindest als legitime Alternative zur Musterlösung anzuerkennen.
2.12 Im Ergebnis kann daher festgehalten werden, dass im hier zu beurteilenden Fall weder ein Abzug von 8 Punkten wegen der Aufnahme der Grammatur in den Anspruch noch ein solcher von 4 Punkten wegen der Nichtaufnahme der Iso-Norm in den Anspruch und ihrer Erwähnung nur in der Beschreibung hätte erfolgen dürfen.
2.13 Diese Abzüge von den für den Produktanspruch - Papier - zu vergebenden 16 Punkten sind vorliegend ersichtlich auch relevant geworden, da auf der Basis der Korrekturhinweise im Prüferbericht eine Vergabe von 0 Punkten auch nicht aus anderen Gründen gerechtfertigt erschienen wäre: Abzüge hätten nur in Höhe von 6 Punkten für das Fehlen des Merkmals "homogen untergemischter Leim" und gegebenenfalls in Höhe von 6 weiteren Punkten für das Fehlen von "lignin-freies Roh-Pflanzenmaterial" erfolgen können (wenn ein Abzug insoweit nicht ohnehin schon im Rahmen des Verfahrensanspruchs erfolgt ist und daher wegen des Doppelbestrafungsverbots nicht erneut hätte vorgenommen werden dürfen bzw. wenn man das letztgenannte Merkmal nicht implizit bereits durch die vom Beschwerdeführer verwendeten Merkmale "Papier" und "chemisch inert" ausgedrückt ansieht).
2.14 Somit hätte die Korrektur auf der Basis der eigenen Richtlinien der Prüfungskommission zur Vergabe von mindestens 4, bzw. (wenn der Abzug beim Verfahrensanspruch erfolgte) 10 Punkten führen müssen.
2.15 Es ist daher festzustellen, dass die auf einer technisch (siehe oben Punkte 2.2 bis 2.6) bzw. rechtlich unzutreffenden (siehe oben Punkte 2.7 bis 2.11) Ausgangsbasis beruhende Beurteilung des Produktanspruchs auf schwerwiegenden und eindeutigen Fehlern beruht, die zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung gemäß Artikel 24(4) VEP führen.
3. Antrag auf Zuerkennung einer Note
3.1 Im Falle der Stattgabe einer Beschwerde verweist die Beschwerdekammer die Angelegenheit gemäß Artikel 12 der Ergänzenden Verfahrensordnung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten (EVBD) zur Neubewertung der betreffenden Arbeit an die Prüfungskommission zurück, es sei denn es liegen besondere Gründe vor, die gegen eine Zurückverweisung sprechen. Dies ist vorliegend der Fall, da die Neubewertung sich hier als reine Formalie darstellen würde (im Anschluss an D 14/17 Punkt 3.3 der Entscheidungsgründe).
3.2 Der Beschwerdeführer, dessen Arbeit bereits mit 42 Punkten bewertet worden war, hat nicht die Vergabe einer konkreten Punktzahl beantragt, welche nur als Folge einer umfassenden Neubewertung seiner Arbeit in Betracht käme, sondern die Bewertung seiner Prüfungsaufgabe A der europäischen Eignungsprüfung 2022 mit mindestens der Note "nicht bestanden mit Ausgleichsmöglichkeit". Hintergrund für diesen Antrag ist, dass er - angabegemäß - alle anderen Aufgaben bereits mit über 50 Punkten bestanden hat, darunter - der Kammer bekannt - die Aufgabe B ebenfalls im Jahr 2022 mit 83 Punkten. Jede Bewertung mit 45 Punkten oder mehr würde für ihn daher das Bestehen der Eignungsprüfung insgesamt bedeuten.
3.3 Die Kammer hatte daher allein zu beurteilen, ob - ohne Eingriff in das der Prüfungskommission zustehende Ermessen - festgestellt werden kann, dass eine Neubewertung jedenfalls zu einer Vergabe von 3 Punkten mehr als bislang vergeben führen müsste.
3.4 Dies ist vorliegend der Fall.
Wie oben unter Punkt 1.8 und 1.9 ausgeführt, ist kein legitimer Grund ersichtlich, warum die Prüfungskommission von ihrer eigenen Musterlösung im Prüferbericht ausgehend für den Vorrichtungsanspruch hinter der vollen Punktzahl von 28 zurückbleiben könnte.
Wie unter Punkt 2.12 dargelegt, ist beim Produktanspruch zwar eine Bewertung mit 4 oder mit 10 Punkten denkbar, je nachdem wie die Merkmale "Papier" und "chemisch inert" eingestuft werden und ob ein etwaiger Abzug nicht ohnehin bereits beim Verfahrensanspruch vorgenommen wurde. In beiden Fällen ergibt sich aber eine Bewertung, die zusammen mit den beiden zusätzlichen Punkten beim Vorrichtungsanspruch deutlich über den benötigten drei Punkten liegt.
Es kann daher dahinstehen, ob die Prüfungskommission am Ende 6 oder 12 Punkte mehr vergibt. Die beantragte Benotung mit mindestens "nicht bestanden mit Ausgleichsmöglichkeit" gemäß Regel 6 (3) c) ABVEP wäre in jedem Fall gerechtfertigt.
3.5 Ob weitere der vom Beschwerdeführer geltend gemachten Einwände gegen die Prüfung gerechtfertigt sind und ob diese Auswirkungen auf die Beurteilung hätten, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen.
4. Erstattung der Beschwerdegebühr
4.1 Da der vorliegenden Beschwerde stattzugeben ist, entspricht es der Billigkeit, die Rückzahlung der Beschwerdegebühr gemäß Artikel 24(4) Satz 3 VEP anzuordnen.
4.2 Da der Beschwerdeführer alle Anträge zurückgenommen hat, mit denen er keinen Erfolg gehabt hätte (zur Feststellung des Bestehens der gesamten Eignungsprüfung 2022 fehlte im Entscheidungszeitpunkt der Nachweis des Bestehens der Aufgaben C und D; zur fehlenden Zuständigkeit für eine Erstattung der Gebühren für die Europäische Eignungsprüfung 2023 siehe D 1/16, Nr. 2.4 der Gründe; zum fehlenden Anspruch auf Offenlegung der Korrekturnotizen siehe D 3/03, Nr. 3 iv) bis 4 der Gründe) kann die Rückzahlung der Beschwerdegebühr auch in vollem Umfang angeordnet werden.
4.3 Dem steht auch nicht entgegen, dass der Antrag auf Vertagung der mündlichen Verhandlung abzulehnen war, da der Beschwerdeführer fristgemäß zur mündlichen Verhandlung vom 14. März 2023 geladen war und der Umstand, dass ihm die (nach der EVBD ohnehin nur fakultative) Mitteilung der Kammer erst am 16. Februar 2023 übersandt wurde, keinen Verlegungsgrund darstellt. Denn bei einer Gesamtbetrachtung scheint dieser Aspekt gegenüber den anderen Punkten, in denen der Beschwerdeführer mit seiner Beschwerde Erfolg hatte oder hinsichtlich derer er diese zurückgenommen hat, nicht so gewichtig, dass Billigkeitserwägungen eine nur teilweise Rückzahlung der Beschwerdegebühr geboten hätten.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Für die Prüfungsaufgabe A der Europäischen Eignungsprüfung 2022 des Beschwerdeführers wird die Gesamtnote "nicht bestanden mit Ausgleichsmöglichkeit" vergeben.
3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.