R 0019/12 (Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit) 25-04-2014
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Ablehnung des Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer im Überprüfungsverfahren wegen Besorgnis der Befangenheit
Definition der Besorgnis der Befangenheit - parteiobjektiver Maßstab - Kriterien
Fortbestehende Einbindung als Vizepräsident der GD3 auf Ebene der Amtsleitung - ja
Möglicher Interessenkonflikt mit Rechtsprechungsfunktion - ja
Gesamtwürdigung der Umstände - Besorgnis der Befangenheit - ja
I. Mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2012 beantragte die Antragstellerin die Überprüfung der Entscheidung T 2097/10 der Technischen Beschwerdekammer 3.2.04 vom 12. Juli 2012, mit der diese den Widerruf des Patents durch die Einspruchsabteilung aufgehoben und die Aufrechterhaltung des Patents der Antragstellerin in der Fassung des in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer eingereichten Hilfsantrags 3 angeordnet hatte.
Ihren Antrag auf Überprüfung stützte die Antragstellerin auf eine schwerwiegende Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör durch die technische Beschwerdekammer im Sinne von Artikel 112a (2) d) EPÜ. Die dafür gegebene Begründung der Antragstellerin lässt sich zum besseren Verständnis der Grundlagen der vorliegenden Entscheidung wie folgt zusammenfassen:
Bereits die Einspruchsabteilung habe der Antragstellerin in schwerwiegender Weise das rechtliche Gehör abgeschnitten. Die Einsprechende habe in Antwort auf einen Ladungsbescheid der Einspruchsabteilung, in dem das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit bejaht worden sei, einen Monat vor der mündlichen Verhandlung sowohl einen neuen Einspruchsgrund vorgetragen als auch eine große Zahl neuer Entgegenhaltungen eingereicht. Die Einspruchsabteilung habe den Antrag der Antragstellerin auf Vertagung abgelehnt, gleichwohl aber in der mündlichen Verhandlung sowohl den neuen Einspruchsgrund als auch nachgereichte Dokumente ins Verfahren zugelassen. Außerdem sei sie am Ende der mündlichen Verhandlung von einem Dokument als nächstliegendem Stand der Technik ausgegangen, das in diesem Zusammenhang im Verfahren bis dahin überhaupt nicht angesprochen worden sei. Sodann habe der Vorsitzende in der mündlichen Verhandlung durch abruptes Unterbrechen des Vertreters der Antragstellerin und sofortiges Beenden der Verhandlung der Antragstellerin die Möglichkeit genommen, diese neuen Einwände durch Verzicht auf die betroffenen Ansprüche auszuräumen. dies in dem offensichtlichen Bestreben, das Einspruchsverfahren ohne weitere Verzögerung abzuschließen. Der von der Beschwerdekammer im anschließenden Beschwerdeverfahren als patentfähig anerkannte unabhängige Anspruch sei in dem von der Einspruchsabteilung geprüften Hilfsantrag bereits enthalten gewesen.
Auch die Beschwerdekammer habe in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gebracht, die Kammern müssten mit ihrer Rechtsprechung darauf hinwirken, die Zahl der Beschwerden zu begrenzen. Die Beschwerdekammer habe es dann unterlassen, wesentlichen schriftlichen und mündlichen Sachvortrag zu den von der Antragstellerin gerügten schweren Verfahrensfehlern im Verfahren vor der Einspruchsabteilung zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen. Nur so habe sie zu ihrer Auffassung kommen können, dass dem Verfahren vor der Einspruchsabteilung kein wesentlicher Verfahrensmangel zugrunde liege. Wie die Entscheidung zeige, habe die Beschwerdekammer, statt die Verfahrensführung der Einspruchsabteilung nach Artikel 113 EPÜ zu überprüfen, sich in der Verantwortung gesehen, die Handlungsweise der Einspruchsabteilung gegenüber der Antragstellerin zu rechtfertigen, obwohl sie diese in ihrer Entscheidung als unglücklich bezeichnet habe.
Wie sich aus nationalen Verfassungen und internationalen Konventionen ergebe, z.B. dem deutschen Grundgesetz und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, aber auch aus Artikel 6 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie aus Artikel 47 Absatz 2 der Europäischen Grundrechte-Charta, sei das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehöres ein für ein rechtsstaatliches Verfahren schlechthin konstitutives Grundrecht. Das habe auch die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung R 8/11 anerkannt, ebenso, dass Artikel 113 EPÜ den Beteiligten einen Anspruch darauf gewährt, dass der jeweilige Spruchkörper einschlägiges Vorbringen zur Kenntnis nimmt, es in einer schriftlichen Entscheidung berücksichtigt und würdigt (R 17/11 vom 19. März 2012, R 8/11 vom 29. November 2011).
II. Außerdem lehnte die Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 14. Dezember 2012 den Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer wegen Besorgnis der Befangenheit nach Artikel 24 (3) EPÜ ab.
Diese Ablehnung begründete die Antragstellerin im Antrag auf Überprüfung und in weiteren Schriftsätzen vom 22. Juli 2013, vom 7. November 2013 und vom 26. Februar 2014 wie folgt:
Die Antragstellerin habe keinerlei Zweifel an der hohen juristischen Qualifikation und der persönlichen Integrität des Vorsitzenden. Auch habe er weder an der angefochtenen Beschwerdekammerentscheidung noch an der vorausgegangenen Entscheidung der Einspruchsabteilung mitgewirkt.
Ferner folge sie der Auffassung der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung R 12/09, dass die in Übereinstimmung mit dem EPÜ vorgenommene Besetzung der Großen Beschwerdekammer nicht per se die Besorgnis der Befangenheit ihrer Mitglieder begründen könne, auch wenn sie bezweifle, dass die Vorschriften des EPÜ, mit denen die Besetzung der Großen Beschwerdekammer geregelt werden, rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen. Sie verwies auf den Aufsatz von Zuck in GRUR Int. 2011,301.
Auch die Zustimmung der Großen Beschwerdekammer zur restriktiven Handhabung von Artikel 12 (4) VOBK durch die Beschwerdekammern, die auch kleinere Änderungen in den Anträgen schon dann zurückwiesen, wenn dies mit der Vorlage der Beschwerdebegründung geschehe, gebe Anlass zur Besorgnis der Befangenheit. Im Hinblick auf die zitierte Entscheidung R 12/09 der Großen Beschwerdekammer würde ein darauf gestützter Antrag aber wohl keine Aussicht auf Erfolg haben.
Im vorliegenden Fall sei über eine verfahrensfehlerhafte Entscheidung der Beschwerdekammer zu befinden. Diese habe ihren Ausgangspunkt aber in einem verfahrensfehlerhaft geführten Einspruchsverfahren, das Verwaltungshandeln sei. Die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer müsse sich bei der Prüfung der Relevanz der Verfahrensfehler der Beschwerdekammer in diesem Fall zwangsläufig mit den Verfahrensfehlern der Einspruchsabteilung auseinandersetzen. Damit müsse der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer auch über Verwaltungshandeln befinden, für das er in seiner früheren Funktion mitverantwortlich gewesen sei. Vor seinem Wechsel an die Spitze der Großen Beschwerdekammer sei er ein führender Mitarbeiter des EPA gewesen und habe als solcher Mitverantwortung für die Organisation der Verfahren und damit auch des dem Verfahren zugrunde liegenden Einspruchsverfahrens getragen. Aufgrund seiner früheren und jetzigen Einbindung in die Organisation des EPA werde er mit der Verantwortung für das vorliegende Verfahren in eine Konfliktsituation gebracht, über eine Angelegenheit zu entscheiden, in der die Organisation des EPA ganz offensichtlich versagt habe.
Als nunmehriger Vizepräsident der Generaldirektion 3 (Beschwerde) - "GD3" - sei der ersetzte Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer weiterhin in die Verwaltung des Europäischen Patentamtes eingebunden. So sei er auch Mitglied des Management Committees des Präsidenten (MAC). Verantwortung für das Verwaltungshandeln des Amtes trage er auch über seinen Vorsitz im Allgemeinen Beratenden Ausschuss des Amtes (ABA), der jedenfalls im Jahr 2012 bestanden habe. Es folge aus dem Prinzip der Gewaltenteilung, welches auch für das EPA verbindlich sei (G 3/08 vom 12. Mai 2010, Nr. 7.2.1), dass die Verwaltung ihre Arbeit rechtlich nicht selbst kontrollieren könne.
III. Mit Verfügung vom 3. Mai 2013 wurde der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer für die Entscheidung über den Befangenheitsantrag gemäß Artikel 24 (4), Satz 2 EPÜ durch seine Vertreterin als Vorsitzende ersetzt.
IV. Der ersetzte Vorsitzende wurde gemäß Artikel 4 (2) der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer (VOGBK) mit Schreiben vom 22. Mai 2013 gebeten, sich zu dem Ausschließungsgrund zu äußern. In einem weiteren Schreiben vom 16. November 2013 wurde ihm anheimgegeben, sich zu dem ergänzenden Vorbringen der Antragstellerin vom 7. November 2013 zu äußern.
V. Der ersetzte Vorsitzende äußerte sich wie folgt:
Seine angebliche Mitverantwortung für alle Verfahren im EPA sei irrelevant, da Gegenstand der Überprüfung nicht die Entscheidung der Einspruchsabteilung, sondern die Verfahrensaspekte bei der Bearbeitung der Beschwerde gegen diese Entscheidung durch eine Beschwerdekammer seien und deren Rechtspraxis zu überprüfen sei. Die Antragstellerin erkläre nicht, wie seine frühere Funktion zu einer Mitverantwortung für alle Verfahren des EPA, insbesondere der unabhängigen und nicht weisungsgebundenen Beschwerdekammern, geführt haben solle, noch wie sich aus seiner behaupteten Mitverantwortung eine Mitwirkung an allen diesen Verfahren ergeben sollte. Er sei zu keinem Zeitpunkt Mitglied einer Prüfungs- oder Einspruchsabteilung gewesen und habe keinen Einfluss auf die Art und Weise gehabt, wie die Abteilungen ihre Fälle im Einzelnen beurteilt hätten. Ihm sei auch kein anderer Grund bewusst, warum er an diesem konkreten Fall nicht beteiligt sein sollte.
Im Hinblick auf die Stellungnahme der Antragstellerin vom 7. November 2013, in der diese unter anderem auf die Mitwirkung des ersetzten Vorsitzenden in den Gremien MAC und ABA des Amtes hingewiesen hatte, stellte der ersetzte Vorsitzende die Zulässigkeit dieser vollkommen neuen Argumente fast elf Monate nach dem ursprünglichen Antrag infrage. Die vorgebrachte Begründung treffe auch nicht, weil das Überprüfungsverfahren, wie er bereits in seiner ersten Stellungnahme ausgeführt habe, die Beschwerdekammerentscheidung behandele und nicht das Verwaltungshandeln, die erstinstanzliche Entscheidung.
Die Gründe der Antragstellerin für die Besorgnis der Befangenheit
1. Zusammenfassend versteht die Große Beschwerdekammer die Ausführungen der Antragstellerin dahingehend, dass der ersetzte Vorsitzende aufgrund seiner früheren Tätigkeiten als Hauptdirektor und, zeitweise, amtierender Vizepräsident der Generaldirektion 5 (Recht) - "VP5" - und seiner als nunmehriger Vizepräsident der GD3 - "VP3" - weiterbestehenden Zugehörigkeit zur Führungsebene des Amtes in seiner Rechtsprechungsfunktion als Vorsitzender in Überprüfungsverfahren nach Artikel 112a EPÜ in eine Konfliktsituation geraten könne. Er könne voreingenommen sein, Verwaltungshandeln, etwa eine restriktive Verfahrenspraxis, für das er Mitverantwortung trug und wozu die anlassgebende Entscheidung der Einspruchsabteilung gehört, - mittelbar - zu sanktionieren. Er könne bestrebt sein darauf hinzuwirken, dass die Große Beschwerdekammer eine vom Antragsteller wahrgenommene restriktive Überprüfung erstinstanzlicher (Ermessens-)Entscheidungen durch die Beschwerdekammern billige.
2. Diese Besorgnis sieht die Antragstellerin verstärkt durch die Tatsache, dass der ersetzte Vorsitzende in seiner nunmehrigen Funktion als VP3 gemäß Artikel 10 (3), Satz 1 EPÜ weiterhin den Präsidenten zu unterstützen habe. Dass der ersetzte Vorsitzende als Vizepräsident der GD3 die mit seiner Einbindung in die Struktur der Verwaltungsinstanz verbundenen Aufgaben nach wie vor aktiv wahrnimmt, ergibt sich für die Antragstellerin auch aus seiner Teilnahme am Management Committee des Präsidenten (MAC) und dem Allgemeinen Beratenden Ausschuss des Amtes (ABA).
Rechtzeitigkeit der Ablehnung
3. Gemäß Artikel 24 (3), Satz 1 EPÜ können die Mitglieder der Großen Beschwerdekammer von jedem Beteiligten wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Die Ablehnung ist nicht zulässig, wenn der Beteiligte Verfahrenshandlungen vorgenommen hat, obwohl er bereits den Ablehnungsgrund kannte, Artikel 24 (3), Satz 2 EPÜ. Letzteres trifft hier nicht zu. Die Antragstellerin hat die Ablehnung zugleich mit Einlegung und Begründung des Überprüfungsantrages und damit rechtzeitig erklärt.
Zu berücksichtigende Umstände
4. Für die Frage, ob Besorgnis der Befangenheit gegeben ist, kommt es im allgemeinen in erster Linie auf die von der Partei geltend gemachten Gründe an, weil sie zuallererst zu entscheiden hat, ob sie in den Umständen, um die es geht, einen Grund für die Besorgnis sieht, der Richter werde ihren Fall möglicherweise nicht unvoreingenommen entscheiden. Das gilt für das Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer und den Beschwerdekammern jedoch nur bedingt.
5. Gemäß Artikel 4 (1) VOGBK (ebenso Artikel 3 (1) VOBK) ist das Verfahren nach Artikel 24 Absatz 4 EPÜ auch anzuwenden, wenn die Große Beschwerdekammer von einem möglichen Ausschließungsgrund auf andere Weise als von dem (betroffenen) Mitglied oder einem Beteiligten Kenntnis erhält. Die Große Kammer ist also in einem solchen Fall verpflichtet, von Amts wegen tätig zu werden. Die Bedeutung des Begriffs "Ausschließungsgrund" in Artikel 4 (1) VOGBK beschränkt sich nicht auf die Fälle des Artikels 24 (1) EPÜ, in denen ein Kammermitglied kraft Gesetzes von der Mitwirkung ausgeschlossen ist. Denn Absatz 4 des Artikel 24 EPÜ verweist auf die Absätze 2 (Selbstablehnung) und 3 (Ablehnung durch Beteiligte u.a. wegen Besorgnis der Befangenheit) zurück und nur in diesem Zusammenhang auch auf die Ausschließungsgründe gemäß Absatz 1. Die Formulierung in Artikel 4 (1) VOGBK "auf andere Weise ... Kenntnis erhält" ist völlig offen und schließt den Fall ein, dass die Kammer selbst Kenntnis von Umständen hat, die eine Besorgnis der Befangenheit begründen können. Daraus folgt, dass die Große Kammer bei der Entscheidung über einen Befangenheitsantrag alle ihr im Zeitpunkt der Entscheidung bekannten erheblichen Umstände berücksichtigen muss.
6. Deshalb ist es irrelevant, in welchem Stadium des Befangenheitsverfahrens die Antragstellerin ihren Hinweis auf die fortbestehende Einbindung des VP3 in die Verwaltung des Amtes durch seine Beteiligung an MAC und ABA, die dem Prinzip der Gewaltenteilung widerspreche, gegeben hat. Es kommt allein darauf an, ob es sich dabei um Umstände handelt, die für die geltend gemachte Besorgnis der Befangenheit eine Rolle spielen können. Darüber hinaus ist die Mitwirkung des ersetzten Vorsitzenden in seiner Funktion als VP3 an den genannten Gremien im Amt allgemein bekannt.
Definition des Begriffs Besorgnis der Befangenheit
7. Wie bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift hervorgeht, ist eine Ablehnung nach Artikel 24 (3) Satz 1 EPÜ nicht nur dann gerechtfertigt, wenn tatsächlich eine Befangenheit des betreffenden Kammermitglieds gegeben ist. Es reicht aus, dass eine Besorgnis, d.h. ein Anschein, der Befangenheit vorliegt. Gerichte müssen unter Ausschluss jeglicher Risiken gewährleisten, dass nicht nur gerecht entschieden wird, sondern dass dies für die Öffentlichkeit auch sichtbar wird. Hier steht das Vertrauen auf dem Spiel, das die Beschwerdekammern in der Öffentlichkeit genießen (G 1/05, ABl. EPA 2007, 362, Nr. 19 der Entscheidungsgründe, mit Nachweisen aus der internationalen und nationalen Rechtsprechung und der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zur Besorgnis der Befangenheit).
8. Die Auslegung der die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit betreffenden Vorschriften steht in dem Spannungsfeld, dass sich einerseits niemand seinem gesetzlichem Richter entziehen darf, er aber andererseits ein Grundrecht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht hat (Art. 6 Abs. 1 EMRK , Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechte-Charta), siehe dazu auch G 1/05, Nr. 8 und 9, 19 ff. der Entscheidungsgründe, G 2/08 vom 15. Juni 2009, Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe). Deshalb hat die Große Beschwerdekammer andererseits auch anerkannt, dass die "Besorgnis" des Beteiligten bei objektiver Betrachtung gerechtfertigt sein muss. Rein subjektive Eindrücke oder allgemeine Verdächtigungen sind nicht ausreichend. Der Standpunkt des Betroffenen ist wichtig, aber nicht entscheidend. Die Frage lautet, ob eine vernünftige, objektive und informierte Person angesichts der Sachlage mit gutem Grund befürchten würde, dass der Richter den Fall nicht unvoreingenommen behandelt hat oder behandeln wird. Ein vernünftiger Betrachter müsste unter Berücksichtigung der Umstände des Falles zu dem Schluss gelangen, dass der Beteiligte die Unbefangenheit des abgelehnten Mitglieds mit gutem Grund in Zweifel ziehen könnte (G 1/05, Nr. 20 der Entscheidungsgründe, mit Nachweisen).
9. Die Vorschriften des EPÜ über die Ausschließung und Ablehnung von Mitgliedern der Beschwerdekammern sind nationalen Prozessordnungen nachgebildet. In einigen Staaten ruhen diese Regelungen auf der Grundlage ihrer Verfassungen, die den Anspruch auf Rechtsschutzgewährung durch den gesetzlichen Richter, durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht als Grundrecht des Einzelnen normieren (z.B. Art. 30 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (CH), Art. 87 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (AT), Art. 19 Abs. 4, 97, 101 Abs. 1, Satz 2, 103 Abs. 1 Grundgesetz (DE)). In anderen Staaten, z.B. im Vereinigten Königreich, bildet Artikel 6 EMRK die übergeordnete Grundlage. Die Große Beschwerdekammer hat anerkannt, dass der Maßstab des Artikels 6 EMRK für die Verfahren vor den Beschwerdekammern verbindlich ist (G 1/05, Nr. 22 der Entscheidungsgründe, G 2/08, Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe), weil er auf Rechtsgrundsätzen beruht, die allen Mitgliedstaaten der Europäischen Patentorganisation gemeinsam sind und für alle ihre Organe gelten (G 2/08 aaO). Deshalb ist es gerechtfertigt, sowohl nationale Rechtsprechung als auch die des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - "EGMR" - ergänzend zur Auslegung des EPÜ heranzuziehen.
Beweislast
10. Die Beweislast dafür, dass Besorgnis der Befangenheit gegeben ist, liegt nach der Entscheidung G 2/08 (Nr. 1.2 der Entscheidungsgründe) bei der Partei, die diesen Einwand erhebt, da für die Mitglieder der Großen Beschwerdekammer a priori die Vermutung gelte, dass sie unparteiisch seien. Die Gültigkeit dieser Vermutung wird in ständiger Rechtsprechung des EGMR anerkannt, soweit die persönliche Unparteilichkeit des Richters betroffen ist (sogenannter subjektiver Test in der Rechtsprechung des EGMR, siehe z.B. Micallef v. Malta, Urteil vom 15. Oktober 2009, application no. 17056/06, Nr. 94 der Entscheidungsgründe). Die Antragstellerin hat betont, dass sie keinen Zweifel an der persönlichen Integrität des ersetzten Vorsitzenden habe. Auch sind die zu berücksichtigenden Tatsachen unstreitig. Deshalb stellt sich im vorliegenden Fall die Frage der Beweislast nicht. Es geht vielmehr allein um die Bewertung dieser Tatsachen im Hinblick auf die geltend gemachte Besorgnis der Befangenheit.
Kriterien der Befangenheit
11. Besorgnis der Befangenheit kann sich nicht nur aus in der Person des abgelehnten Richters oder aus in seinen persönlichen Beziehungen zu einer Partei liegenden Gründen ergeben, sondern auch aus der Ausübung von Tätigkeiten, die den Richter in Interessenkonflikte bringen können zwischen dieser Tätigkeit und den Pflichten, die sich aus der Ausübung seines Richteramtes ergeben. Auch die unvereinbare Natur der nebeneinander ausgeübten Tätigkeiten kann die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen. Das ist in der Rechtsprechung der Vertragsstaaten ebenso anerkannt wie die Notwendigkeit einer Prüfung im Einzelfall, ob die Umstände so sind, dass sie aus der Sicht des objektiven Betrachters Anlass zur Besorgnis geben, der Richter befinde sich in einem Interessenkonflikt, sodass er den Fall möglicherweise nicht unvoreingenommen entscheiden werde.
Nach nationaler Rechtsprechung kann etwa die Mitgliedschaft in Vereinen oder Interessengruppen wirtschaftlicher oder politischer Art je nach den Umständen des Einzelfalles Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen oder auch nicht (siehe dazu z.B. House of Lords, In re Pinochet [2000] 1 A. C. 119, sowie die in Baumbach/Lauterbach, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 72. Aufl., München 2014, Rdn. 14 ff. zu § 42 zitierten Beispiele, zu den Stichworten: "Arbeitgebervereinigung", "Parteizugehörigkeit", "Politische Äußerung oder Betätigung", "Religion", "Verein"; siehe auch Fasching/Konecny, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, 3. Aufl. Wien 2013, Rdn. 9 zu § 19, hier: Beteiligung an Gesellschaft oder Verein, Mitgliedschaft im Gemeinderat der klagenden oder beklagten Gemeinde).
12. Auch institutionelle Verflechtungen können die Besorgnis der Befangenheit eines Richters begründen. Das ist der sogenannte objektive Test in der Rechtsprechung des EGMR. Bei diesem Test geht es darum festzustellen, ob der Spruchkörper selbst, unter anderem seine Zusammensetzung, genügend Garantien bietet, um jeden legitimen Zweifel an seiner Unparteilichkeit auszuschließen. In den meisten, vom EGMR behandelten Fälle ging es um diesen objektiven Test. Während es in manchen Fällen schwierig sei, so der EGMR, Beweise beizubringen, die die Vermutung subjektiver Unparteilichkeit widerlegen, gewähre das Erfordernis objektiver Unparteilichkeit eine weitere wichtige Garantie. Der objektive Test betreffe meistens hierarchische oder andere Verbindungen zwischen dem Richter und anderen am Verfahren Mitwirkenden. Auch ein äußerer Anschein könne in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein. Denn es gehe um das Vertrauen, das die Öffentlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbar in die Gerichte haben können müsse. Deshalb müssten auch Fragen der internen Organisation des Gerichts berücksichtigt werden (Micallef, s.o. Nr. 10, Nr. 93-99 der Entscheidungsgründe).
12.1 Auch im Hinblick auf eine Vorbefassung des Richters mit der Sache, die nicht eine Mitwirkung an der angefochtenen Entscheidung selbst war, so dass der Richter nicht schon kraft Gesetzes von der Mitwirkung ausgeschlossen war, ist Besorgnis der Befangenheit unter bestimmten Umständen bejaht worden (siehe Baumbach/Lauterbach, Rdn. 24 zu § 42 a.E. (Justizverwaltung) und die dort genannten Beispiele).
12.2 Was institutionelle Verbindungen zwischen Verwaltungstätigkeiten und richterlicher Tätigkeit angeht, hat das (deutsche) Bundesverfassungsgericht (BVerfG NJW 1956, 137, II.2.c)) die Bedeutung betont, die in diesem Zusammenhang dem Gebot der Gewaltenteilung zukommt, wonach die Rechtsprechung durch "besondere", von den Organen der Gesetzgebung und der vollziehenden Gewalt verschiedene Organe des Staates auszuüben ist.
Wörtlich führt das BVerfG dazu aus:
"Allerdings fordert das GG keine vollständige Trennung von Verwaltung und Rspr [Rechtsprechung], lässt vielmehr gewisse Überschneidungen zu. So bestehen gegen eine nebenamtliche Betrauung des Richters mit Geschäften der Justizverwaltung, wie sie bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit hergebracht ist, auch unter der Herrschaft des GG [Grundgesetz DE] keine Bedenken.... Kommt aber bei der gesetzlich vorgesehenen grundsätzlichen Besetzung eines "Gerichts" mit persönlich abhängigen Beamten hinzu, dass diese als weisungsgebundene Beamte die gleiche Materie bearbeiten, über die sie als unabhängige Richter entscheiden sollen, so ist ein solches Gremium nicht mehr das von der Verfassung geforderte "besondere" Organ der Staatsgewalt. Der weisungsgebundene Beamte der beteiligten Verwaltung erscheint nach der Natur der Sache selbst als Partei. Er kann nicht durch den Satz, er sei als Richter nicht weisungsgebunden, aus einem Repräsentanten der Exekutive für einzelne Geschäfte in einen Repräsentanten der Rechtsprechung verwandelt werden. Bei solchem Ausmaß der Vermischung von Verwaltung und Rspr. ist das Prinzip der Gewaltenteilung im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG im Kern verletzt".
12.3 Artikel 28 Absatz2 c) der Verfahrensordnung des EGMR i.d.F. vom 1. Januar 2014 bestimmt noch weitergehend und ganz generell, dass ein Richter an der Prüfung einer Rechtssache nicht teilnehmen darf, wenn er als Richter ad hoc oder als ehemaliger gewählter Richter, der nach Artikel 26 Absatz 3 weiter tätig ist, eine politische oder administrative Tätigkeit (englische verbindliche Fassung: "any political or administrative activity") oder eine mit seiner Unabhängigkeit und Unparteilichkeit unvereinbare Tätigkeit aufnimmt. Das schließt eine administrative Tätigkeit (außerhalb der Gerichtsverwaltung selbst) während der Tätigkeit am EMRG als gewählter Richter erst recht aus.
13. Die zuvor beschriebenen Grundsätze betreffend Ausschließung und Ablehnung behandeln eine Vielzahl unterschiedlicher Sachverhalte, die sich kaum unmittelbar miteinander und mit dem vorliegend zu entscheidenden Fall vergleichen lassen. Ein gemeinsamer Ansatz lässt sich gleichwohl ausmachen:
13.1 Die Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung dienen der Aufrechterhaltung der erforderlichen Distanz des Richters als einem unbeteiligten und deshalb am Ausgang des Verfahrens uninteressierten "Dritten" - zu dem zu würdigenden Sachverhalt und den daran Beteiligten (Baumbach/Lauterbach, aaO, Übersicht § 41, Rdn. 2; BGH, NJW 2001, 1502, Nr. 3) und gegebenenfalls - auch der Instanz, dessen Entscheidung zu überprüfen ist. Diese Distanz verleiht dem Grundsatz der Gewährleistung von Rechtsschutz durch eine von der (Verwaltungs-) Vorinstanz unabhängige und mit dieser nicht verquickte Rechtsprechung Ausdruck.
13.2 Ein Abstandsgebot gilt infolgedessen in besonderem Maß, wenn es um die Distanz des Gerichts und seiner Richter zu der Verwaltungsinstanz geht, dessen Entscheidungen das Gericht zu überprüfen hat. Dieses Abstandsgebot geht weit über den Ausschluss des Richters von der Mitwirkung an Fällen hinaus, an deren Entscheidung in der Vorinstanz er mitgewirkt hat.
13.3 Dieser Ansatz liegt der Entscheidung R 12/09 vom 3. Dezember 2009 zugrunde. In dieser Entscheidung hat die Große Beschwerdekammer die Tatsache, dass die Mitglieder der Großen Beschwerdekammer für die Überprüfungsverfahren zuständig sind und zugleich in einer Technischen oder der Juristischen Beschwerdekammer tätig werden, nur deshalb nicht als möglichen Ausschließungs- oder Ablehnungsgrund (unter Artikel 24 EPÜ) für das Überprüfungsverfahren anerkannt, weil der Gesetzgeber diese Struktur bewusst so vorgesehen habe. Andernfalls, so hat die Große Kammer in Nr. 4 der Entscheidungsgründe klargestellt, hätte sie diese Tatsache als einen Grund für die Ausschließung oder Ablehnung anerkennen müssen.
13.4 Der Wechsel in zeitlicher Abfolge zwischen Berufstätigkeiten verschiedener Art ist auf dem Gebiet der Rechtsanwendung international und national vielfach üblich. Die Rechtssysteme sind in diesem Bereich im Einzelnen recht verschieden. Gemeinsam ist ihnen aber, dass Wechsel, z.B. von einer anwaltlichen Tätigkeit oder einer Verwaltungstätigkeit in eine richterliche Tätigkeit als zulässig angesehen und praktiziert werden. Es entspricht auch nationalen Rechtstraditionen, und gilt grundsätzlich auch für Richterämter, die keine Einstiegsposten sind, sondern sich am oberen Ende der richterlichen Karriereleiter befinden. Von einem Richter wird erwartet, dass er sich von seinem früheren Berufsbild löst und seine neue Aufgabe entsprechend dem richterlichen Pflichtenbild und Berufsethos ausübt. Deshalb ist nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer die Tatsache, dass ein hochrangiger Richter - wie etwa der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer - zuvor bereits eine hohe Position in einer Verwaltungshierarchie eingenommen hat, kein hinreichender Grund, der für sich allein eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt.
Fortbestehende Einbindung des VP3 in die Verwaltung des Amtes
14. Der vorliegende Fall ist jedoch anders gelagert als die aus dem nationalen und internationalen Umfeld bekannten Fälle.
14.1 Die GD3 und damit auch die Große Beschwerdekammer sind organisatorisch Teil des Amtes (siehe dazu unten). Bei dem Wechsel des früheren Hauptdirektors, bzw. zeitweise, amtierenden VP5 zum VP3 und gleichzeitig zum Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer handelt es sich nicht um den Wechsel eines hohen Verwaltungsbeamten zu einem von der früheren Verwaltungsbehörde getrennten Gericht, bei welchem sich der Ernannte vollständig aus seiner früheren Einbindung in die Verwaltung gelöst hätte. Vielmehr bleibt der zum Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer und zugleich zum VP3 Ernannte in seiner Funktion als Vizepräsident Teil der Verwaltungshierarchie des Amtes. Er bleibt gemäß Artikel 10 (2) f) EPÜ den Weisungen des Amtspräsidenten als seinem unmittelbaren Dienstvorgesetzten unterworfen. Gemäß Artikel 10 (3) EPÜ wird der Präsident des Amtes von den Vizepräsidenten unterstützt. Diese Vorschrift verpflichtet die Vizepräsidenten, im Rahmen des nach dem EPÜ erlaubten Präsidentenhandelns aktiv an der Verwirklichung der vom Präsidenten vorgegebenen Ziele mitzuwirken, auch in Bezug auf die Generaldirektion, die sie als Vizepräsident führen. Sie sind in erster Linie die unmittelbaren Führungskräfte, die den Präsidenten in allen seinen Aufgaben und den von ihm getroffenen Entscheidungen zu unterstützen haben (Braendli in Münchner Kommentar zu Art. 10 EPÜ, Rdn 45).
14.2 Der Grad der Selbständigkeit der Vizepräsidenten ergibt sich aus der Intensität, mit der der Präsident von seinen Weisungs- und Kontrollbefugnissen ihnen gegenüber Gebrauch macht (Braendli, aaO, Rdn. 46) oder er sie sonst zu Unterstützung bei der Führung des Amtes heranzieht. Letzteres ist in Form des MAC institutionalisiert, einem vom Amtspräsidenten im Interesse einer kollegialen Amtsführung eingesetzten Führungsorgan, dem u.a. alle Vizepräsidenten angehören. Der MAC dient der Vorbereitung wichtiger Entscheidungen des Präsidenten, schränkt aber die ihm gemäß Artikel 10 EPÜ zustehenden Entscheidungsbefugnisse rechtlich nicht ein (vergl. Braendli, aaO, Rdn. 47). Gemäß dem Anhang "Führungsstrukturen des EPA - Mandat des Direktoriums des EPA (MAC)" zum Communiqué Nr. 14 des Präsidenten vom 4.8.2006 hat der MAC als "Hilfsorgan des Präsidenten" u.a. folgende Aufgaben: "Unterstützung des Präsidenten bei der Ausübung seiner im EPÜ und insbesondere in dessen Artikel 10 festgelegten Aufgaben, Unterstützung des Präsidenten bei der Festlegung von strategischen, politischen und praktischen Maßnahmen, die die Tätigkeit, die Leistung oder den Ruf des EPA wesentlich beeinflussen könnten".
14.3 Der ABA, ein paritätisch aus vom Präsidenten und vom Personalausschuss bestellten Vertretern zusammengesetztes Gremium hat eine insofern vergleichbare Funktion, als er im Wesentlichen die Aufgabe hat, dem Präsidenten begründete Stellungnahmen zu (Änderungen von) für das Personal relevanten Regelungen und Maßnahmen, aber auch zu allgemeinen, vom Präsidenten vorgelegten Fragen abzugeben (Art. 38 (3) Statut der Beamten des EPA in der vor dem 1.4.2014 gültigen Fassung). Gemäß der seitdem gültigen Fassung müssen die Mitglieder des Ausschusses - nunmehr "Allgemeiner Konsultativer Ausschuss" unter Vorsitz des Präsidenten - nach Konsultation für oder gegen jede geplante Maßnahme stimmen oder sich enthalten. Seit Anfang 2012 nehmen die Vizepräsidenten am ABA als Vertreter der Amtsleitung, d.h. des Präsidenten teil. Das wird in dem vom Präsidenten kürzlich dem Verwaltungsrat unterbreiteten Dokument CA/4/14 vom 10.3.2014 ausdrücklich bestätigt. Dort wird unter Ziffer 16 ausgeführt, dass die Amtsleitung (d.h. der Präsident) im ABA durch Vizepräsidenten (und Hauptdirektoren) vertreten werde. Daraus folgt, dass die Vizepräsidenten wie die sonstigen Amtsvertreter des höheren Managements im ABA gemäß Artikel 10 (2) f) EPÜ den Weisungen des Präsidenten zu ihrem Meinungs- und Abstimmungsverhalten unterliegen.
15. Das gilt auch für den VP3. Er ist dort wie alle Vizepräsidenten als vom Präsidenten für die Amtsseite benannter Vertreter tätig und ist ebenso an Weisungen des Präsidenten gebunden. Deshalb kann der VP3 im ABA in die Situation geraten, dass er weisungsgemäß Regelungen zustimmen muss, die auf das Personal generell und damit unterschiedslos auch auf Beschwerdekammermitglieder anwendbar sind, die aber mit der institutionellen und personalrechtlichen Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit der Beschwerdekammermitglieder, unvereinbar sein könnten. Unter diesem Gesichtspunkt sind neuerdings etwa die "Richtlinien für Ermittlungen im EPA" (Rundschreiben 342 des Präsidenten vom 30.11.2012) in die Diskussion geraten.
16. Zwar ist der VP3 als Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer für deren Entscheidungen der Weisungsgewalt des Präsidenten entzogen (Art. 23 (3) EPÜ). Auch legt Artikel 1 (4) Beamtenstatut fest, dass das Beamtenstatut für Mitglieder der Beschwerdekammern nur gültig ist "soweit ihre Unabhängigkeit dadurch nicht beeinträchtigt ist"; siehe auch Artikel 15 (2) Beamtenstatut über die besonderen Pflichten der Mitglieder der Kammern: sie "haben sich innerhalb und außerhalb ihres [Richter-]Amts so zu verhalten, dass das Vertrauen in ihre Unabhängigkeit nicht gefährdet wird". Eine scharfe Grenze ist damit jedoch nicht gezogen - und lässt sich auch nicht ziehen. Zwar beschränken sich die Pflichten des VP3 in seiner richterlichen Funktion als Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer jedenfalls nicht darauf, mit Artikel 23 (3) EPÜ unvereinbare Weisungen abzulehnen, sondern es ergeben sich daraus auch Beschränkungen seiner Unterstützungspflicht, auf die er sich konkret berufen könnte. Diese sind aber nicht normativ klar bestimmt.
Möglicher Interessenkonflikt des VP3 mit seiner Leitungsverantwortung für die Beschwerdekammern und als Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer
17.1 Der VP3 kann sich mit widersprechenden Anforderungen konfrontiert sehen. Einerseits hat er als dem Präsidenten unterstellter Vizepräsident dessen Leitungs- und Leistungsziele und gegebenenfalls Weisungen auch für den Bereich der in der GD3 zusammengefassten Beschwerdekammern zu verwirklichen; andererseits hat er in seiner Leitungsverantwortung für die Beschwerdekammern allgemein dafür zu sorgen, dass diese frei bleiben von Einflussmaßnahmen oder versuchen des Präsidenten und seiner Verwaltungshierarchie , die die im EPÜ garantierte richterliche Unabhängigkeit der Beschwerdekammermitglieder beeinträchtigen könnten. Erst recht hat er sich selbst in Ausübung seiner richterlichen Tätigkeit von solchen Einflüssen frei zu halten.
17.2 In dieser Lage ist nicht von vornherein auszuschließen, dass der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer, wenn er sich bestimmten Weisungen des Amtspräsidenten, z.B. betreffend zu erreichende Effizienzziele, gegenüber sieht, in einen Interessenkonflikt geraten könnte, was seine Verpflichtung anbelangt, als Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer an der Entwicklung einer Rechtsprechung mitzuwirken, die das Überprüfungsverfahren in dem durch das EPÜ gesetzten Rahmen zu einem effektiven Rechtsschutzinstrument für die Parteien macht, wie es die Antragstellerin für das Überprüfungsverfahren formuliert hat. Das ist die von der Antragstellerin als "Konfliktsituation" bezeichnete Lage, in der sich der ersetzte Vorsitzende aufgrund seiner Doppelfunktion befindet.
17.3 Eine Verbindung zwischen der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer zum Überprüfungsverfahren nach Artikel 112a EPÜ und der Verfolgung von Effizienzzielen des Beschwerdeverfahrens ist auch durchaus konkret gegeben. Je einschränkender die Große Beschwerdekammer ihre Kriterien für die Überprüfung von Beschwerdeverfahren definiert, z.B. was die Anforderungen an die Wahrung des rechtlichen Gehöres durch die Beschwerdekammern angeht, etwa im Zusammenhang mit der Zulassung von weiterem Vorbringen, umso straffer können die Beschwerdekammern ihre Verfahren gestalten, ohne eine Aufhebung ihrer Entscheidungen in eventuellen, späteren Überprüfungsverfahren gewärtigen zu müssen.
Billigt die Große Beschwerdekammer eine unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs restriktive Überprüfung erstinstanzlicher (Ermessens-)Entscheidungen durch die Technischen Beschwerdekammern, so gibt dies den Prüfungs- und vor allem den Einspruchsabteilungen einen breiteren Spielraum, die Verfahren vor ihnen an vorgegebenen oder angestrebten "Effizienz"- oder "Produktivitäts"-Zielen auszurichten, z.B. durch Ausschluss von späterem Vorbringen oder Anträgen oder generell durch eine restriktive Praxis die Anhörung der Parteien betreffend.
Das ist der Zusammenhang, den die Antragstellerin durchaus mit Bezug auf das ihrem Überprüfungsverfahren zugrunde liegende Beschwerdeverfahren geltend macht, in welchem sie gerade derartige Vorgehensweisen der Einspruchsabteilung und nachfolgend der Beschwerdekammer als Verletzungen ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör gerügt hat.
17.4 Das Ausmaß möglicher Interessenkonflikte zwischen der Weisungsgebundenheit und der Unterstützungspflicht des VP3 gegenüber dem Amtspräsidenten, einerseits, und andererseits seiner Rechtsprechungsfunktion als Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer, in der er, wenn auch im Kollegium, so doch als primus inter pares gestaltend auf die Verfahrensführung durch die Beschwerdekammern einwirken kann, ist durch die Einführung des Überprüfungsverfahrens im EPÜ 2000 deutlich gestiegen. Zuvor war die Große Beschwerdekammer "nur" für die Behandlung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung zuständig, deren Beantwortung zwar durchaus patentpolitische und in Einzelfällen auch eine mehr allgemeine politische Bedeutung haben konnte. Nunmehr überprüft sie auf Antrag eines Beteiligten auch einzelne Beschwerdeverfahren auf bestimmte Verfahrensfehler und gestaltet damit die Verfahrenspraxis der Beschwerdekammern (vorwiegend hinsichtlich der Gewährung des rechtlichen Gehörs) mit. Darüber hinaus können sich mögliche Interessenkonflikte auch aus Zielsetzungen von rechtspolitischer oder auch politischer Bedeutung ergeben, die ein Amtspräsident legitimer Weise verfolgen kann, die jedoch nicht für die Entscheidungspraxis der Großen Beschwerdekammer maßgebend sein dürfen.
17.5 Zwar entscheidet die Große Beschwerdekammer in allen Verfahren, gleich ob in der Besetzung mit 3, 5 oder 7 Mitgliedern, mit Stimmenmehrheit. Eine ausschlaggebende Wirkung ("casting vote") hat die Meinung des Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer zur Beurteilung des zu entscheidenden Falles daher nicht als solche. Tatsächlich hat der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer gerade in Überprüfungsverfahren eine herausgehobene Rolle und gesteigerte Einflussmöglichkeiten aufgrund der Tatsache, dass er regelmäßig den Vorsitz wahrnimmt, während die Mitglieder von Fall zu Fall wechseln, weil sie alternierend in der Reihenfolge einer im Geschäftsverteilungsplan aufgestellten Liste zu den einzelnen Fällen herangezogen werden. Die Aufgabe, in den wechselnden Besetzungen die Einheitlichkeit der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer durch Anwendung einheitlicher Überprüfungskriterien zu sichern, kommt in einem solchen System vornehmlich dem Vorsitzenden zu. Allein maßgeblich ist aber letztlich, ob die Willensbildung des von einem Befangenheitsantrag betroffenen Mitglieds eines Spruchkörpers von Voreingenommenheit beeinflusst sein könnte.
Die Entscheidung R 12/09
17.6 Das EPÜ schreibt nicht vor, dass die Aufgabe des Vorsitzes in der Großen Beschwerdekammer vom Vizepräsidenten der GD3 wahrzunehmen ist. Es handelt sich dabei lediglich um eine langjährige, nur einmal unterbrochene Übung. Übung allein kann diese Ämterverbindung jedoch nicht zu einem Gewohnheitsrecht erstarken lassen, insbesondere dann nicht, wenn im Lauf der Zeit Entwicklungen eingetreten sind, die diese Ämterverbindung in einem anderen Licht erscheinen lassen (s.o. Nr. 17.3 f. und unten Nr. 20 ff.).
17.7 Das gilt auch für die Mitwirkung des ersetzten Vorsitzenden als VP3 im MAC und im ABA. Grund für seine Mitwirkung in diesen Gremien ist nicht eine normierte Verpflichtung, die Belange der organisatorisch in der GD3 zusammengefassten Beschwerdekammern in sachlicher und personeller Hinsicht (i.S. der "Justizverwaltung") auf diesem Weg zu wahren. Dies gilt vor allem für den ABA, einem Gremium des Amtes, an dem die Vizepräsidenten und damit auch der VP3 bisher nicht beteiligt waren. Berichte über MAC-Sitzungen unter Teilnahme des vorigen VP3 enthielten regelmäßig den Hinweis "With due consideration for the independence of VP3" siehe etwa "Communiqué from the MAC, 135th meeting, Munich, 12 December 2005". Ein solcher Vorbehalt existiert für die Mitwirkung des gegenwärtigen VP3 nicht mehr.
17.8 Da weder die Personalunion VP3/Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer noch die Teilnahme des VP3 an den Ausschüssen MAC und ABA des Amtes normativ vorgegeben sind, ist eine der Entscheidung R 12/09 vergleichbare Rechtslage im vorliegenden Fall nicht gegeben (s. o. Nr. 13.3). Es sei aber darauf hingewiesen, dass Artikel 6 EMRK, dessen Verbindlichkeit für die EPO die Große Beschwerdekammer anerkannt hat (s.o. Nr. 9), jedenfalls höher steht als das nationale Recht. So hat der EGMR in seinem Urteil in Sachen Micallef die Besorgnis der Befangenheit eines Richters als gerechtfertigt anerkannt, obwohl das nationale Recht den geltend gemachten Grund gerade nicht als Ausschließungsgrund normiert habe. Da dieses Recht Defizite aufgewiesen habe und keine adäquaten Garantien der subjektiven und objektiven Unparteilichkeit vorgesehen habe, habe die Zusammensetzung des Gerichts den Standard der Konvention nicht erfüllt (aaO, s.o. Nr. 10, Nr. 100 ff. der Entscheidungsgründe).
Problematik der Einbindung des Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer in die Verwaltung des Amtes
18. Dass der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer u. U. zumindest mittelbar über "Leitentscheidungen" des Präsidenten befinden müsse, an denen er als Vizepräsident mitgewirkt habe, ist neuerdings wieder als eines der Elemente in der Organisationstruktur der Beschwerdekammern gerügt worden, die durchgreifende Zweifel daran aufkommen ließen, ob die Beschwerdekammern eine echte Gerichtsqualität aufweisen (siehe z.B. von der Antragstellerin zitiert - Zuck, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts wegen Verletzung des rechtlichen Gehöres, GRUR Int. 2011, 302, der weitere organisationsrechtliche Defizite erörtert). Eine Rüge dieser Art ist auch in der gegen die Entscheidung R 2/12 der Großen Beschwerdekammer vom 17. Oktober 2012 erhobenen Verfassungsbeschwerde vorgetragen worden (Schriftsatz vom 25. Februar 2013, S. 44 f., D.III. 4.d. - Abschrift in der Akte des abgeschlossenen Verfahrens R 2/12). Auch in der parallel zum Überprüfungsantrag R 8/13 eingereichten Verfassungsbeschwerde vom 5. April 2013 und einem dieser beigegebenen Gutachten des Richters am Bundesverfassungsgericht a.D. Broß wird diese Ansicht vertreten (S. 13f. - B.I.4.).
19. Nun hat die Große Beschwerdekammer in ihrer Stellungnahme G 3/08 die Europäische Patentorganisation als eine einer modernen staatlichen Ordnung nachempfundene, auf dem Gewaltenteilungsprinzip beruhende Organisation bezeichnet, in der das EPÜ dem Amt die Exekutivgewalt, dem Verwaltungsrat ein auf nachgeordnete Normen beschränktes Legislativrecht und den Beschwerdekammern trotz ihrer strukturellen Integration in das Amt die Rolle einer unabhängigen Gerichtsbarkeit zugewiesen hat (ABl. EPA 2011, 10, Nr. 7.2.1 der Entscheidungsgründe). Dem wird man, was die Absicht des Gesetzgebers bei der Schaffung des EPÜ angeht, auch ohne weiteres zustimmen können. Gleichwohl lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die organisatorische und räumliche, mit der Doppelfunktion des VP3 auch personelle Verbindung der Beschwerdekammern mit dem Amt durchaus ein gewisses rechtsstaatliches Defizit aufweist im Vergleich mit den Anforderungen, die Rechtssysteme demokratisch verfasster Staaten an den Status stellen, der Gerichten und ihren Richtern zugestanden werden muss, um das Grundrecht der Bürger auf effektiven Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Exekutive durch von dieser unabhängige Gerichte zu gewährleisten.
20. Schon 1997 wurde dem Verwaltungsrat der Bericht einer vom seinerzeitigen Amtspräsidenten eingesetzten, aus hochrangigen nationalen Richtern, dem damaligen VP3 und Beschwerdekammermitgliedern bestehenden Arbeitsgruppe "Generaldirektion 3 des Europäischen Patentamts" unter der Leitung der damaligen Präsidentin des Bundespatentgerichts, vorgelegt (sogenannter "Sedemund-Treiber Bericht"). In diesem Bericht - bevor es die Überprüfungsverfahren gab - wurde es als wichtig bezeichnet, die richterliche Funktion des VP3 als Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer zu betonen und auch nach außen deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Der Bericht führt dazu aus: "Nach Auffassung der Arbeitsgruppe sollte deshalb der Vizepräsident der Generaldirektion 3 möglichst von allgemeinen Verwaltungsaufgaben, die nicht die Generaldirektion 3 betreffen, freigestellt werden ... Der VP3 sollte [darüber hinaus] nicht verpflichtet sein, an Managementsitzungen des Amts teilzunehmen, soweit nicht spezifische Angelegenheiten der Generaldirektion 3 erörtert werden. Es wurde für wünschenswert gehalten, dass der Präsident des Amts im Rahmen des EPÜ schrittweise seine Organisations- und Leitungsbefugnisse gegenüber der Generaldirektion 3 nach Artikel 10 EPÜ an den Vizepräsidenten der Generaldirektion 3 delegiert" (CA/84/97, Nr. 55 und 56). Das ist nicht geschehen. Allerdings hat sich der damalige VP3 in der Folge am MAC nur unter Vorbehalt beteiligt (Nr. 17.7, oben); eine Mitwirkung des VP3 im ABA gab es damals noch nicht.
21. Im Jahr 2004 wurde dem Verwaltungsrat ein vollständig ausgearbeiteter Entwurf eines Basisvorschlags für eine Revision des EPÜ zur Umsetzung der organisatorischen Verselbständigung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts im Rahmen der Europäischen Patentorganisation vorgelegt (CA/46/04). Sie würde den Beschwerdekammern unter Leitung eines Gerichtspräsidenten die Stellung eines dritten Organs der Europäischen Patentorganisation neben dem Europäischen Patentamt und dem Verwaltungsrat verleihen und damit dem Gerichtspräsidenten, der auch Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer sein sollte, eine vom Amt und dessen Präsidenten unabhängige Stellung einräumen. Der Verwaltungsrat war in seiner Sitzung im Juni 2004 der Meinung, dass das Projekt reif für eine Diplomatische Konferenz sei und auf die Tagesordnung einer solchen Konferenz gestellt werden sollte (CA/85/04, Nr. 68). Auch dazu ist es bis heute nicht gekommen.
22. Zwar haben sowohl die nationalen Gerichte als auch der EGMR in der Vergangenheit anerkannt, dass das Rechtsschutzsystem des EPÜ als solches den Vorgaben der EMRK als auch den an die Gerichtsqualität der Beschwerdekammern zu stellenden Anforderungen genügt (Nachweise bei Teschemacher in Singer/Stauder, Europäisches Patentübereinkommen, 6. Aufl. Köln 2013, Vor Art. 21-24, Rdn. 1 und 5). Wie aber die oben (Nr. 18) genannten Verfassungsbeschwerden und die dazu angeführte Literaturstelle beispielhaft zeigen, werden diese früheren gerichtlichen Feststellungen von durchaus beachtlichen Stimmen nicht (mehr) akzeptiert (Teschemacher aaO, mit weiteren Nachweisen in FN 10). Sie machen geltend, die früheren Entscheidungen des (deutschen) Bundesverfassungsgerichts hätten sich nur auf den Grundsatz des rechtlichen Gehöres in Artikel 113 EPÜ und die in Artikel 23 (3) EPÜ verankerte Unabhängigkeit der Mitglieder der Beschwerdekammern bei ihren Entscheidungen gestützt. Die institutionellen Aspekte, die sich aus der Eingliederung der Beschwerdekammern in das Amt ergeben, seien bisher mangels Vortrag dazu nicht berücksichtigt worden. Auch die Generalanwältin des EUGH Juliane Kokott hat in ihrer Stellungnahme 1/09 zu dem Verfahren vor dem EuGH betreffend den Entwurf einer Vereinbarung über die Schaffung eines Europäischen Patentgerichts kritisch ausgeführt, gegenwärtig könnten die Entscheidungen des EPA nur von den "internen Kammern des Amtes" überprüft werden. Eine gerichtliche Anfechtung/Beschwerde vor einem externen Gericht sei ausgeschlossen (Nr. 71 der Stellungnahme).
Auswirkungen für die Bestimmung, ob Befangenheit zu besorgen ist
23. Für die hier zu beantwortende Frage, ob die Mitwirkung des Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer an den genannten Leitungsgremien des Amtes aus der Sicht eines objektiven Betrachters bei einer Partei die Besorgnis von Befangenheit aufkommen lassen kann, können die zuvor beschriebenen Reformvorschläge und Stellungnahmen zur gebotenen Organisationsstruktur einer gerichtlichen Instanz nicht außer Acht gelassen werden. Sie sind Ausdruck eines geschärften Bewusstseins und strengerer Auffassungen dazu, welche Anforderungen zu stellen sind, um dem Grundrecht der Parteien auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht Rechnung zu tragen.
Als Ergebnis sich wandelnder Anschauungen kann eine den Wertvorstellungen der Zeit entsprechende Auslegung von Rechtsbegriffen gefordert sein. Diese dynamische Auslegung ist als Auslegungsmethode auch in der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer anerkannt (siehe z.B. G 3/98, ABl. EPA 2001, 62, Nr. 2.5 der Entscheidungsgründe). Das Recht ist nicht etwas Statisches, sondern entwickelt sich mit der Veränderung der Lebensverhältnisse und dem Wandel der Anschauungen fort. Das gilt insbesondere, wenn es um die Bestimmung des Inhalts von unbestimmten Rechtsbegriffen geht, wie es der Begriff "Besorgnis der Befangenheit" ist, dessen Bedeutung sich nur aus den geltenden Wertvorstellungen über die Rolle des Richters in einer rechtsstaatlichen Ordnung bestimmen lässt.
Dazu hat das House of Lords in seinem Urteil Lawal v. Northern Spirit Ltd unter Verweis auf verschiedene andere Urteile mit Bezug auf mögliche Befangenheit ausgeführt (House of Lords, [2003] I.C.R. 856, para. 22):
Im Hinblick auf die Anforderungen an die Garantie der Unparteilichkeit des Richters in einem Gerichtssystem kann eine im Lauf der Zeit eintretende gesteigerte Sensibilität der Öffentlichkeit nicht außer Betracht bleiben. Dies kann dazu führen, dass auch das, was als Rechtstradition oder Kultur einer Gerichtsbarkeit angesehen wird, heute kritisch betrachtet wird. Das unabdingbare Erfordernis des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Gerichtsbarkeit verlangt heute höhere Standards als dies ein oder mehrere Jahrzehnte zuvor der Fall war. Was vor vielen Jahren akzeptabel war, ist es nicht notwendigerweise auch noch heute.
Dem ist zuzustimmen.
24. Daraus folgt nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer:
24.1 Wenn schon die nach der gegenwärtigen Ausgestaltung des EPÜ nicht änderbaren strukturellen Schwächen der Organisation der Beschwerdekammern mit ihrer Eingliederung in das Amt trotz der bestehenden Bedenken hingenommen werden müssen, so erscheint es umso mehr geboten, die Leitung der in das Amt eingebetteten gerichtlichen Institution soweit als irgend möglich von der aktiven Mitwirkung an Leitungsgremien des Amtes, insbesondere des Präsidenten, zu entbinden, um den Eindruck einer Verquickung der gerichtlichen Instanz mit dem Amtshandeln oder einer Mitwirkung an der Verwirklichung von Amtsinteressen und - zielen so weit als möglich zu vermeiden. In dieser Hinsicht ist jedoch mit der Mitwirkung des VP3 im ABA und seiner vorbehaltslosen Mitwirkung im MAC eher ein gegenläufiger Trend zu beobachten.
24.2 Angesichts dieser Einbindung des Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer in die Verwaltung des Amtes auf Leitungsebene kann die Besorgnis der Antragstellerin, der ersetzte Vorsitzende könne sich möglicherweise in seiner Rechtsprechungstätigkeit von durch seine Mitwirkung an Leitungsentscheidungen des Amtes bedingten Zwängen und Einflüssen nicht völlig lösen, nicht als rein subjektiver Eindruck oder bloße allgemeine Verdächtigung angesehen werden. Vielmehr kann eine vernünftige, objektive und informierte Person durchaus mit gutem Grund befürchten, der Vorsitzende könne seine richterliche Funktion möglicherweise nicht unbeeinflusst von Vorgaben ausüben, die an ihn als VP3, insbesondere im Rahmen seiner Mitwirkung in den genannten Gremien, herangetragen werden. Dazu trägt auch bei, dass der gegenwärtige VP3 bereits vor seiner Berufung in die GD3 an höchster Stelle in der Verwaltung gegenüber dem Präsidenten die Pflichtenstellung eingenommen hat, der er in seiner nunmehrigen Funktion als VP3 weiterhin unterliegt.
24.3 Es ist für die vorliegend zu treffende Entscheidung nicht maßgebend, ob der ersetzte Vorsitzende tatsächlich befangen ist, und ob seine weiterbestehende Einbindung in das Verwaltungshandeln ihm subjektiv zugerechnet werden kann. Es ist auch nicht maßgebend, ob die Große Kammer in der vorliegenden Besetzung den ersetzten Vorsitzenden für befangen hält. Maßgeblich ist, ob ein vernünftiger, objektiver und informierter Betrachter unter Berücksichtigung der Umstände des Falles zu dem Schluss gelangen würde, dass der Beteiligte die Unbefangenheit des abgelehnten Mitglieds mit gutem Grund in Zweifel ziehen könnte (s.o. Nr. 8).
24.4 Dies kann aus den erörterten Gründen nicht verneint werden.
Entscheidungsgründe
AUS DIESEN GRÜNDEN WIRD ENTSCHIEDEN:
1. Die Ablehnung des ersetzten Vorsitzenden, N.N., wegen Besorgnis der Befangenheit ist begründet.
2. N.N. wird durch Frau Günzel ersetzt.