R 0014/21 (Antrag auf Überprüfung - rechtliches Gehör) 24-05-2023
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Käfig für ein Wälzlager
Antrag auf Überprüfung - offensichtlich unbegründet
Antrag auf Überprüfung - schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs (nein)
I. Die Antragstellerin (Einsprechende und Beschwerdeführerin 2) hat einen Antrag auf Überprüfung der Entscheidung T 1772/17-3.2.08 vom 8. Juli 2021 gemäß Artikel 112a EPÜ gestellt und begründet. In dieser Entscheidung wurde der Beschwerde der Antragstellerin nicht stattgegeben. Der Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin 1) gegen eine Aufrechterhaltung des europäischen Patents Nr. 1408248 in geänderter Fassung wurde hingegen stattgegeben und der Einspruch gegen das Patent zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin macht geltend, dass die schriftliche Entscheidung auf Gründe gestützt ist, zu denen sie sich nicht äußern konnte (Artikel 112a c) EPÜ i.V.m. Artikel 113 (1) EPÜ).
Das Verfahren vor der Beschwerdekammer
III. Die Erfindung betrifft einen Kunststoffkäfig für ein Wälzlager. Der Käfig besteht aus mehreren aneinandergereihten Segmenten mit einem Zwischenraum zwischen den Segmenten. Ein Kernmerkmal der Erfindung ist die Dimensionierung des Zwischenraums, das in der zu überprüfenden Entscheidung als Merkmal 5 genannt ist (s. Punkt IV der Entscheidung).
IV. Das Merkmal 5 war bereits Gegenstand der schriftlichen Entscheidung der Einspruchsabteilung. Diese enthält die Feststellung, dass Merkmal 5 zwar explizit nicht offenbart sei, aber im Lichte der Gesamtoffenbarung von E6 für den Fachmann implizit offenbart oder zumindest naheliegend sei (die Feststellungen der Einspruchsabteilung sind in dieser Hinsicht nicht ganz eindeutig; s. Punkte 14.6, 14.11 und 14.12 der Entscheidung vom 14. Juni 2017). Zu dieser Feststellung nahmen beide Parteien Stellung und die Offenbarung in E6 oder ein Naheliegen des Merkmals 5 wurde sowohl von der Patentinhaberin als auch von der Antragstellerin/ Einsprechenden in ihren jeweiligen Beschwerden erörtert.
V. Die Patentinhaberin hat folgende Argumente explizit vorgetragen (Punkt 5.1 der Beschwerdeschrift vom 16. Oktober 2017): Selbst wenn angenommen werde, dass der Fachmann einen Zwischenraum in E6 als offenbart oder naheliegend ansähe, könnte er E6 keinerlei Hinweise auf dessen Dimensionierung entnehmen. Die beanspruchte Dimensionierung wäre für ihn auch nicht nahegelegt, so dass alleine schon aufgrund von Merkmal 5 eine erfinderische Tätigkeit anzuerkennen wäre.
VI. In ihrer Beschwerde stützte sich die Antragstellerin im Wesentlichen auf die Argumente der Einspruchsabteilung und machte geltend, dass der Fachmann den Zwischenraum zwangsläufig nach Merkmal 5 dimensionieren würde, um die zugehörige objektive technische Aufgabe zu lösen. Diese Aufgabe werde in der Bereitstellung eines Zwischenraums gesehen, der Geräusche verhindere und die Wärmeausdehnung von Kunststoff berücksichtige. Auf dieser Grundlage folgerte die Antragstellerin, dass E6 das Merkmal 5 offenbare bzw. nahelege (s. die Ausführungen in der Beschwerdebegründung vom 19. Oktober 2017, Seite 3, dritter und vierter Absatz, wobei in dem nachfolgenden Absatz nur ein Unterscheidungsmerkmal anerkannt wird, das nicht Teil von Merkmal 5 ist). Als Antwort auf die Beschwerde der Patentinhaberin argumentierte die Antragstellerin wiederum ausführlich, dass das Merkmal 5 für den Fachmann offensichtlich, wenn nicht sogar unvermeidlich sei (Beschwerdeerwiderung vom 5. März 2018, Seite 3, vorletzter Absatz, bis Seite 5, erster Absatz).
VII. Die Frage der Offenbarung des Merkmals 5 in E6 war auch in der Mitteilung der Kammer aufgeworfen worden (Punkt 3.1.2, zweiter Absatz der Mitteilung vom 22. Dezember 2020). Darüber hinaus hat die Kammer angedeutet, dass das Naheliegen dieses Merkmals in der mündlichen Verhandlung zu diskutieren sein wird (Punkt 3.1.4 der Mitteilung).
VIII. Auf diese Mitteilung der Kammer hat die Antragstellerin wiederum Stellung genommen und hat mit dem Schriftsatz vom 25. Mai 2021 auf ihren früheren Einspruchsschriftsatz hingewiesen. Sie hat wiederholt dahingehend argumentiert, dass der Fachmann ohne erfinderisches Zutun den Zwischenraum in dem gemäß Merkmal 5 beanspruchten Intervall auslegen würde, jedoch ohne einen weiteren oder konkreteren Tatsachenvortrag.
IX. Die Entscheidung der Kammer wurde am Ende der mündlichen Verhandlung vom 8. Juli 2021 verkündet, wobei die schriftliche Entscheidung am 28. Juli 2021 an die Parteien versandt wurde.
X. Aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung sind technische Details der Debatte, wie etwa die diskutierten Merkmale, nicht entnehmbar. Die Antragstellerin trägt jedoch vor, dass verschiedene Aspekte der mit dem Merkmal 5 verbundenen Teilaufgabe in der mündlichen Verhandlung erörtert worden wären (Punkt II.4. a) bis c) des Überprüfungsantrags, s. Seite 5 unten), und die Antragstellerin hätte das Naheliegen und sogar die Zwangsläufigkeit der Dimensionierung angesprochen. Die Patentinhaberin habe auf andere mögliche Werkstoffe hingewiesen, die zu einem anderen Bereich führen könnten.
Das Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer
XI. Die zentrale und einzige Rüge des Überprüfungsantrags betrifft die Feststellung der Kammer, dass Dokument E6 dem Fachmann keinen Hinweis gebe, wie durch die Dimensionierung des Zwischenraums zwischen Käfigsegmenten die Wärmeausdehnung von Kunststoffteilen berücksichtigt werden soll. Die Folgerung der Kammer, dass der Fachmann jedoch nicht die Notwendigkeit erkannt hätte, gezielt einen Zwischenraum zwischen den Elementen vorzusehen, sei ein überraschendes Argument für die Antragstellerin. Sie macht geltend, dass der Verstoß gegen Artikel 113 (1) EPÜ darin gesehen werde, dass die Entscheidung der Beschwerdekammer sich ausschließlich auf eine "eigene Schlussfolgerung" der Kammer stütze, aber nicht auf "verhandelte Elemente der mündlichen Verhandlung" oder des vorhergehenden Verfahrens (Überprüfungsantrag, Punkt III, erster Absatz). Das Argument der Kammer wäre tragend für die Entscheidung, und die Antragstellerin wäre zu diesem Argument nicht gehört worden.
XII. Die Große Beschwerdekammer erließ am 5. Dezember 2022 eine Mitteilung gemäß Artikel 13 der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer (VOGBK), in der sie ihre vorläufige Auffassung darlegte, dass der Überprüfungsantrag aus den nachfolgend aufgeführten Gründen offensichtlich unbegründet zu sein scheint und dass vor diesem Hintergrund zu erwarten war, dass der Antrag nach Regel 109 (2) a) EPÜ als solcher verworfen wird. Der Antragstellerin wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, aber sie hat zu dieser Einschätzung der Großen Beschwerdekammer innerhalb der gesetzten Frist keine Stellung genommen.
XIII. Wie aus dem Überprüfungsantrag hervorgeht, beantragt die Antragstellerin die Überprüfung der Entscheidung der Beschwerdekammer. Die Große Beschwerdekammer versteht dies als einen impliziten Antrag auf
- Aufhebung der Entscheidung und
- Wiedereröffnung des Verfahrens vor der
Beschwerdekammer
als die vorgesehene Rechtsfolge eines begründeten Überprüfungsantrags (Regel 108 (3) EPÜ). Eine mündliche Verhandlung wurde nicht beantragt.
Zulässigkeit des Antrags auf Überprüfung
1. Der Überprüfungsantrag erfüllt alle Zulässigkeitsvoraussetzungen nach Artikel 112a i.V.m. Regel 107 EPÜ. Nach dem glaubhaften Vortrag der Antragstellerin konnte sie in der Tat die geltend gemachte Verletzung des rechtlichen Gehörs erst aufgrund der schriftlichen Entscheidungsgründe erkennen. Der Antrag ist auch im Hinblick auf Regel 106 EPÜ zulässig.
Begründetheit des Antrags auf Überprüfung
2. Der Antrag ist offensichtlich unbegründet.
3. Zunächst weist die Große Beschwerdekammer darauf hin, dass bereits die Patentinhaberin geltend gemacht hat, dass allein das Merkmal 5 den Anspruch 1 erfinderisch machen würde (s. Punkt V oben). Die Bedeutung dieses Merkmals war beiden Parteien offensichtlich klar und wurde auch in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer entsprechend erörtert.
4. Die Große Beschwerdekammer weist ferner darauf hin, dass das streitige Argument der Kammer nicht bloß die Offenbarung des Zwecks eines "Zwischenraums" im Allgemeinen in Frage stellt, sondern speziell dessen Zweck, eine "Wärmeausdehnung von Kunststoffteilen zu kompensieren" (Punkt 1.1.3, vorletzter Absatz der Entscheidung der Kammer).
5. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass die Ausführungen der Kammer in irgendeiner Weise auf neuem oder unerwartetem Vorbringen beruhten. Die Patentinhaberin wies darauf hin, dass in E6 weder der Zweck eines möglichen (wenn auch umstrittenen) Zwischenraums noch ein Ausgleich der Wärmeausdehnung erwähnt wird. Demgegenüber stützte sich das Gegenargument der Antragstellerin auf den technischen Effekt des angenommenen Unterscheidungsmerkmals und die angebliche Offensichtlichkeit dieses Merkmals für den Fachmann im Hinblick auf den zu erzielenden technischen Effekt.
6. Diese Argumente wurden aber von der Kammer in vollem Umfang berücksichtigt, wie aus den ausdrücklichen Feststellungen in der Entscheidung der Kammer hervorgeht.
7. In der zu überprüfenden Entscheidung führt die Kammer nämlich aus, dass E6 den Fachmann eben nicht lehrt, wie er den Zwischenraum dimensionieren soll:
"Die Argumentation der Beschwerdeführerin 2 setzt voraus, dass der Fachmann den Zwischenraum zwischen den Käfigsegmenten gezielt vorsieht, um damit die Wärmeausdehnung des Kunststoffs zu kompensieren. Hierauf gibt die E6 jedoch keinen Hinweis." (Punkt 1.1.3, vorletzter Absatz der Entscheidung der Kammer).
Mit anderen Worten: Die Kammer hat das Argument zurückgewiesen, dass das Merkmal 5 in E6 offenbart werden würde.
8. Von da an nahm die Kammer die erwartete Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit für das streitige Merkmal vor, wobei die objektive technische Aufgabe dann im Hinblick auf diese Feststellung der Kammer definiert wurde.
"Ausgehend hiervon formulierte die Beschwerdeführerin 2 die objektive technische Aufgabe dahingehend, die Größe des Zwischenraums zu bemessen, so dass ein aus Kunststoffsegmenten gebildeter Käfig weder große Klappergeräusche erzeugt noch zu einem Verklemmen der Segmente durch eine größere Wärmedehnung des Kunststoffs gegenüber dem Lagerstahl führt. Diese Aufgabenformulierung überzeugt nicht, da sie bereits Lösungselemente enthält. Wie oben unter 1.1.3 ausgeführt, entnimmt der Fachmann zwar der E6, dass es einen Zwischenraum zwischen den Segmenten gibt. Er erhält jedoch keinen Hinweis darauf, an der Größe des Zwischenraums etwas zu verändern oder diese gezielt zu wählen, um das ratternde Geräusch zu verringern.
Die objektive technische Aufgabe ist deshalb allgemeiner zu fassen und in der Bereitstellung eines Käfigs für ein Wälzlager zu sehen, womit beim Betrieb des Wälzlagers Spannungen im Käfig einerseits und ein Aneinanderschlagen der Käfigsegmente andererseits vermieden werden können." (Punkt 1.1.5 der Entscheidung, Hervorhebungen durch die Große Beschwerdekammer).
Nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer wird in diesem Teil der Entscheidung besonders deutlich, warum das Kernargument der Antragstellerin zu Merkmal 5 widerlegt wurde.
9. Schließlich ging die Kammer auch auf das Argument der Antragstellerin zum Naheliegen der Dimensionierung ein:
"Diese Argumentation setzt jedoch voraus, dass der Fachmann erkennt, dass durch eine bestimmte Dimensionierung des Zwischenraums das Aneinanderschlagen verhindert werden kann. Diese Erkenntnis mag ex post trivial erscheinen, sie ist jedoch durch den zitierten Stand der Technik nicht belegt. Darüber hinaus, selbst wenn man dem Fachmann diese Erkenntnis unterstellen würde, fehlt ihm ausgehend von E6 die Veranlassung, den Zwischenraum entsprechend zu dimensionieren, da die E6 das Problem des Klapperns bereits auf andere Weise löst, wie oben dargelegt." (Punkt 1.1.7, zweiter Absatz der Entscheidung).
Die Kammer führte weiter aus, dass das Dokument E2 an dieser Einschätzung nichts ändern würde (Punkt 1.1.8 der Entscheidung).
10. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das angeblich nicht erörterte Argument der Kammer nichts anderes ist als ein Teil der Analyse der Kammer und als solches nicht als ein eigenständiges Argument der Kammer, sondern vielmehr als Teil der eigentlichen Rechtsfindung der Kammer angesehen werden muss. Wie weiter unten näher ausgeführt wird, muss eine solche abschließende Feststellung einer Kammer zu den Argumenten in einem Beschwerdefall den Parteien nicht im Voraus bekannt gegeben werden.
11. Es mag sein, dass Einzelheiten der gesamten Argumente zur erfinderischen Tätigkeit betreffend das Merkmal 5 in der mündlichen Verhandlung nicht so ausführlich erwähnt wurden. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Kernargumente - wie der herangezogene nächstliegende Stand der Technik, die Auslegung dessen Inhalts und dementsprechend die streitigen Unterscheidungsmerkmale - aktenkundig waren bzw. der Antragstellerin bekannt gewesen sein mussten und es ihr somit frei stand, sie anzusprechen.
12. Nach Aktenlage wurde die Antragstellerin durchaus zur Frage der Offenbarung oder des Naheliegens von Merkmal 5 gehört, sowohl im schriftlichen Verfahren als auch in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer. Sie hatte mithin die Möglichkeit, ihre Sichtweise, Argumente und Beweismittel hierzu vollumfänglich vorzutragen. Die Kammer hat diese Argumente zur Kenntnis genommen und in der Entscheidung einzeln und ausführlich behandelt, wie in den Punkten 1.1.3 bis 1.1.8 der Entscheidungsgründe dargelegt und oben erläutert.
13. Die Antragstellerin konnte jedoch nicht erwarten, dass die Kammer den Parteien ihre vollständige Begründung - und noch weniger ihre endgültige Beurteilung - zu Merkmal 5 im Vorfeld vorlegen würde. Nach der ständigen Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer muss eine Kammer den Beteiligten nicht im Voraus alle denkbaren Argumente darlegen, die für oder gegen einen Antrag sprechen. Mit anderen Worten haben die Beteiligten keinen Anspruch darauf, vorab Hinweise zu allen Entscheidungsgründen zu erhalten; siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, Kapitel V.B.4.3.5 mit weiteren Fundstellen aus der Rechtsprechung.
Zusammenfassung
14. Die oben dargelegten Gründe für die offensichtliche Unbegründetheit des Antrags auf Überprüfung wurden bereits in der vorläufigen Mitteilung der Großen Beschwerdekammer - im Wesentlichen wortgleich wie in den Punkten 3 bis 13 oben - erörtert. Die Antragstellerin hat zu dieser Einschätzung nicht Stellung genommen. Die Große Beschwerdekammer sieht mithin keine Veranlassung, von ihrer vorläufigen Auffassung abzuweichen. Der Überprüfungsantrag bleibt daher erfolglos.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Antrag auf Überprüfung wird einstimmig als offensichtlich unbegründet verworfen.