T 0556/06 (Ohrmarke/AGROBIOGEN) 03-11-2008
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Modifizierte Ohrmarken und Verfahren zur Gewebenentnahme
I. Mit der am 8. Februar 2006 zur Post gegebenen Entscheidung wies die Einspruchsabteilung den gegen das europäische Patent Nr. 1 219 169 eingelegten Einspruch zurück, der sich auf den in Artikel 100 (a) EPÜ 1973 erwähnten Einspruchsgrund stützte.
Die unabhängigen Ansprüche 1, 7 und 10 des erteilten Patentes lauten wie folgt:
"1. Ohrmarke, umfassend eine Dornplatte (10), eine Gegenplatte (11) sowie einen Probenaufnahmebehälter (1) und Mittel zum Gewinnen der Probe (4), das nach Gewinnen der Probe in den Probenaufnahmebehälter eingeführt wird und diesen dichtend verschließt, wobei das Mittel zum Gewinnen der Probe (4) eine lösbare Hohlspitze aufweist und dadurch gekennzeichnet, dass die Gegenplatte (11) keine zur Durchführung des Dorns ausgebildete Durchgangsöffnung besitzt.".
"7. Verwendung einer Ohrmarke nach einem der vorhergehenden Ansprüche zur Gewinnung DNA-haltigem biologischem Material und gleichzeitiger Kennzeichnung des Individuums, von dem das biologische Material gewonnen wurde."
"10. Verfahren zur Kennzeichnung von Tieren mit gleichzeitiger Gewinnung biologischer Proben davon, wobei eine Ohrmarke gemäß einem der Ansprüche 1 bis 6 eingesetzt wird."
II. Die Einsprechende (nachstehend Beschwerdeführerin) hat am 7. April 2006 gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt. Am selben Tag wurde die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerde wurde am 16. Juni 2006 begründet.
III. Am 3. November 2008 wurde vor der Kammer mündlich verhandelt.
IV. Die Beschwerführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
V. Die Beschwerdeführerin trug im Wesentlichen vor, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 ausgehend von der Druckschrift WO-A-99/61882 (D2) und im Hinblick auf die US-A-5 016 369 (D3) nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Außerdem beantragte sie, den Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit ins Beschwerdeverfahren einzuführen.
Diesen Ausführungen wurde von der Beschwerdegegnerin widersprochen, die zudem ihr Einverständnis zu der Einführung des Einspruchsgrundes nach Artikel 100 (b) EPÜ 1973 nicht gab.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Neue Einspruchsgründe
Im Hinblick auf die Entscheidung G 10/91, EPA ABl 1993, 420) dürfen im Beschwerdeverfahren neue Einspruchsgründe nur mit dem Einverständnis der Patentinhabers eingeführt werden. Da im vorliegenden Fall ein solches Einverständnis nicht vorlag, wurde der Einspruchsgrund nach Artikel 100 (b) EPÜ 1973 nicht eingeführt.
3. Erfinderische Tätigkeit (Hauptantrag)
3.1 Der nächstkommende Stand der Technik ergibt sich aus der Druckschrift D2, die eine Ohrmarke beschreibt, die eine Dornplatte, eine Gegenplatte (11) sowie einen Probenaufnahmebehälter (1) und ein Mittel (4) zum Gewinnen der Probe umfasst, das nach Gewinnen der Probe in den Probenaufnahmebehälter eingeführt wird und diesen dichtend verschließt, wobei das Mittel (4) zum Gewinnen der Probe eine lösbare Hohlspitze aufweist.
Die Gegenplatte (11) dieser bekannten Ohrmarke besitzt eine zur Durchführung des Dorns ausgebildete Durchgangsöffnung.
3.1.1 Beim Anbringen dieser bekannten Ohrmarke wird das Ohr des Tieres durch das Mittel zum Gewinnen der Probe an die Gegenplatte angedrückt. Bei sehr jungen Tieren ist das gesamte Ohr so weich, dass es beim Stanzvorgang zu wenig Widerstand bietet. Daher kann sich ein weiches Ohr aufgrund des Druckes des Mittels zum Gewinnen der Probe im Bereich der Durchgangsöffnung wölben. Dies kann dazu führen, dass das Ohrgewebe zerrissen oder nicht sauber durchgestanzt wird.
3.2 Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 unterscheidet sich von diesem Stand der Technik durch das im kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 enthaltene Merkmal, nach welchem "die Gegenplatte (11) keine zur Durchführung des Dorns ausgebildete Durchgangsöffnung besitzt".
3.2.1 Dieses Merkmal bewirkt, dass das Ohr des Tieres beim Anbringen der Ohrmarke an die Gegenplatte (11) angedrückt wird, die als Widerlager für die Hohlspitze des Mittels (4) zum Gewinnen der Probe dient. Durch Drücken der Hohlspitze des Probengewinnungsmittels wird zuerst ein Gewebestück sauber ausgeschnitten (d.h. ohne zerrissen zu werden) und danach wird zur Bildung einer Durchgangsöffnung ein Stück der Gegenplatte ausgestanzt. Die der Erfindung zugrunde liegende Aufgabe kann daher darin gesehen werden, die Nachteile der Ohrmarke bzw. des Stanzvorganges nach dem nächstkommenden Stand der Technik (siehe den vorstehenden Abschnitt 3.1.1) zu überwinden.
3.3 Die Druckschrift D3 beschreibt eine Ohrmarke, umfassend eine Dornplatte (2) und eine Gegenplatte (3), die einen Behälter (10) aufweist, der ein Desinfektionsmittel enthält. Beim Anbringen der Ohrmarke werden das Ohr des Tieres und die Gegenplatte im Bereich des Behälters (10) durchstochen.
Diese Gegenplatte (3), insofern als sie eine Wand oder einen Verschluss des Behälters (10) bildet, besitzt keine zur Durchführung des Dornes ausgebildete Durchgangsöffnung. Dadurch wird offensichtlich erreicht, dass vor dem Anbringen der Ohrmarke das im Behälter enthaltene Desinfektionsmittel nicht herausläuft.
Diesbezüglich ist zu bemerken, dass beim Anbringen der Ohrmarke nach der D3 das Ohr des Tieres und die Gegenplatte (3) von einer massiven Spitze ("piercing part" 15 - in der Figur 2 - oder 7' i in der Figur 3) durchstochen werden. Außerdem, weist die Gegenplatte (3) im Bereich, auf den die massive Spitze trifft, eine Schwachstelle in Form einer gewölbten Vertiefung auf, in die sich das Ohr der Tieres beim Anbringen der Ohrmarke wölben kann.
Der Ohrmarke nach der D3 liegt somit eine andere Aufgabe zugrunde als dem erfindungsgemäßen Gegenstand: Gemäß der D3 wird eine Gegenplatte ohne Öffnung bereitgestellt, um ein Entweichen bzw. einen Verlust des im Behälter enthaltenen Desinfektionsmittels zu vermeiden, während erfindungsgemäß durch die Kombination einer Gegenplatte ohne Loch und einer Hohlspitze ein sauberes Durchstanzen des Ohrgewebes erzielt wird.
Der Fachmann, der sich mit der oben genannten Aufgabe auseinandersetzt, würde daher die Druckschrift D3 nicht zur Lösung dieser Aufgabe in Betracht ziehen.
3.4 Die Beschwerdeführerin hat im wesentlichen vorgetragen, dass gemäß dem Anspruch 4 des angefochtenen Patents an der Stelle, an der der Dorn durchtreten soll, eine Markierung vorgesehen sei. Da diese Markierung auch eine Vertiefung sein könne, diene die Gegenplatte nicht als Widerlager. Außerdem enthalte die Patentschrift keine Testergebnisse, die sich auf den Vergleich zwischen Gewebeproben bezögen, die mit der erfindungsgemäßen Ohrmarke und mit einer herkömmlichen Ohrmarke gewonnen werden könnten. Daher gebe es keinen Beweis, dass eine Gegenplatte, die keine zur Durchführung des Dorns ausgebildete Durchgangsöffnung besitze, einen sauberen Schnitt des Ohrgewebes bewirke. Darüber hinaus widerspreche der Anspruch 1 der Beschreibung des Patentes, insofern als in der Beschreibung die Gegenplatte als "Lochplatte" bezeichnet werde, obwohl der Anspruch 1 angebe, dass sie kein zur Durchführung des Dorns ausgebildetes Loch besitze. Dieses kennzeichnende Merkmal sei daher nicht zur Lösung der Aufgabe notwendig, sondern als kosmetisches Merkmal anzusehen, dem im Hinblick auf die Druckschrift D3 keine erfinderische Tätigkeit zuzuschreiben sei.
3.4.1 Die Kammer kann diesen Argumenten aus den nachstehenden Gründen nicht folgen:
- Die Streitpatentschrift macht hinreichend glaubhaft, dass mit der beanspruchten Kombination einer Gegenplatte ohne Loch und einer Hohlspitze ein sauberes Durchstanzen des Ohrgewebes gewährleistet ist (siehe insbesondere die Absätze [0008] und [0024], 1. Satz). Es gibt somit keine triftigen Gründe, die die Vermutung nahelegen könnten, dass die oben erwähnte Aufgabe durch den beanspruchten Gegenstand nicht gelöst werde. Die Beweislast dafür, dass mit einer Gegenplatte ohne Loch kein sauberer Schnitt des Ohrgewebes auch im Falle von sehr jungen Tieren erzielt wird, trifft also die beschwerdeführende Einsprechende.
- Das in den Figuren der Patentschrift mit den Bezugszeichen 11 versehene Element wird im Absatz [0012] der Patentschrift mit dem Ausdruck "Gegenplatte (Lochplatte) der Ohrmarke (weiblicher Teil)" bezeichnet. Aus der Tatsache, dass das Wort "Lochplatte" nach dem Wort "Gegenplatte" in Klammern steht, kann nicht abgeleitet werden, dass die in der Figur 2 dargestellte verschlossene Gegenplatte ein zur Durchführung des Dorns ausgebildetes Loch besitzt. Daher widerspricht der Anspruch 1 der Beschreibung nicht.
3.5 Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht daher auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ 1973).
Dasselbe gilt für die unabhängigen Ansprüche 7 und 10, insofern als diese Ansprüche sich auf die Verwendung bzw. auf den Einsatz der Ohrmarke nach Anspruch 1 beziehen.
Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 (a) EPÜ 1973 steht der Aufrechterhaltung des Patentes nicht entgegen. Das Patent hat somit Bestand.
Entscheidungsgründe
AUS DIESEN GRÜNDEN WIRD ENTSCHIEDEN:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.