T 0438/11 20-07-2016
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Bogen-Rotationsdruckmaschine mit einem Multifunktionsmodul
Klarheit (nein: Hauptantrag; ja: Hilfsantrag 1)
Erfinderische Tätigkeit (nein: Hauptantrag; ja: Hilfsantrag 1)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 1 147 893 zurückzuweisen.
II. Die Einspruchsabteilung hat insbesondere folgende Druckschriften berücksichtigt:
D1: DE 296 23 064 U1;
D2: DE 197 32 796 A1;
D3: DE 195 39 757 C1;
D4: DE 196 29 370 A1;
D5: DE 298 18 148 U1;
D7: DE 42 19 116 A1.
Sie war der Auffassung, eine Kombination der Druckschriften D1 und D2 führe nicht in naheliegender Weise zum Gegenstand des Anspruchs 1 (Entscheidungsgründe, Punkt 9.2.1, letzter Satz).
Die Beschwerdeführerin hat zusammen mit der Beschwerdebegründung die Druckschriften D8 (DE 44 03 884 A1) und D9 (DE 44 42 411 A1) eingereicht.
III. In ihrer Antwort auf die vorläufige Stellungnahme der Kammer, welche zusammen mit der Ladung an die Parteien erging, hat die Beschwerdegegnerin einen neuen Hauptantrag sowie zwei Hilfsanträge eingereicht.
IV. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer hat am 20. Juli 2016 stattgefunden. Im Laufe der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdegegnerin einen neuen Hilfsantrag 1 eingereicht, der den vorherigen Hilfsantrag 1 ersetzt.
V. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des europäischen Patents auf der Grundlage der mit Schreiben vom 15. Juni 2016 als Haupt- und Hilfsantrag 2 oder der in der mündlichen Verhandlung als Hilfsantrag 1 eingereichten Anspruchssätze.
VI. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt (die Unterschiede zum erteilten Anspruch 1 sind hervorgehoben):
"Bogen-Rotationsdruckmaschine mit einem Bogenanleger (1), einem Bogenausleger (3) und einer Mehrzahl von zwischen dem Bogenanleger (1) und dem Bogenausleger (3) angeordneten, in ihrem grundsätzlichen Aufbau einander gleichenden Basismodulen (5), die einen Bogenführungszylinder (8) und eine Bogenfördereichrichtung (7, 23) aufweisen und die mit einem Druckwerk (4), einem Lackwerk (12) oder einem Trocknerwerk (10) ausrüstbar sind, dadurch gekennzeichnet,
dass zwischen dem in Bogenförderrichtung letzten Basismodul (5) und dem Bogenausleger (3) ein Multifunktionsmodul (6, 11) angeordnet ist, das wie die Basismodule (5) mit einer eingangsseitigen als Bogenfördertrommel ausgebildeten Bogenfördereinrichtung (7) und einem ausgangsseitigen Bogenführungszylinder (8) [deleted: angeordnet]versehen ist, dass der Bogenführungszylinder (8) [deleted: den]so angeordnet ist, dass er zu fördernde Bogen an ein Kettenfördersystem (9) des Bogenauslegers (3) übergibt und dass das Multifunktionsmodul (6,11) für den Anbau mehrerer unterschiedlicher einzeln oder in Gruppen anbaubarer Zusatzeinrichtungen vorbereitet ist, derart, dass der Einsatz dieser Einrichtungen mit geringem Bau- bzw. Umrüstaufwand möglich ist."
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass das Merkmal "derart, dass der Einsatz dieser Einrichtungen mit geringem Bau- bzw. Umrüstaufwand möglich ist" gestrichen wurde, sowie durch das zusätzliche Merkmal "wobei das Multifunktionsmodul (6,11) für den Anbau eines Inline-Registers, einer Absaugeinrichtung, einer Messeinrichtung (22) zur Erfassung der Druckqualität, einer Nummeriereinrichtung (14), einer Prägeeinrichtung, einer Makulaturkennzeichnung oder einer Folienaufbringung ausgerüstet ist".
VII. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hat Folgendes vorgetragen:
a) Hauptantrag
Der Gegenstand von Anspruch 1 ist unklar. Der Ausdruck "geringer Bau- bzw. Umrüstaufwand" ist unbestimmt und unklar. Darüber hinaus stellt das letzte Merkmal eine reine Wirkungsangabe dar.
Die Druckschrift D4 offenbart alle Merkmale des Anspruchs 1.
b) Hilfsantrag 1
Dem Anspruch 1 fehlt es an der erfinderischen Tätigkeit. Das letzte Merkmal verlangt, dass das Modul für den Anbau von verschiedenen Elementen ausgerüstet ist. Wie dies konkret erfolgt, geht aus dem Anspruch nicht hervor. Das Modul wird also weitergebildet durch Elemente, die nicht Teil der Erfindung sind und in ihrer Beschaffenheit unbestimmt sind. Jede Anbringung von Elementen, die geeignet sind, Zusatzeinrichtungen aufzunehmen, ist zu verstehen als Ausrüstung für den Anbau von Zusatzelementen. Die Druckschrift D4 offenbart ein Zusatzmodul 6 mit Einrichtungen in Form von Pudereinrichtungen 35 und mehreren Trocknereinrichtungen 31-34. Diese Einrichtungen sind eingebaut; das Modul muss also für sie vorbereitet sein. Die konkrete Vorbereitung ist nicht offenbart, aber der Fachmann leitet sie aus der Funktion dieser Elemente her. Sowohl die Pudereinrichtung als auch die Trockeneinrichtungen wirken auf die Oberfläche der transportierten Bögen ein. Die Ausrüstung für die Ausstattung mit Zusatzelementen ist derart gestaltet, dass die Anordnung nahe am Bogen möglich ist und die Zusatzelemente auf die gesamte Breite des Bogens wirken können. Der Fachmann würde in der Box 6 geeignete Befestigungselemente vorsehen, die die Elemente 31-35 aufnehmen können. Diese wären aber geeignet, auch jedes andere weitere Element, das in Druckmaschinen zum Einsatz kommt, aufzunehmen. Sie stellen daher Ausrüstungen für die Ausstattung mit den im neuen Merkmal genannten Einrichtungen dar.
Darüber hinaus offenbart die Druckschrift D4, Spalte 3, ab Zeile 32 die Möglichkeit, die Wärmetrocknungsvorrichtungen und das Pudergerät beliebig zu kombinieren und verschiedene Trocknungsvorrichtungen einzusetzen. Die Druckschrift bezieht sich also auch auf das Umgestalten der Einrichtungen zum Zweck der Anpassung an unterschiedliche Gegebenheiten.
Aus den weiteren zitierten Entgegenhaltungen sind viele der im Anspruch erwähnten Zusatzeinrichtungen als in einer Druckmaschine angeordnet offenbart; siehe:
- Druckschrift D3, Spalte 2, ab der Zeile 24 (Absaugeinrichtung) und ab Zeile 55 [sic] (Messeinrichtung zur Erfassung der Druckqualität);
- Druckschrift D7, Patentanspruch 8 und Druckschrift D2, Anspruch 1 (Numerierwerk);
- Druckschrift D9, Spalte 4, ab Zeile 10 (Prägeeinrichtung).
Der Fachmann würde durchaus die Integration dieser weiteren Elemente in das Multifunktionsmodul 6 der Druckschrift D4 ins Auge fassen. In diesem Modul steht ausreichend Einbauraum zur Verfügung und die Möglichkeit von Modifikationen der dort genannten Elemente ist explizit erwähnt.
In der Figur 1b der Druckschrift D9 ist überdies offenbart, dass die Bearbeitungseinheit 1 in einem gesonderten Bearbeitungswerk 3 zwischen dem Ausleger 2 und dem Druckwerk 4 vorgesehen und dem letzten Zylinder zugeordnet ist (vgl. Spalte 3, Zeilen 45-50).
Der Fachmann, der ein Prägewerk gemäß der Druckschrift D9 in der Druckmaschine gemäß Druckschrift D4 verwenden möchte, würde es angesichts dieser Lehre im Multifunktionsmodul 6 vorsehen.
Der Fachmann gelangt so ohne jede erfinderische Tätigkeit zu einer Maschine, die mit mehreren anspruchsgemäßen Elementen ausgestattet ist, zumal das Modul der Druckschrift D4 für ihren Einbau vorbereitet war.
VIII. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) hat Folgendes vorgetragen:
a) Hauptantrag
Die Druckschrift D4 offenbart die Erfindung nicht. Das angebliche Multifunktionsmodul der Druckschrift D4 ist kein Multifunktionsmodul im Sinne des Streitpatents, denn es ist nicht wie ein Basismodul aufgebaut, nämlich aus zwei Zylindern: einem Bogenführungszylinder und einer Bogenfördereinrichtung. Sämtliche Ausführungsbeispiele des Streitpatents sind so ausgeführt. Das Merkmal ist im Lichte der Anmeldung auszulegen. Eine entsprechende Änderung des Anspruchs ist nicht möglich, da sie nicht wörtlich offenbart und daher im Hinblick auf Artikel 123(2) EPÜ nicht zulässig ist.
b) Hilfsantrag 1
Die Druckschrift D4 weist in eine ganz andere Richtung. Die Trocknereinrichtungen sind dort in den Trommeln und um die Trommeln herum angeordnet. Ihre Anordnung ist komplex; eine leichte Austauschbarkeit ist nicht gegeben. Der Fachmann würde dort nicht alle möglichen Zusatzeinrichtungen anbringen. Die in der Druckschrift D4 erwähnten Varianten sollen ermöglichen, den Bedruckstoff, die Art der Druckfarbe und des Lackes und die Art der Wärmestrahlungsquelle aufeinander abzustimmen. Das hat mit Multifunktionalität im Sinne des Streitpatents nichts zu tun. Hier geht es nur um die Anordnung des Moduls in Bezug auf unterschiedliche Trocknungs- und Oberflächenbeschichtungsmöglichkeiten, was das Puder betrifft. Diese Dinge sind bereits im Oberbegriff erwähnt. Die Druckschrift D4 offenbart nicht, dass unterschiedliche Wirkmechanismen in das Modul eingebaut werden. Es geht nur darum, innerhalb des Moduls auf unterschiedliche Werkstoffe einzugehen.
Die Zitate, die sich auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Multifunktionalität beziehen, wie sie sich aus anderen Schriften ergeben, sind nicht bezogen auf eine Anordnung wie im beanspruchten Multifunktionsmodul, sondern auf unterschiedliche Maschinen und Bauformen, in denen sie mehr oder wenig zufällig angeordnet sind. Der entsprechende Vortrag der Beschwerdeführerin stellt eine mosaikartige Zusammenziehung von Merkmalen dar. Der Gegenstand von Anspruch 1 ist daher als erfinderisch anzusehen.
1. Anwendbares Recht
Die Anmeldung, auf der das Streitpatent beruht, wurde am 19. März 2001 eingereicht. Deshalb sind im vorliegenden Fall in Anwendung von Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 (ABl. EPA 2007, Sonderausgabe Nr. 4, 217) und des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 (ABl. EPA 2007, Sonderausgabe Nr. 4, 219) die Artikel 56 und 84 EPÜ 1973 anzuwenden.
2. Zulässigkeit der Druckschriften D8 und D9
Die Druckschriften D8 und D9 wurden erst mit der Beschwerdebegründung eingereicht; ihre Zulassung zum Verfahren liegt daher im Ermessen der Kammer gemäß Artikel 12 (4) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) des Europäischen Patentamts, ABl. EPA 2016, Zusatzpublikation 1, ab Seite 41) .
Die Kammer sieht aber keinen guten Grund, die Druckschriften nicht zum Verfahren zuzulassen.
3. Auslegung des Anspruchswortlauts
3.1 "übergibt"
Die Einspruchsabteilung hat in Zusammenhang mit diesem Merkmal Folgendes festgestellt:
"... ist nach Meinung der Einspruchsabteilung unter der im Zusammenhang des Anspruchs 1 genannten Übergabe stets eine unmittelbare, bzw. direkte Übergabe zu verstehen. Diese Interpretation wird im Übrigen sowohl durch die Beschreibung (Artikel 69(1) EPÜ), als auch durch das gängige Verständnis dieses Ausdrucks bestätigt. Hätte der Anspruchsgegenstand von diesem Normalfall der Bedeutung des Ausdrucks "Übergabe" abweichen wollen, hätte ausdrücklich eine "indirekte Übergabe" genannt werden müssen."
Die Kammer stimmt dieser Auslegung zu, obwohl sie keinen Bedarf sieht, die Beschreibung in Betracht zu ziehen oder sich auf Artikel 69 EPÜ zu berufen. Sie schließt sich der Entscheidung T 197/10 vom 28. Oktober 2011 an, in der festgestellt wurde:
"Sind die Patentansprüche so deutlich und eindeutig abgefasst, dass der Fachmann sie problemlos verstehen kann, so besteht keine Veranlassung, die Beschreibung zur Interpretation der Patentansprüche heranzuziehen." (Punkt 2.3 der Entscheidungsgründe)
Im vorliegenden Fall ist der Anspruchswortlaut klar.
Der Online-Duden definiert das Verb "übergeben" unter anderem folgendermaßen: "dem zuständigen Empfänger etwas aushändigen und ihn damit in den Besitz von etwas bringen; jemandem etwas zum Aufbewahren geben, anvertrauen; etwas übereignen, übertragen; jemanden, etwas einer Instanz o. Ä. zur Bearbeitung des entsprechenden Falles überlassen; jemandem eine Aufgabe übertragen, die Weiterführung einer bestimmten Arbeit o. Ä. überlassen".
Wenn im Anspruch 1 gesagt wird, dass der Bogenführungszylinder den Bogen an ein Kettenfördersystem übergibt, dann würde der Fachmann verstehen, dass der Bogen, der sich im Einflussbereich des Bogenführungszylinders befindet, von diesem dem Kettenfördersystem ausgehändigt oder übertragen wird. Der Fachmann würde nach Ansicht der Kammer von einer direkten Übertragung ausgehen. Eine Übertragung über eine oder mehrere dazwischengeschaltete Vorrichtungen würde einen anderen Wortlaut erwarten lassen.
3.2 "vorbereitet"
Die Beschwerdeführerin hat in der Beschwerdebegründung (Seite 3, zweiter und dritter Absatz) das kennzeichnende Merkmal demzufolge "das Multifunktionsmodul ... für den Anbau mehrerer unterschiedlicher einzeln oder in Gruppen anbaubarer Zusatzeinrichtungen vorbereitet ist" als "unbestimmt" bemängelt.
Da mangelnde Klarheit kein Einspruchsgrund ist und im Einspruch nur der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit erhoben wurde (was die Kammer daran hindern würde, eine eventuell durch oben genannte Unbestimmtheit bewirkte Unausführbarkeit der Erfindung zu untersuchen), kann die angebliche Unbestimmtheit des Merkmals nur insofern von Bedeutung sein, als sie die einschränkende Wirkung des Merkmals zur Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik verringern oder gar aufheben könnte.
Man kann dem Merkmal aber nicht jede einschränkende Wirkung absprechen. Auch in Unkenntnis der genauen Natur der Zusatzeinrichtungen beschränkt das Merkmal das anspruchsgemäße Multifunktionsmodul auf Module, in denen der Anbau von mehreren, in ihrer Art nicht näher bestimmten Zusatzeinrichtungen vorgesehen ist.
4. Zur Neuheit (Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. 54 EPÜ 1973)
Die Grosse Beschwerdekammer hat in ihrer Entscheidung G 7/95 vom 19. Juli 1996 (ABl. EPA 1996, 626) die ihr vorgelegte Frage folgendermaßen beantwortet:
"Ist gegen ein Patent gemäß Artikel 100 a) EPÜ mit der Begründung Einspruch eingelegt worden, dass die Patentansprüche gegenüber den in der Einspruchsschrift angeführten Entgegenhaltungen keine erfinderische Tätigkeit aufweisen, so gilt ein auf die Artikel 52 (1) und 54 EPÜ gestützter Einwand wegen mangelnder Neuheit als neuer Einspruchsgrund und darf daher nicht ohne das Einverständnis des Patentinhabers in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden. ..." (Entscheidungsformel)
Der von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Einwand der mangelnden Neuheit ist also als neuer Einspruchsgrund zu werten und darf nicht ohne das Einverständnis der Patentinhaberin in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden.
Die Kammer sieht die Weigerung der Beschwerdegegnerin, sich zum Einwand der mangelnden Neuheit zu äußern (Beschwerdeerwiderung, Seite 1, letzter Absatz), als Verweigerung des Einverständnisses im Sinne der Entscheidung G 7/95 an. Sie kann daher diesen Einspruchsgrund nicht berücksichtigen.
Das hindert die Kammer aber nicht daran, die Druckschrift D4 als möglichen nächsten Stand der Technik bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit in Betracht zu ziehen, da der Gegenstand eines Anspruchs, dessen Merkmale allesamt in einer Entgegenhaltung offenbart sind, welche Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ 1973 ist, nicht erfinderisch gegenüber dieser Entgegenhaltung sein kann (siehe dazu auch die Entscheidung T 567/10 vom 16. Januar 2013, Punkt 1.2.8 der Entscheidungsgründe).
5. Hauptantrag
5.1 Klarheit (Artikel 84 EPÜ 1973)
Das Merkmal, dem zufolge der Einsatz der Zusatzeinrichtungen "mit geringem Bau- bzw. Umrüstaufwand" möglich ist, ist unbestimmt, da nicht klar ist, was unter einem geringen Aufwand zu verstehen ist. Anspruch 1 genügt daher den Erfordernissen von Artikel 84 EPÜ 1973 nicht.
5.2 Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ 1973)
Die Druckschrift D4 offenbart eine Bogen-Rotationsdruckmaschine (Spalte 1, Zeilen 3 und 4) mit einem Bogenanleger 1, einem Bogenausleger 7 und einer Mehrzahl von zwischen dem Bogenanleger und dem Bogenausleger angeordneten, in ihrem grundsätzlichen Aufbau einander gleichenden Basismodulen (Druckwerke 3 und 5), die einen Bogenführungszylinder (Druckzylinder 16 und 24) und eine Bogenfördereinrichtung (Rotationsförderer 13 und 21) aufweisen und die jeweils ein Druckwerk beinhalten (in derselben Art und Weise wie in der Ausführungsform der Figur 1 des Streitpatents).
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Zwischen dem in Bogenförderrichtung letzten Basismodul 5 und dem Bogenausleger 7 ist ein Multifunktionsmodul 6 mit einer eingangsseitigen als Bogenfördertrommel (siehe Figur 2) ausgebildeten Bogenfördereinrichtung 27 und einem ausgangsseitigen Bogenführungszylinder 30 angeordnet. Der Bogenführungszylinder 30 übergibt den Bogen an ein Kettenfördersystem 36 des Bogenauslegers. Am Multifunktionsmodul sind mehrere unterschiedliche, einzeln oder in Gruppen anbaubare Zusatzeinrichtungen (Wärmetrocknungsvorrichtungen 33 und 34, Pudergerät 35) angebracht. Diese Einrichtungen sind bereits installiert; ihr Einsatz ist daher ohne jeden Bau- bzw. Umrüstaufwand möglich.
Die Druckschrift D4 offenbart also alle Merkmale des Anspruchs 1 in Kombination.
Die Beschwerdegegnerin hat dies bestritten und geltend gemacht, dass das Multifunktionsmodul 6 nicht wie die Basismodule aufgebaut ist, da es nicht nur zwei Zylinder umfasst, wie dies in allen Ausführungsbeispielen des Streitpatents der Fall ist. Die Kammer kann diesem Argument nicht folgen, da der Anspruchswortlaut in dieser Hinsicht klar ist und der Fachmann zu seiner Auslegung nicht auf die Beschreibung des Streitpatents angewiesen ist. Das Multifunktionsmodul weist - ebenso wie die Basismodule - eingangsseitig eine als Bogenfördertrommel ausgebildete Bogenfördereinrichtung und ausgangsseitig einen Bogenführungszylinder auf. Damit offenbart sie aber das entsprechende Merkmal des Anspruchs 1.
Die Tatsache, dass alle Ausführungsbeispiele des Streitpatents zwei Zylinder aufweisen, was sie von der Offenbarung der Druckschrift D4 unterscheidet, ist hier ohne Belang, da dieser Unterschied im Wortlaut von Anspruch 1 keinen Ausdruck findet. Die Beschwerdegegnerin hätte Anspruch 1 entsprechend ändern können, hat dies aber unterlassen.
Die Kammer kommt daher zum Schluss, dass die Druckschrift D4 alle Merkmale des Anspruchs 1 des Streitpatents offenbart.
Somit kann der Gegenstand von Anspruch 1 aber nicht erfinderisch sein gegenüber der Offenbarung der Druckschrift D4: ein Gegenstand, der in einer Druckschrift offenbart ist, ergibt sich für den Fachmann zwangsläufig in naheliegender Art und Weise aus dieser Druckschrift.
Die Kammer gelangt daher zum Schluss, dass der Gegenstand von Anspruch 1 nicht als auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ 1973 beruhend gelten kann.
6. Hilfsantrag 1: Erfinderische Tätigkeit
Die Kammer betrachtet die Druckschrift D4 als nächsten Stand der Technik. Diese Wahl wurde von den Verfahrensbeteiligten nicht in Frage gestellt.
Der Gegenstand von Anspruch 1 unterscheidet sich von der Lehre der Druckschrift D4 durch das Merkmal, dem zufolge das Multifunktionsmodul für den Anbau eines Inline-Registers, einer Absaugeinrichtung, einer Messeinrichtung zur Erfassung der Druckqualität, einer Nummeriereinrichtung, einer Prägeeinrichtung, einer Makulaturkennzeichnung oder einer Folienaufbringung ausgerüstet ist.
Die Druckschrift D4 offenbart keine dieser Einrichtungen; das dort offenbarte Multifunktionsmodul enthält nur Trocknungsvorrichtungen 31-34 sowie ein Pudergerät 35.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Ausschnitt aus der Figur 1
der Druckschrift D4
In Spalte 3, Zeilen 33-44, der Druckschrift D4 ist darüber hinaus Folgendes offenbart:
"Die Module 25, 26, 54, 55, 56 sind austauschbar und die ihnen zugeordneten Wärmetrocknungsvorrichtungen 19, 20, 31, 32, 33, 34 und das Pudergerät 35 beliebig kombinierbar, so dass es möglich ist, Bedruckstoff, die Art der Druckfarbe und des Lackes und die Art der Wärmestrahlungsquelle aufeinander abzustimmen. ... Als Trocknungsvorrichtungen sind außer IR-, auch UV-, Heißlufttrocknungssysteme oder Kühlsysteme einsetzbar."
Diese Offenbarung geht aber nicht über Variationen der Anordnung der offenbarten Elemente bzw. die Verwendung alternativer Trocknungsvorrichtungen hinaus; die erwähnten Varianten beziehen sich ausschließlich auf die Optimierung des Trocknungs- und Pudervorgangs im Hinblick auf verschiedene einsetzbare Materialien (Bedruckstoff, Druckfarbe, Lack). Eine Verwendung von Zusatzeinrichtungen mit gänzlich anderen Funktionen wird dadurch nicht nahegelegt.
Es ist unbestritten, dass die Zusatzeinrichtungen, die im Unterscheidungsmerkmal angeführt sind, als solche bekannt sind. Dies bedeutet aber nicht, dass es für den Fachmann auf der Hand liegt, das Multifunktionsmodul 6 für ihren Anbau auszurüsten.
Die Kammer kann auch dem Argument nicht folgen, dass die Tatsache, dass Befestigungselemente für die Trocknungsvorrichtungen und das Pudergerät existieren müssen, bedeutet, dass das Multifunktionsmodul ipso facto für den Anbau anderer Einrichtungen ausgerüstet ist. Das offenbarte Multifunktionsmodul 6 ist für den Anbau von Trocknungsvorrichtungen und einem Pudergerät ausgerüstet, aber von einer sachgemäßen Ausrüstung für den Anbau anderer Einheiten kann nicht ausgegangen werden.
Die Beschwerdeführerin hat mehrere Druckschriften zitiert, die Druckmaschinen mit Zusatzeinrichtungen, welche gänzlich andere Funktionen erfüllen, offenbaren. Die Kammer untersucht daher im Folgenden, ob der Fachmann diese Druckschriften mit der Lehre der Druckschrift D4 kombinieren würde, beziehungsweise, wenn dies der Fall ist, ob er dadurch zum Gegenstand von Anspruch 1 gelangen würde.
Die Druckschrift D3 beschreibt einen Ausleger mit Pudereinrichtung, der eine Nachrüstung von Zusatzeinrichtungen gestattet (Spalte 1, Zeilen 37-39).
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Die Druckschrift offenbart insbesondere die Möglichkeit, eine Absaugeinrichtung 7 vorzusehen. Allerdings wird diese Einrichtung nicht in einem Multifunktionsmodul zwischen dem letzten Basismodul und dem Bogenausleger angeordnet, sondern sie ist dem Ausleger untergeordnet. Die Einrichtung 12 zur Ermittlung der Druckqualität hingegen ist dem vorgeordneten Druckwerk zugeordnet (Spalte 2, Zeilen 50-52). Würde der Fachmann diese Anregungen übernehmen und auf die Druckmaschine gemäß Druckschrift D4 anwenden, würde er somit nicht zu einer Ausführungsform gelangen, die vom Anspruch 1 erfasst wird.
Die Druckschrift D7 beschäftigt sich mit der Aufgabe, eine Bogenrotationsdruckmaschine vorzusehen, die eine verkürzte Baulänge bei verbesserter Bogenführung, Bedienbarkeit und logistischer Anbindung aufweist und zudem flexibel einsetzbar ist (Spalte 2, Zeilen 37-42). Der Kern der Erfindung besteht darin, dass die ersten Bogentransportmittel 8,11,23 an der Oberseite der Druckwerke 1-4 bzw. Arbeitseinheiten 5 angeordnet sind und dass zum Transport der Druckbogen entgegen der Laufrichtung des Druckprozesses weitere und außerhalb der Druckwerke 1-4 angeordnete Bogentransportmittel 11,26 vorgesehen sind (siehe Anspruch 1).
Gemäß einer sehr spezifischen Ausführungsform (siehe Anspruch 8) ist zwischen dem letzten Gegendruckzylinder 8 und dem ersten Kettenfördersystem 26 eine Trommelübergabeeinheit 25 angeordnet, die als Weiterverarbeitungseinrichtung z.B. zum Kalandrieren, Perforieren, Numerieren etc. oder als Widerdruckwerk ausgebildet ist.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Die Beschreibung stellt hierzu fest: "Die Trommelübergabeeinheit 25 ist vor allem als zusätzliche Arbeitseinrichtung konfiguriert. Hier können die Druckbogen kalandriert, also geglättet, numeriert, perforiert, gerillt, genutet, geschnitten, geheizt, befeuchtet o. ä. werden." (Spalte 4, Zeilen 33-37)
Es ist sehr zweifelhaft, ob der Fachmann die Lehre dieser Druckschrift mit derjenigen der Druckschrift D4 kombinieren würde, da letztere eine modulare Bauweise anstrebt (Spalte 1, Zeile 53) und zudem eine Trommelübergabeeinheit 6 besitzt, deren Ausstattung mit Trocknungsvorrichtungen eine einfache Rückführung des Bogens im Sinne der Druckschrift D7 kaum ermöglicht. Wäre eine solche Rückführung dennoch erwünscht, wäre der Fachmann geneigt, die Einheit 25 als selbstständige Einheit vorzusehen. Im Hinblick auf die Ausstattung dieser Einheit beschränkt sich die Lehre der Druckschrift D7 auf eine Liste von möglichen Funktionen, lehrt aber nicht konkret, wie die Trommelübergabeeinheit 25 für den Anbau mehrerer unterschiedlicher Zusatzeinrichtungen vorzubereiten ist.
Die Kammer ist deshalb zum Schluss gelangt, dass auch die Lehre der Druckschrift D7 den Fachmann nicht zum Gegenstand von Anspruch 1 führt.
Die Druckschrift D2 beschreibt eine Lösung der Aufgabe, ein Lackierwerk einer Bogenrotationsdruckmaschine so auszugestalten, dass weitere Arbeitsvorgänge durchführbar sind, ohne dass die Zugänglichkeit zu den einzelnen Aggregaten der Druckmaschine beeinträchtigt wird (Spalte 1, Zeilen 17-21) und schlägt insbesondere vor, dass dem Druckzylinder 4 des Lackierwerks 1 ein Numerier-, Eindruck und/oder Veredelungswerk 10 und/oder eine Perforiereinrichtung 11 zugeordnet sind.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Das Streitpatent betrifft eine Bogenrotationsdruckmaschine mit einem Lackwerk 12 (siehe Anspruch 1 und Figur 2), das aber eine vom Multifunktionsmodul getrennte Einheit darstellt. Der Fachmann, der die Lehre der Druckschrift D2 auf die Druckmaschine der Druckschrift D4 anzuwenden sucht, würde daher das Lackwerk 12 und nicht das Modul 6 verändern. Daher kann auch die Anwendung der Lehre der Druckschrift D2 auf die Druckmaschine der Druckschrift D4 nicht zu einem Gegenstand gemäß Anspruch 1 führen.
Die Druckschrift D9 befasst sich mit der formenden Bearbeitung von Papier in einer Druckmaschine (Spalte 1, Zeilen 19-21). In der Figur 1b der Druckschrift D9 ist offenbart, dass die Bearbeitungseinheit 1, welche dazu geeignet ist, das Papier wahlweise zu schneiden, zu perforieren und zu rillen (Spalte 4, Zeilen 10-12), in einem gesonderten Bearbeitungswerk 3 zwischen dem Ausleger 2 und dem Druckwerk 4 vorgesehen und dem letzten Zylinder zugeordnet ist (vgl. Spalte 3, Zeilen 45-50).
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Der Fachmann, der eine solche Bearbeitungseinheit in der Druckmaschine gemäß Druckschrift D4 vorsehen möchte, würde sie in der Einrichtung 7 zum Fördern der Bogen vorsehen (ähnlich wie in der Fig. 1a) oder aber in einem gesonderten, zusätzlichen Bearbeitungswerk, aber nicht im Multifunktionsmodul 6, da es zum einen nicht sinnvoll erscheint, den Bogen, zu schneiden, zu perforieren und zu rillen, bevor er vollständig getrocknet bzw. gepudert ist und zum andern stromabwärts vom Pudergerät 35 kein freier Raum im Modul 6 zur Verfügung steht.
Deshalb würde auch eine Kombination der Druckschriften D4 und D9 den Fachmann nicht zum Gegenstand von Anspruch 1 führen.
Die Kammer ist daher zum Schluss gelangt, dass die Beschwerdeführerin nicht überzeugend dargelegt hat, dass der Gegenstand von Anspruch 1 sich für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem ihr vorliegenden Stand der Technik ergibt.
Der Gegenstand von Anspruch 1 gilt daher als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend im Sinne von Artikel 56 EPÜ 1973.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das europäische Patent in geändertem Umfang in folgender Fassung aufrechtzuerhalten:
- Ansprüche 1 bis 4, vorgelegt in der mündlichen Verhandlung als Hilfsantrag 1;
- Beschreibung: Seite 2, vorgelegt in der mündlichen Verhandlung, und Seite 3 der Patentschrift;
- Figuren 1 bis 5 der Patentschrift.