T 0775/17 (Transportprotein/IPSEN) 10-05-2019
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Carrier zum Targeting von Nervenzellen
I. Die Beschwerde der Anmelderin (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung
Nr. 10 011 509.6 zurückzuweisen.
II. Diese Anmeldung wurde als Teilanmeldung (im weiteren auch "Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Form" oder "Anmeldung") zu der europäischen Patentanmeldung Nr. 06 724 595.1 eingereicht. Diese wiederum geht auf die internationale Anmeldung PCT/EP2006/003896 zurück, die unter der Nummer WO 2006/114308 veröffentlicht wurde (im weiteren auch "frühere Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Form" oder "frühere Anmeldung").
III. Die Prüfungsabteilung begründete die Zurückweisung der Anmeldung damit, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des ihr vorliegenden Hauptantrags und der ihr vorliegenden vier Hilfsanträge die Erfordernisse der Artikel 123(2) und 76(1) EPÜ nicht erfülle.
IV. Mit der Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin die fünf Anspruchssätze wieder ein, die auch der angefochtenen Entscheidung zu Grunde lagen.
Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"1. Ein Transportprotein, umfassend eine modifizierte schwere Kette des von Clostridium botulinum gebildeten Neurotoxins, wobei das Neurotoxin Botulinus Neurotoxin Serotyp B ist und wobei das Protein eine wenigstens 15% höhere Affinität für einen BoNT/B Rezeptor auf Nervenzellen aufweist als das native Neurotoxin; wobei der BoNT/B Rezeptor ist [sic] Synaptotagmin II, und wobei die Aminosäure in der Position Glutamat 1191 der Botulinus Neurotoxin Serotyp B Proteinsequenze [sic] durch eine natürlich vorkommende Aminosäure substituiert ist".
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass am Ende des Anspruchs nach dem Merkmal "(...) durch eine natürlich vorkommende Aminosäure substituiert ist" das folgende Merkmal eingeführt wurde: "wobei die Botulinus Neurotoxin Serotyp B Proteinsequenz mit einer Referenzsequenz ausgewählt von Datenbanknummern AAL11499, AAL11498, CAA73968, AAK97132, A48940, AAA23211, P10844, CAA50482 und I40631 entspricht".
Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 lautet wie folgt:
"1. Ein Transporterprotein, umfassend eine modifizierte schwere Kette des von Clostridium botulinum gebildeten Neurotoxins, wobei das Neurotoxin Botulinus Neurotoxin Serotyp B ist und wobei das Protein eine wenigstens 15% höhere Affinität für einen cholinergen Motoneuron aufweist als das native Neurotoxin; wobei das Protein Synaptotagmin I oder Synaptotagmin II bindet, und wobei die Aminosäure in der Position Glutamat 1191 der Botulinus Neurotoxin Serotyp B Proteinsequenz durch eine Aminosäure ausgewählt von Lysin, Glycin, Alanin, Valin, Isoleucin Methionin, Prolin, Phenylalanin oder Tryptophan substituiert ist."
Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 dadurch, dass am Ende des Anspruchs nach dem Merkmal "(...) oder Tryptophan substituiert ist" das folgende Merkmal eingeführt wurde: "wobei die Botulinus Neurotoxin Serotyp B Proteinsequenz aus einer Sequenz ausgewählt von Datenbanknummern AAL11499, AAL11498, CAA73968, AAK97132, A48940, AAA23211, P10844, CAA50482 und I40631 ist".
Anspruch 1 des Hilfsantrags 4 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrag 2 dadurch, dass am Ende des Anspruchs nach "(...) oder Tryptophan substituiert ist" das folgende Merkmal eingeführt wurde: "wobei die Botulinus Neurotoxin Serotyp B Proteinsequenz aus einer Sequenz ausgewählt von Datenbanknummer AAA23211 ist".
V. In einem Bescheid gemäß Artikel 15(1) VOBK, der als Anlage der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer beigefügt war, äußerte die Kammer ihre vorläufige Einschätzung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 aller anhängigen Anspruchssätze über den Inhalt der Teilanmeldung hinausgehe.
VI. In ihrer Erwiderung auf den Bescheid der Kammer brachte die Beschwerdeführerin weitere Argumente vor, warum die beanspruchten Gegenstände eine Stütze in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung fänden.
VII. Die mündliche Verhandlung fand wie anberaumt statt. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.
VIII. Das schriftliche und mündliche Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Änderungen (Artikel 123(2) EPÜ)
Hauptantrag - Anspruch 1
1) Anspruch 1 sei eine Kombination von als bevorzugt offenbarten Merkmalen
Die Offenbarung eines Merkmals als "bevorzugt" könne als Hinweis für eine Kombination bei einer Mehrfachauswahl gelten.
Botulinus Neurotoxin B (BoNT/B)
Ausgehend von dem konkret im Beispiel offenbarten modifizierten BoNT/B wende sich der Fachmann der Beschreibung zu und verstehe unmittelbar, dass die darin offenbarten, unterschiedlichen Merkmale von allgemeiner Anwendbarkeit seien und wende diese daher auf das modifizierte BoNT/B Transportprotein an.
Synaptotagmin II Rezeptor
Die Anmeldung offenbare explizit Synaptotagmin I und Synaptotagmin II als alternative Rezeptoren für BoNT/B (siehe Anspruch 14, sowie Seite 4, Zeilen 13 bis 17, Seite 10, Zeilen 19 bis 20 und Seite 11, Zeilen 10 bis 18 der Beschreibung). Zum Anmeldezeitpunkt sei es allgemein bekannt gewesen, dass Synaptotagmin II ein Rezeptor mit hoher Affinität für BoNT/B sei. Somit offenbare die Anmeldung auch Synaptotagmin II als primären Rezeptor für BoNT/B.
Merkmal "eine wenigstens 15% höhere Affinität"
Die Anmeldung enthalte zahlreiche Hinweise darauf, dass eine Erhöhung der Bindungsaffinität bevorzugt sei, da im Kontext einer klinischen Verwendung der Transportproteine - und keine andere Verwendung sei offenbart - eine höhere Affinität wünschenswert sei (siehe Seite 1, Zeilen 4 bis 6 und 11 bis 13; Seite 6, Zeilen 1 bis 18; Seite 23, Zeilen, 1 bis 22; Seite 23, Zeile 28 bis Seite 24, Zeile 4 und Seite 24, Zeilen 14 bis 20.
Die Anmeldung erwähne eine "höhere Affinität" an erster Stelle auf Seite 12, Zeilen 21 bis 23 und diese sei daher als bevorzugt zu erkennen. Zudem sei die 15%ige Erhöhung der Affinität explizit offenbart. Der Fachmann erkenne die generelle Anwendbarkeit dieses Werts auch auf modifizierte BoNT/B Proteine. Dass eine 90%ige Erhöhung als "insbesondere" bevorzugt offenbart sei, lenke nicht davon ab, dass eine 15% höhere Affinität als "bevorzugt" offenbart sei.
Glutamat an der Position 1191 (E1191) und Substitution durch eine natürlich vorkommende Aminosäure
Die Anmeldung enthalte zahlreiche Hinweise darauf, dass der Austausch an einer bestimmten Position bevorzugt sei, wobei die Position 1191 in dem Protein BoNT/B als eine besonders bevorzugte Position für Modifikationen offenbart sei (siehe Seite 11, Zeilen 5 bis 10; Seite 11 Zeilen 20 bis 26 und Seite 16, Zeile 25 bis Seite 17, Zeile 6).
Die Anmeldung enthalte des weiteren zahlreiche Hinweise darauf, dass eine Substitution an Position E1191 mit natürlich vorkommenden Aminosäuren bevorzugt sei (siehe Seite 17, Zeilen 3 bis 6; PCT Ansprüche 15 und 16; Seite 11, Zeilen 23 bis 26 und Seite 12, Zeile 28 bis Seite 13, Zeile 3 und Ansprüche 15 und 16). Dass eine Substitution (im Vergleich zu einer Deletion, Insertion oder Addition) bevorzugt sei, erkenne der Fachmann daraus, dass ausschließlich diese Form der Modifikation in den Beispielen verwendet werde und sich außerdem als erste mögliche Modifikation in der Liste der Modifikationen auf Seite 12, Zeile 30 finde.
2) Nichts halte den Fachmann davon ab, die Merkmale zu kombinieren
Die Anmeldung enthalte keinerlei Grund oder Hinweis, der den Fachmann davon abhielte, die Merkmale zu kombinieren, um so zum Gegenstand des Anspruchs 1 zu gelangen.
3) Anspruch 1 finde eine Basis im Beispiel
Nach ständiger Rechtsprechung sei es mit den Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ vereinbar, aus einer ursprünglich offenbarten spezifischen Ausführungsform ein isoliertes Merkmal herauszugreifen und zur Abgrenzung des Anspruchsgegenstandes zu verwenden, und zwar nämlich dann, wenn das betroffene Merkmal nicht untrennbar mit den übrigen Merkmalen der Ausführungsform verknüpft sei.
Das Beispiel der Anmeldung offenbare ein modifiziertes BoNT/B Protein, nämlich eine Mutante des BoNT/B mit der Datenbanknummer AAA23211, in welcher das Glutamat an Position 1191 mit Leucin substituiert sei. Diese Mutante binde mit einer gegenüber dem unmodifizierten Protein um 15% erhöhten Affinität an Synaptotagmin II.
Der Fachmann erkenne auf Grund der Anmeldung und seines allgemeinen Fachwissens, dass die beobachtete höhere Bindungsaffinität nicht untrennbar mit der BoNT/B mit der Datenbanknummer AAA23211 und mit Leucin an Position 1191 verbunden sei und dass andere Aminosäureaustausche an Position 1191 denselben Effekt aufwiesen.
Die Verallgemeinerung zu jedweder BoNT/B und zu jedwedem Aminosäureaustausch an Position 1191 sei daher gerechtfertigt.
4) Ansprüche 15, 14 und 5 der früheren Anmeldung
Die genannten Ansprüche der früheren Anmeldung seien als bevorzugte Ausführungsformen in der Anmeldung enthalten (siehe Seite 27, Zeile 19 bis Seite 35, Zeile 22). Anspruch 15 der früheren Anmeldung in Verbindung mit den Ansprüchen 14 und 5 offenbare den Gegenstand des Anspruchs 1.
Hilfsantrag 1 - Anspruch 1
Die für den Anspruch 1 des Hauptantrags vorgebrachten Argumente gelten sinngemäß.
Hilfsantrag 2 - Anspruch 1
Die Anmeldung offenbare, dass die Position 1191 von BoNT/B eine bevorzugte Position für eine Substitution sei (siehe Seite 17, Zeilen 3 bis 6) und dass die Substitution mit einer Aminosäure, die zu einer anderen physiko-chemischen Gruppe gehört, bevorzugt sei (Seite 13, Zeilen 11 und 12).
Die natürlicherweise an der Position 1191 vorkommende Aminosäure Glutamat (E) sei eine negativ geladene Aminosäure, während die in Anspruch 1 erwähnten Aminosäuren, wie auch Leucin, zu den unpolaren Aminosäuren gehörten.
Hilfsanträge 3 und 4 - Anspruch 1
Die bezüglich des Anspruchs 1 des Hauptantrags und des Hilfsantrags 2 vorgebrachten Argumente gelten sinngemäß.
IX. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patentes in der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Fassung des Hauptantrags, oder in der Fassung einer der ebenfalls mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 4.
1. Die Beschwerde ist zulässig, da sie die Erfordernisse der Artikel 106 bis 108 EPÜ sowie der Regel 99 EPÜ erfüllt.
Änderungen (Artikel 123(2) EPÜ)
Hauptantrag - Anspruch 1
2. Die Prüfungsabteilung entschied in der angefochtenen Entscheidung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ nicht erfülle. Die Beschwerdeführerin bestreitet dies.
3. Gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern darf jede Änderung einer europäischen Patentanmeldung nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit der Anmeldeunterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens - objektiv und bezogen auf den Anmeldetag - unmittelbar und eindeutig entnehmen kann. Diese Voraussetzungen sind auch als sogenannter "Gold-Standard" bekannt (siehe Stellungnahme der Grossen Beschwerdekammer G 3/89, ABl. EPA 1993, 117 sowie Entscheidungen der Grossen Beschwerdekammer
G 11/91 ABl. EPA 1993, 125 und G 2/10, ABl. EPA 2012, 376).
4. Es ist unstrittig, dass die Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung die beanspruchte Merkmalskombination nicht explizit offenbart. Die Beschwerdeführerin trägt vier Argumentationslinien vor, wonach der Gegenstand des Anspruchs 1 in der Anmeldung unmittelbar und eindeutig offenbart sei.
5. In ihrer ersten Argumentationslinie beruft sich die Beschwerdeführerin auf die ständige Rechtssprechung der Beschwerdekammern, wonach eine Mehrfachauswahl von Merkmalen für den Fachmann dann als unmittelbar und eindeutig aus dem Inhalt der Anmeldung ableitbar gelte, wenn es einen wie auch immer gearteten Hinweis auf eine bestimmte Kombination gebe. Im Speziellen macht die Beschwerdeführerin geltend, dass die beanspruchten Merkmale in der Beschreibung als "bevorzugt" offenbart seien und deswegen deren Kombination unmittelbar und eindeutig offenbart sei.
6. Es ist daher zu klären, ob die fraglichen Merkmale in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung tatsächlich als "bevorzugt" offenbart sind.
Merkmal "eine wenigstens 15% höhere Affinität"
7. Die Beschwerdeführerin verweist auf diverse Passagen in der Anmeldung (siehe unten, Punkte 8 bis 12). Diese ließen erkennen, dass eine Erhöhung der Bindungsaffinität der Transportproteine ein bevorzugtes Merkmal sei, da im Kontext einer klinischen Verwendung der Transportproteine - und keine andere Verwendung sei offenbart - eine höhere Affinität wünschenswert sei. Außerdem stehe auf Seite 12 die höhere Affinität an erster Stelle und erst danach sei die niedrige Affinität aufgeführt und auch daraus ergebe sich, dass eine Erhöhung der Affinität bevorzugt sei.
8. Die Anmeldung offenbare auf Seite 1 in den Zeilen 4 bis 6, dass sich die vorliegende Erfindung auf ein Transportprotein beziehe, "das an Neurone mit höherer oder niedriger Affinität bindet als das von Clostridium botulinum gebildete Neurotoxin" und weiters auf Seite 1 in den Zeilen 11 bis 13 "auf die Verwendung eines Transportproteins zur Einschleusung von Inhibitoren der Neurotransmitterausschüttung."
9. Auf Seite 6 in den Zeilen 1 bis 18, insbesondere in den Zeilen 16 bis 18, offenbare die Anmeldung, dass es darauf ankomme, "die Patienten mit Präparaten höchster Aktivität in möglichst geringer Dosierung zu behandeln."
10. Die Anmeldung offenbare auf der Seite 23 in den Zeilen 1 bis 22 die Verwendung eines Transportproteins, das durch Modifizierung der schweren Kette (HC) des von
Clostridium botulinum (C. botulinum) produzierten Neurotoxins gebildet wurde, als Transporter, um daran gebundene Proteasen in Nervenzellen einzuschleusen.
11. Gemäß Seite 23, Zeile 28 bis Seite 24, Zeile 4 der ursprünglichen Anmeldung sei es von Vorteil, wenn das Transportprotein eine höhere Transporteffizienz habe.
12. Auf Seite 24 in den Zeilen 14 bis 20 sei schließlich offenbart, dass die Verlängerung des Behandlungsintervalls das Risiko der Antikörperbildung vermindern und eine längere Dauer der Behandlung mit BoNT ermöglichen würde und auch, dass das beschriebene Transportprotein "eine höhere Affinität und Aufnahmerate als die native HC" besitze.
13. Die Kammer kann sich den Ausführungen der Beschwerde-führerin insofern anschließen, als dass die Anmeldung in den angeführten Passagen offenbart, unter welchen Umständen im Rahmen einer klinischen Anwendung des Transportproteins eine höhere Bindungsaffinität von wünschenswert ist.
14. Es ist jedoch so, dass die Anmeldung auch eine niedrigere Affinität explizit im Rahmen einer klinischen Anwendung wie folgt offenbart: "Transportproteine mit niedrigerer Affinität binden an die Nervenzellen, werden jedoch von diesen nicht aufgenommen. Diese Transportproteine eignen sich daher als spezifische Transporter zur Nervenzelloberfläche."
(siehe Seite 23, Zeile 24 bis 26).
15. Nach Ansicht der Kammer ergibt sich aus den obigen Textstellen der Anmeldung (siehe die Punkte 8 bis 14) somit nicht, dass Transportproteine mit einer höheren Affinität als der des nativen Neurotoxins generell gegenüber Transportproteinen mit einer niedrigeren Affinität bevorzugt sind.
16. Zudem erwähnt die Anmeldung an den meisten Stellen, an denen die Affinität des Transportprotein explizit offenbart wird, durchwegs beides gemeinsam, die höhere oder die niedrigere Affinität (siehe Seite 7, Zeilen 5 bis 6; Seite 8, Zeile 4 bis 5, Seite, 8, Zeile 23 bis 24; Seite 28, Zeile 6 bis 7).
17. Des weiteren offenbart die Anmeldung auf Seite 12, Zeilen 21 bis 26: "Gemäß einer bevorzugten Ausführungsform weist das Transportprotein eine wenigstens 15 % höhere Affinität oder eine wenigstens 15 % niedrigere Affinität als das native Neurotoxin auf. Vorzugsweise weist das Transportprotein eine wenigstens 50 % höhere oder niedrigere, besonders bevorzugt wenigstens 80 % höhere oder niedrigere, und insbesondere eine wenigstens 90 % höhere oder niedrigere Affinität als das native Neurotoxin auf."
18. Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich die Kammer dem Argument der Beschwerdeführerin nicht anschließen kann, dass sich aus der Erwähnung der höheren Affinität vor der niedrigeren Affinität in der Textstelle auf Seite 12 notwendigerweise eine Bevorzugung der höheren Affinität ergibt. Nach Ansicht der Kammer würde der Fachmann, auch im Lichte der in Punkt 16 zitierten Passagen, beide Möglichkeiten als gleichwertig offenbart erkennen. Überdies ist nach Auffassung der Kammer der Seite 12 kein Hinweis auf eine bevorzugte Erhöhung der Affinität um 15% entnehmbar. Die unterschiedlichen Affinitätsgrade sind nicht als gleichwertig offenbart, sondern eindeutig in aufsteigender Bevorzugung, mit 90% als dem am meisten bevorzugten Wert (siehe Punkt 17).
19. Die erste Argumentationslinie der Beschwerdeführerin greift somit alleine schon deswegen nicht, weil das Merkmal "eine wenigstens 15% höhere Affinität" in der Anmeldung nicht als "bevorzugt" offenbart ist. Ob die übrigen beanspruchten Merkmale in der Beschreibung als "bevorzugt" offenbart sind, kann somit dahin gestellt bleiben, da nach der gängigen Rechtsprechung die Kombination aus einem ursprünglich nicht als bevorzugt offenbarten Merkmal und zahlreichen weiteren, auf bevorzugten Merkmalen beruhenden Einschränkungen nicht als Änderung betrachtet wird, die mit Artikel 123(2) EPÜ vereinbar ist (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts,
8. Auflage, 2016, Punkt II.E.1.4.2; z.B. Entscheidung T 407/10, Entscheidungsgründe, Punkte 2.1.3 und 2.1.4).
20. In einer zweiten Argumentationslinie vertritt die Beschwerdeführerin die Auffassung, dass die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ erfüllt seien, da die Anmeldung keinerlei Grund oder Hinweis enthalte, der den Fachmann davon abgehalten hätte, die Merkmale zu kombinieren, um zum Gegenstand des Anspruchs 1 zu gelangen.
21. Die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts haben sich in einer Vielzahl von Entscheidungen mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Umständen eine Kombination von Merkmalen einen Gegenstand definieren kann, sodass er nicht über den Inhalt in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Die Rechtsprechung, die sich zu diesem Thema im Laufe der Jahre entwickelt hat, ist im Punkt II.E.1.4 des Buches "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 8. Auflage, 2016" zusammengefasst. Demnach ist die Abwesenheit von Hinweisen, Merkmale nicht zu kombinieren, nicht ausreichend, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass der Fachmann eine Beschreibung der Kombination klar und eindeutig der Anmeldung entnommen hätte. Im Gegenteil ist, um zu diesem Ergebnis zu kommen, die Anwesenheit von wie auch immer gearteten Hinweisen nötig.
22. Die zweite Argumentationslinie der Beschwerdeführerin kann daher auch nicht überzeugen.
23. In einer dritten Argumentationslinie bringt die Beschwerdeführerin vor, dass der Fachmann auf Grund der Anmeldung und seines allgemeinen Fachwissens erkenne, dass die im Beispiel beobachtete 15% höhere Bindungsaffinität nicht untrennbar mit dem BoNT/B mit der Datenbanknummer AAA23211 und mit Leucin an Position 1191 verbunden sei, und dass auch andere Aminosäureaustausche an Position 1191 zu demselben Effekt führen. Die Verallgemeinerung zu jedwedem BoNT/B Protein und zu jedwedem Aminosäureaustausch an Position 1191 sei daher gerechtfertigt.
24. Das Beispiel offenbart dass "[d]urch zielgerichtete Substitution von Aminosäuren innerhalb der Proteinrezeptorbindungsstelle von BoNT/B [konnte] die Interaktion mit beiden Synaptotagamin-Molekülen deutlich gesteigert (E1191L; Y1183L) bzw. abgeschwächt (V1118D; K1192) werden [konnte](Figur 1)." (siehe Seite 26, Zeilen 1 bis 5)
25. Nach Ansicht der Kammer würde der Fachmann aus den nachfolgend angeführten Gründen jedoch gerade auf Grund der Offenbarung in der Anmeldung und seines allgemeinen Fachwissens erkennen, dass die höhere Bindungsaffinität sehr wohl untrennbar mit dem spezifischen Aminosäureaustausch an Position 1191 in BoNT/B verbunden ist.
26. Erstens offenbart die Anmeldung nur einen einzigen Aminosäuretausch an Position 1191 in BoNT/B, nämlich den Austausch von Glutamat gegen Leucin, und dass dieser einen bestimmten Effekt hervorruft, nämlich eine höhere Affinität. Aus der Tatsache, dass dieser bestimmte Austausch diesen Effekt hervorruft, ergibt sich für den Fachmann jedoch noch nicht, dass jeder andere Aminosäureaustausch an dieser Position den selben Effekt haben würde. Es gehört zum Fachwissen, dass unterschiedliche Aminosäuren aufgrund ihrer unterschiedlichen Struktur unterschiedliche Eigenschaften haben. Es ist daher nicht abwegig, anzunehmen, dass, abhängig davon welche Aminosäure für den Austausch verwendet wird, unterschiedliche Effekte erzielt würden.
27. Genau dies zeigt sich für den offenbarten Aminosäureaustausch in Position 1183. Zwei Aminosäureaustausche sind beschreiben, Tyrosin zu Leucin und Tyrosin zu Arginin (Y1183L und Y1183R). Während der Austausch Y1183L die Interaktion mit beiden Synaptotagmin-Molekülen gegenüber dem Wildtyp steigert, schwächt der Austausch Y1183R die Interaktion mit beiden Synaptotagmin-Molekülen deutlich ab (siehe
Figur 1). Somit kann der Fachmann sogar der Anmeldung selbst entnehmen, dass unterschiedliche Aminosäureaustausche an ein und derselben Position entweder zu einer gegenüber dem Wildtyp erhöhten oder erniedrigten Affinität führen können.
28. Aus den oben genannten Gründen ist daher nach Ansicht der Kammer die für die Mutante BoNT/B (E1191L) beobachtete höhere Bindungsaffinität untrennbar mit den übrigen Merkmalen des Beispiels verbunden, also dem speziellen Aminosäureaustausch an der speziellen Position. Dies hat zur Folge, dass die im Beispiel beobachtet höhere Bindungsaffinität nicht zur Abgrenzung des Anspruchsgegenstandes verwendet werden kann ohne gegen Artikel 123(2) EPÜ zu verstoßen.
29. In einer vierten Argumentationslinie trägt die Beschwerdeführerin vor, dass die Ansprüche 15, 14 und 5 der früheren Anmeldung, welche als bevorzugte Ausführungsformen in der Teilanmeldung enthalten sind, den beanspruchten Gegenstand offenbaren.
30. Diese Ausführungsformen sind nachfolgend zitiert: (Hervorhebungen durch die Kammer):
"15. Das Transportprotein nach Anspruch 14, wobei mindestens eine Aminosäure in den Positionen Lysin 1113, Aspartat 1114, Serin 1116, Prolin 1117, Valin 1118, Threonin 1182, Tyrosin 1183, Phenylalanin 1186, Lysin 1188, Glutamat 1191, Lysin 1192, Leucin 1193, Phenylalanin 1194, Phenylalanin 1204, Phenylalanin 1243, Glutamat 1245, Lysin 1254, Aspartat 1255 und Tyrosin 1256 der Botulinus Neurotoxin Serotyp B Proteinsequenzen posttranslational modifiziert, und/oder addiert, und/oder deletiert, und/oder insertiert und/oder durch eine Aminosäure substituiert ist, die entweder natürlich vorkommt oder nicht natürlichen Ursprungs ist."
"14. Das Transportprotein nach einem der Ansprüche 1 bis 8, wobei das Neurotoxin Botulinus Neurotoxin Serotyp B ist und, vorzugsweise das Transportprotein an Synaptotagmin I oder II bindet".
"5. Das Transportprotein nach einem der Ansprüche 1 bis 4, wobei das Protein eine wenigstens 15 % höhere Affinität oder eine wenigstens 15 % niedrigere Affinität als das native Neurotoxin aufweist, vorzugsweise wenigstens 50 %, besonders bevorzugt wenigstens 80 %, insbesondere bevorzugt wenigstens 90 %".
31. Aus dieser Offenbarung ergibt sich, nach Ansicht der Kammer ganz offensichtlich, dass der beanspruchte Gegenstand nur durch eine Mehrfachauswahl von Merkmalen zu erzielen ist, wobei sich jedoch aus den zitierten Textstellen keinerlei Hinweis darauf ergibt, gerade die beanspruchte Merkmalskombination vorzunehmen (siehe Punkt 21, letzter Satz). Somit kann auch die letzte Argumentationslinie der Beschwerdeführerin nicht überzeugen.
32. Aus dem oben Gesagten folgt daher, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht den Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ genügt.
Hilfsantrag 1 - Anspruch 1
33. Die für Anspruch 1 des Hauptantrags dargelegten Einwände gelten sinngemäß für den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1. Dies wurde von der Beschwerdeführerin nicht bestritten. Daher genügt auch der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 den Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ nicht.
Hilfsantrag 2 - Anspruch 1
34. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags unter anderem darin, dass die die Aminosäure an der Position 1191 zu ersetzende Aminosäure spezifiziert wird.
35. Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass die Anmeldung offenbare, dass die Position 1191 im BoNT/B Protein eine bevorzugte Position für eine Substitution sei (siehe Seite 17, Zeilen 3 bis 6), dass die Substitution mit einer Aminosäure, die zu einer anderen physiko-chemischen Gruppe gehört, bevorzugt sei (siehe Seite 13, Zeilen 11 und 12) und dass die in Anspruch 1 erwähnten Aminosäuren zu den unpolaren Aminosäuren gehörten und damit zu einer anderen physiko-chemischen Gruppe als die natürlicherweise an der Position 1191 vorkommende Aminosäure Glutamat (E) bzw. zu derselben Gruppe wie Leucin (L).
36. Hierzu stellt die Kammer fest, dass die Anmeldung auf Seite 17 einen einzigen spezifischen Aminosäureaustausch an Position 1191 offenbart "insbesondere sind die Positionen Tyrosin 1183 und Glutamat 1191, welche durch Leucin ersetzt werden, bevorzugt." (Hervorhebung durch die Kammer; Seite 17, Zeilen 5 und 6).
37. Der Anmeldung ist kein expliziter Hinweis zu entnehmen, dass die Substitution an Position 1191 mit unpolaren Aminosäuren ausgewählt aus der Gruppe von Glycin, Alanin, Valin, Isoleucin, Methionin, Prolin, Phenylalanin oder Tryptophan zu einem BoNT/B Protein führt, welches die im Anspruch angegebene Eigenschaft besitzt, nämlich eine "wenigsten 15% höhere Affinität für einen cholinergen Motoneuron [...] als das native Neurotoxin". Auch aus der Tatsache, dass der Aminosäuretausch von Glutamat an der Position 1911 durch die unpolare Aminosäure Leucin in BoNT/B zu einer höheren Bindungsaffinität führt, ergibt sich für den Fachmann, wie oben in Punkt 27 ausgeführt nicht notwendigerweise, dass ein Austausch an derselben Position mit jedweder anderen unpolaren Aminosäure denselben Effekt haben wird.
38. Daher genügt der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 den Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ nicht.
Hilfsanträge 3 und 4 - Anspruch 1
39. Die für Anspruch 1 des Hilfsantrag 2 dargelegten Einwände gelten sinngemäß für den Gegenstand des Anspruch 1 der Hilfsanträge 3 und 4. Dies wurde von der Beschwerdeführerin nicht bestritten. Daher genügt der Gegenstand des Anspruchs 1 der Hilfsanträge 3 und 4 auch nicht den Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.