T 1717/17 27-11-2020
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VORRICHTUNG UND VERFAHREN ZUR BEARBEITUNG EINES VIRTUELLEN, DREIDIMENSIONALEN ZAHNMODELLS MITTELS EINES VIRTUELLEN WERKZEUGS
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Änderung nach Ladung - stichhaltige Gründe (nein)
I. Die Patentinhaberin legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 23. Mai 2017 ein.
Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, das Patent zu widerrufen.
Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Gegenstände der Ansprüche 1 und 8 des Hauptantrags (wie erteilt) und des Hilfsantrags 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhten.
Der damalige Hilfsantrag II wurde nicht zugelassen.
II. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt oder auf Grundlage eines der Hilfsanträge I-III (eingereicht mit der Beschwerdebegründung) oder auf Grundlage des Hilfsantrags IV (eingereicht mit Schreiben vom 21. Oktober 2020).
III. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Beschwerde zurückzuweisen.
IV. Am 27. November 2020 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
V. Für diese Entscheidung sind die folgenden Beweismittel relevant:
D1 EP 1 614 397 A1
E2 EP 1 622 086 A1
VI. Die unabhängigen Vorrichtungsansprüche haben folgenden Wortlaut.
Auf die Wiedergabe der unabhängigen Verfahrensansprüche wird verzichtet, da sie in dieser Entscheidung nicht behandelt werden.
a) Hauptantrag - Anspruch 1
"Vorrichtung (1) zur Bearbeitung eines virtuellen 3D-Modells (2) von in einem Kieferbogen (9, 11) angeordneten Zähnen (2.1, 2.2, 2.3, 2.4) mittels eines virtuellen Werkzeugs (21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 50), wobei das Werkzeug (21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 50) auf einen ersten Zahn (2.1, 2.3) des 3D-Modells (2) anwendbar ist, dadurch gekennzeichnet, dass die entsprechende Anwendung hinsichtlich einer Symmetrieebene (12) gespiegelt an einem zweiten zu dem ersten kontralateralen Zahn (2.2, 2.4) automatisch vorgenommen wird, also an dem Zahn auf der anderen Seite der Symmetrieebene (12), der hinsichtlich der Symmetrieebene (12) zum ersten Zahn (2.1, 2.3) gespiegelt angeordnet ist."
b) Hilfsantrag I:
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag I unterscheidet sich von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag durch die Hinzufügung der Merkmale des erteilten Anspruchs 7, wonach
"die Symmetrieebene (12, 12.1, 12.2) computergestützt
anhand des Verlaufs des Kieferbogens (9, 10)
und/oder
anhand der Anordnung und Form von Nachbarzähnen (8.1, 8.2, 8.3, 8.4, 8.4, 8.5, 8.6) des 3D-Modells (2) der zu ersetzenden Zähne (2.1, 2.2, 2.3, 2.4) und/oder
anhand der Anordnung und Form von Antagonisten der Zähne (2.1, 2.2, 2.3, 2.4) des 3D-Modells (2) bestimmbar ist."
c) Hilfsantrag II
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag II unterscheidet sich von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag durch die Hinzufügung der Merkmale der erteilten Ansprüche 4 und 6, wonach
"das Werkzeug (21, 22) eine Vergrößerung (30, 32) oder eine Verkleinerung des ersten Zahns (2.3) sowie des zweiten kontralateralen Zahns (2.4) um einen Skalierungsfaktor bewirkt
oder
das Werkzeug (44) eine Änderung der Form der Oberfläche (45) des ersten Zahns (2.3) und entsprechend eine gespiegelte Änderung der Form der Oberfläche (46) des zweiten kontralateralen Zahns (2.4) bewirkt."
d) Hilfsantrag III
Hilfsantrag III kombiniert die Merkmale der Hilfsanträge I und II.
e) Hilfsantrag IV
Ausgehend von Hilfsantrag III wurden in Hilfsantrag IV weitere Merkmale aus der Beschreibung hinzugefügt. Der Anspruch lautet folgendermaßen, wobei die Änderungen im Vergleich zu Hilfsantrag III unterstrichen sind:
"Vorrichtung (1) zur Bearbeitung eines virtuellen 3D-Modells (2) von in einem Kieferbogen (9, 11) angeordneten, zu ersetzenden Zähnen (2.1, 2.2, 2.3, 2.4) mittels eines in einem Auswahlmenü angeordneten virtuellen Werkzeugs (3; 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 50),
wobei die Vorrichtung aus einem Computersystem mit einer Anzeigeeinheit (4) und mit Bedienungsmitteln (5, 6) besteht und wobei eine optische dreidimensionale Aufnahme eines Unterkiefers (9) oder eines Oberkiefers (11) eines Patienten (10) auf dem Bildschirm (4) angezeigt ist und wobei das virtuelle 3D- Modell der zu ersetzenden Zähne in der optischen dreidimensionalen Aufnahme angeordnet ist, wobei das von einem Benutzer mittels der Bedienungsmittel aus dem Auswahlmenü auswählbare Werkzeug (3; 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 50) auf den ersten zu ersetzenden Zahn (2.1, 2.3) des 3D-Modells (2) anwendbar ist,
dadurch gekennzeichnet, dass die Bedienungsmittel (5, 6) zur Anwendung des virtuellen Werkzeugs am ersten, zu ersetzenden Zahn (2.1, 2.3) durch den Benutzer geeignet sind und dass eine der Anwendung des virtuellen Werkzeugs am ersten Zahn entsprechende Anwendung des Werkzeugs hinsichtlich einer Symmetrieebene (12) gespiegelt an einem zweiten zu ersetzenden, zu dem ersten kontralateralen Zahn (2.2, 2.4) automatisch vorgenommen wird, also an dem Zahn auf der anderen Seite der Symmetrieebene (12), der hinsichtlich der Symmetrieebene (12) zum ersten zu ersetzenden Zahn (2.1, 2.3) gespiegelt angeordnet ist,
wobei bei der Anwendung des Werkzeugs (3; 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 50) hervorgerufene Änderungen am ersten zu ersetzenden Zahn (2.1, 2.3) und am zweiten zu ersetzenden, kontralateralen Zahn (2.2, 2.4) anzeigbar sind,
wobei das Werkzeug (21, 22) eine Vergrößerung (30, 32) oder eine Verkleinerung des ersten Zahns (2.3) sowie des zweiten kontralateralen Zahns (2.4) um einen Skalierungsfaktor bewirkt
oder wobei das Werkzeug (44) eine Änderung der Form der Oberfläche (45) des ersten Zahns (2.3) und entsprechend eine gespiegelte Änderung der Form der Oberfläche (46) des zweiten kontralateralen Zahns (2.4) bewirkt,
wobei die Symmetrieebene (12, 12.1, 12.2) computergestützt anhand des Verlaufs des Kieferbogens (9, 10) und/oder anhand der Anordnung und Form von Nachbarzähnen (8.1, 8.2, 8.3, 8.4, 8.4, 8.5, 8.6) des 3D-Modells (2) der zu ersetzenden Zähne (2.1, 2.2, 2.3, 2.4) und/oder anhand der Anordnung und Form von Antagonisten der Zähne (2.1, 2.2, 2.3, 2.4) des 3D-Modells (2)bestimmbar ist."
VII. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
Zulassung von Hilfsantrag II
Hilfsantrag II sei als Reaktion auf die in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung erstmals erhobenen Einwände auf Grundlage von E3 eingereicht worden.
Hilfsantrag II sei konvergierend, weil Anspruch 1 gegenüber dem Hauptantrag durch die Gegenstände der Ansprüche 4 und 6 eingeschränkt worden sei.
Zulassung von Hilfsantrag III
Die Beschwerdeführerin hätte beabsichtigt, den Hilfsantrag III bereits im Einspruchsverfahren einzureichen, was jedoch nicht gestattet worden sei. Dieser Antrag sei konvergent, da er den Gegenstand des Anspruchs weiter einschränke.
Zulassung von Hilfsantrag IV
Im vorliegenden Fall gälten die Übergangsbestimmungen gemäß Artikel 25(2) VOBK 2020 und somit treffe Artikel 12(4) der VOBK 2007 zu. Die Anforderungen des Artikel 12(4) VOBK 2007 seien erfüllt.
Der neue Hilfsantrag IV sei nicht als verspätet zu beurteilen, da er als direkte Reaktion auf die geänderte vorläufige Meinung der Kammer eingereicht wurde, dass Anspruch 1 des Hauptantrags nicht neu gegenüber E1 sei. Diese Meinung hätte der Auffassung der Einspruchsabteilung widersprochen. Der Antrag räume auch prima facie alle bisher erhobenen Einwände zur Neuheit und erfinderischen Tätigkeit aus.
Hauptantrag - Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
Der Gegenstand des Hauptantrags sei erfinderisch ausgehend von D1 in Kombination mit E2.
Im Streitpatent würden zwei zu ersetzende Zähne modelliert und gleichzeitig angepasst, wohingegen in D1 ein vorhandener Zahn gespiegelt und nur der gespiegelte Zahn angepasst würde. Eine gespiegelte Anwendung werde durch die D1 nicht offenbart.
Der Fachmann würde E2 nicht mit D1 kombinieren, weil E2 ein völlig anderes Fachgebiet betreffe. Selbst wenn der Fachmann E2 in Betracht ziehen würde, sei das Computerprogramm der E2 nicht geeignet für die Anwendung in der Zahnmedizin, da es lediglich einfache geometrische Formen bearbeiten könne. Außerdem sei es nicht geeignet für die Bearbeitung von separierten Zähnen, sondern nur von einzelnen Objekten.
Hilfsantrag I - Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
Gemäß Hilfsantrag I werde die Symmetrieebene computergestützt bestimmt. In D1 werde die gespiegelte Komponente dagegen manuell, und ohne Nutzung einer Symmetrieebene in Position geschoben. D1 offenbare keine Symmetrieebene, die computergestützt automatisch bestimmt werde. Auch in E2 würde der Fachmann zum Spiegeln eine beliebige Ebene verwenden, die nicht anhand der Gegebenheiten des Patienten bestimmt werde. Bei der Erfindung gemäß Hilfsantrag I sei aber die Lage der Symmetrieebene wichtig für die korrekte Anwendung des Werkzeugs auf die Zähne.
Hilfsantrag III - Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
Gemäß Hilfsantrag III bewirke das Werkzeug eine Vergrößerung oder eine Verkleinerung der Zähne um einen Skalierungsfaktor. Die Skalierung in E2 beziehe sich auf das gesamte dargestellte Objekt, wohingegen in der Vorrichtung gemäß Anspruch 1 die Zähne unter Berücksichtigung der anatomischen Umgebung einzeln segmentiert werden müssten. Der Algorithmus der E2 sei aber nicht geeignet, einzelne Zähne zu skalieren. In D1 würden keine kompletten Zähne, sondern nur Teile der Zahnoberfläche bearbeitet. Außerdem werde die Größenanpassung dieser Oberflächen nicht dreidimensional, sondern nur in einer Ebene durchgeführt.
VIII. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
Zulassung von Hilfsanträgen II und III
Hilfsantrag II hätte im Einspruchsverfahren vorgebracht werden können und sollen und damals nicht verspätet, sondern rechtzeitig. Zusätzlich divergiere Hilfsantrag II gegenüber Hilfsantrag I.
Auch Hilfsantrag III hätte bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht werden sollen.
Zulassung von Hilfsantrag IV
Es gebe keine Meinungsänderung der Kammer, da die Kammer nur eine einzige Meinung in ihrer Mitteilung geäußert habe.
Die Beschwerdegegnerin habe mit der Antwort auf die Beschwerdebegründung einen Neuheitseinwand auf Grund von E1 vorgebracht, auf den die Beschwerdeführerin am 26. Juni 2020 geantwortet habe, jedoch ohne einen Hilfsantrag IV einzureichen. Dieser wurde erst nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht. Somit sei Artikel 13(2) VOBK 2020 anzuwenden. Da keine außergewöhnlichen Umstände vorlägen, sei der Hilfsantrag IV nicht zuzulassen.
Hauptantrag - Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
Dokument D1 offenbare den Oberbegriff des Anspruchs 1. Entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung offenbare D1 aber nicht nur die Bearbeitung eines einzelnen Zahns mit Hilfe von Spiegelung eines vorhandenen Zahns, sondern auch die Bearbeitung von zwei jeweils kontralateralen Zähnen gleichzeitig (D1, Absätze [0041]-[0043]). Daher sei die objektive Aufgabe eine zeitsparende Bearbeitung unter Beibehaltung der Symmetrie der modellierten Zähne. E2 offenbare ein System zum Duplizieren einer ausgewählten Komponente mittels Spiegelung und zur gleichzeitigen Bearbeitung der Originalkomponente und der gespiegelten Komponente. Dies sei genau die Situation, die in D1 (Absätze [0041]-[0043]) vorliege, weshalb der Fachmann die Lehre der E2 mit D1 kombinieren würde und zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangen würde.
Hilfsantrag I - Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
In D1 werde die Spiegelung eines ersten Frontzahn-Modells von der rechten auf die linke Seite beschrieben. Die Spiegelebene werde mit Hilfe des Computers zwischen den rechten und linken Frontzähnen angeordnet.
Hilfsantrag III - Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
E2 offenbare eine Größenanpassungsfunktion, die durch das "scale icon 606" aktiviert werden könne. Dies ermögliche die Größenanpassung wie sie in D1 vorgeschlagen worden sei.
1. Nichtzulassung der Hilfsanträge II und IV
1.1 Hilfsantrag II
Nach der etablierten Rechtsprechung der Beschwerdekammern hängt die Entscheidung über die Zulassung von Anträgen im Beschwerdeverfahren unter anderem davon ab, ob die Gegenstände der Anträge konvergieren oder ob sie von den Gegenständen höherrangiger Anträge divergieren, d.h. ob die verschiedenen Anträge sich zunehmend einschränken oder ob sie auf Grund unterschiedlicher Merkmale in verschiedene Richtungen laufen (siehe Rechtsprechung der BK, 9. Auflage, V.A.4.12.4).
Im vorliegenden Hilfsantrag II wurden die im Hilfsantrag I hinzugefügten Merkmale, die auf dem erteilten Anspruch 7 basierten, wieder gestrichen. Sie wurden durch die Merkmale der erteilten Ansprüche 4 und 6 ersetzt. Die hinzugefügten Merkmale des Hilfsantrags I bezogen sich auf die Bestimmung der Symmetrieebene. Die hinzugefügten Merkmale des Hilfsantrags II beziehen sich dagegen auf die genauere Art der Bearbeitung der Zähne, nämlich Größenanpassung oder Verformung der Oberfläche. Daher verfolgt die Patentinhaberin mit ihrem Hilfsantrag II keine konsistente Verteidigungslinie, da der Gegenstand des Hilfsantrags II gegenüber dem Gegenstand des Hilfsantrags I divergiert.
Aus diesem Grund wird der Hilfsantrag II nicht in das Verfahren zugelassen.
1.2 Hilfsantrag III
Hilfsantrag III wurde bereits mit der Beschwerdebegründung eingereicht. Er schränkt den Anspruchsgegenstand durch die aufgenommenen Merkmale aus dem ursprünglichen Anspruch 7 weiter ein, erfüllt also das Kriterium der Konvergenz.
Daher wird Hilfsantrag III in das Verfahren zugelassen.
1.3 Hilfsantrag IV
Hilfsantrag IV wurde mit Schreiben vom 21. Oktober 2020 eingereicht, also nach der Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 31. Juli 2020. In Hilfsantrag IV wurden zahlreiche weitere Merkmale aus der Beschreibung in den Anspruch eingefügt. Der Hilfsantrag IV stellt daher eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdeführerin dar, die entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht den Vorschriften des Artikels 12 VOBK 2007 sondern denen des Artikels 13 VOBK 2020 unterliegen.
Gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020, der im vorliegenden Fall gemäß den Übergangsbestimmungen, Artikel 25(2) VOBK 2020, anzuwenden ist, bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
Die Beschwerdeführerin argumentierte, Hilfsantrag IV sei zuzulassen, weil er als eine direkte Reaktion auf die Meinungsänderung der Beschwerdekammer eingereicht worden sei, nämlich dass Anspruch 1 des Hauptantrags nach vorläufiger Meinung der Kammer nicht neu gegenüber E1 sei. Dies hätte der Auffassung der Einspruchsabteilung widersprochen.
Unabhängig davon, dass eine von der Einspruchsabteilung abweichende Auffassung keine Meinungsänderung der Kammer darstellt, war der Neuheitseinwand auf Grundlage von E1 bereits seit dem Einspruchsverfahren, und zwar seit der Einspruchsschrift, bekannt und wurde erneut mit der Beschwerdeerwiderung vorgebracht. Die Beschwerdeführerin wurde also nicht erst durch die Mitteilung der Kammer damit konfrontiert, denn die vorläufige Meinung der Kammer basierte ausschließlich auf Argumenten der Beschwerdegegnerin und hatte keine neuen oder für die Beschwerdeführerin überraschenden Einwände aufgeworfen. Unter solchen Umständen kann eine Mitteilung der Kammer nach Artikel 15(1) VOBK 2020 die Einreichung neuer Hilfsanträge, die schon früher hätten eingereicht werden können, nicht rechtfertigen.
Daher liegen keine außergewöhnlichen Umstände vor, derentwegen Hilfsantrag IV nach Artikel 13(2) VOBK 2020 zugelassen werden könnte.
2. Hauptantrag - Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
2.1 Die Beschwerdegegnerin hatte den Einwand erhoben, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags ausgehend von D1 in Kombination mit E2 nicht erfinderisch sei.
2.2 Dokument D1 offenbart (Absätze [0022]-[0030]) eine Vorrichtung, bei der in einem 3D-Modell die Oberfläche eines vorhandenen Zahns aufgenommen und gespiegelt wird, um sie dann als Oberfläche eines herzustellenden Zahns zu verwenden. Die gespiegelte Oberfläche kann an die Gegebenheiten des herzustellenden Zahns in Größe und Lage angepasst werden.
In den Worten des Anspruchs 1 offenbart D1 also eine Vorrichtung zur Bearbeitung eines virtuellen 3D-Modells von in einem Kieferbogen angeordneten Zähnen (11, 21, 30, 30') mittels eines virtuellen Werkzeugs (32), wobei das Werkzeug auf einen ersten Zahn (30') des 3D-Modells anwendbar ist.
Gemäß Absätzen [0041]-[0043] kann auch der gesamte Frontzahnbereich versorgt werden. Dabei wird für einen ersten Zahn eine (patientenfremde) Vorlage verwendet und zur Verwendung am kontralateralen Zahn gespiegelt. Gemäß Absatz [0042] können die gespiegelten Flächen auch skaliert werden.
D1 offenbart daher auch, dass zwei bezüglich einer Symmetrieebene gespiegelte Zahnersatzteile Teile des beschriebenen 3D-Modells sind, wobei auf zumindest einen dieser Zähne eine Anwendung zur Größenanpassung angewandt wird.
2.3 Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich daher von diesem Stand der Technik dadurch, dass "die entsprechende Anwendung hinsichtlich einer Symmetrieebene gespiegelt an einem zweiten zu dem ersten kontralateralen Zahn automatisch vorgenommen wird, also an dem Zahn auf der anderen Seite der Symmetrieebene, der hinsichtlich der Symmetrieebene zum ersten Zahn gespiegelt angeordnet ist".
2.4 Diese unterscheidenden Merkmale haben den Effekt, dass die Anpassung beider Zähne einander entsprechend und symmetrisch vorgenommen werden kann. Die zu lösende Aufgabe ist daher eine zeitsparende Bearbeitung unter Beibehaltung der Symmetrie der modellierten Zähne.
2.5 E2 offenbart eine Vorrichtung (900) mit einem Programm, das geeignet ist, 3D-Modelle zu bearbeiten. Insbesondere beschreibt E2 verschiedene Werkzeuge (deformation icons 110) die auf ein 3D-Modell angewendet werden können um es zu bearbeiten. Eines dieser Werkzeuge stellt eine Skalierungsfunktion zur Verfügung (scale icon 606, Absatz [0026]). In Absatz [0031] wird beschrieben, dass eine Komponente des Modells gespiegelt werden kann und die Wirkung eines Werkzeugs dann auf die Originalkomponente und auf die gespiegelte Komponente gleichzeitig angewendet werden kann.
2.6 Ausgehend von D1, und vor die Aufgabe gestellt, die Symmetrie der zunächst spiegelsymmetrischen Zahnmodelle (D1, Absatz [0041]) während der Anpassung zu erhalten und die Anpassung der Zahnmodelle zeitsparend zu erledigen, ist dem Fachmann aus seinem allgemeinen Fachwissen klar, dass eine Symmetrie am einfachsten dadurch erhalten wird, dass auf beiden Seiten der Spiegelebene die gleichen Veränderungen durchgeführt werden. Die in der E2 offenbarte Vorrichtung ist für den allgemeinen Gebrauch im Bereich der 3D-Modellierung beschrieben. Daher würde der Fachmann die E2 für die spezielle Situation der Kiefer- und Zahnmodellierung in Betracht ziehen. Im Hinblick auf E2 würde der Fachmann erkennen, dass die dort beschriebene gleichzeitige Skalierung der Modellkomponenten genau die genannte Funktion hat und die gestellte Aufgabe löst.
Zusammenfassend ist die Funktion der Merkmale des kennzeichnenden Teils von Anspruch 1 naheliegend ausgehend von D1, wobei E2 dem Fachmann die technischen Möglichkeiten und Merkmale aufzeigt, wie diese Funktion erreicht werden kann.
2.7 Die Beschwerdeführerin argumentierte, der Fachmann würde E2 nicht mit D1 kombinieren, weil E2 in einem völlig anderen Fachgebiet veröffentlicht worden sei.
Da der Gegenstand des Anspruchs 1 eine Vorrichtung zur Bearbeitung eines 3D-Modells von Zähnen ist, ist es jedoch zu erwarten, dass der Fachmann sich im Bereich der allgemeinen Technologie zur Modellierung von dreidimensionalen Gegenständen über die technischen Möglichkeiten informiert.
Gemäß der Beschwerdeführerin würden im Streitpatent zwei zu ersetzende Zähne modelliert und gleichzeitig angepasst, wohingegen in D1 ein vorhandener Zahn gespiegelt und nur der gespiegelte Zahn angepasst würde. Eine gespiegelte Anwendung werde durch die D1 nicht offenbart.
Die Absätze [0041]-[0043] der D1 beschreiben jedoch die Situation, in der zur "Versorgung des gesamten Frontzahnbereichs" "der Frontzahn der rechten Seite unmittelbar und der Frontzahn der linken Seite[n] mit einer gespiegelten Vorlage versorgt werden", d.h. zwei jeweils kontralaterale Zähne werden gleichzeitig ersetzt.
Die Beschwerdeführerin argumentierte schließlich, das Computerprogramm der E2 sei nicht für die Anwendung in der Zahnmedizin geeignet, da es lediglich einfache geometrische Formen bearbeiten könne. Außerdem sei es nicht geeignet für die Bearbeitung von separierten Zähnen, sondern nur von einzelnen Objekten.
Die in Figuren 1 und 6 der E2 dargestellten Objekte sind jedoch ähnlich komplex aufgebaut wie Zähne. Die gespiegelte Anwendung eines Werkzeugs, die in Absatz [0031] beschrieben ist, bezieht sich eindeutig auf zwei Komponenten, die einander entsprechend und gespiegelt bearbeitet werden.
2.8 Daher ist der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags nicht erfinderisch ausgehend von D1 in Kombination mit E2.
3. Hilfsantrag I - Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
3.1 Gegenüber dem Hauptantrag wurde in Hilfsantrag I, erste Alternative, das Merkmal hinzugefügt, wonach die Symmetrieebene computergestützt anhand des Verlaufs des Kieferbogens bestimmbar ist.
3.2 In der in den Absätzen [0041]-[0043] der D1 beschriebenen Situation, bei der der gesamte Frontalzahnbereich versorgt wird, wird beispielsweise beschrieben wie ,,der Frontzahn auf der rechten Seite unmittelbar und der Frontzahn der linken Seite mit einer gespiegelten Vorlage versorgt" wird. Anders als von der Beschwerdeführerin vorgetragen, muss somit zwingend zur Durchführung der Spiegelung eine Symmetrieebene der Spiegelung zwischen den beiden zu ersetzenden Frontzähnen gegeben sein. Die Bestimmung der Symmetrieebene muss sich dabei zumindest näherungsweise nach dem Verlauf des Kieferbogens richten. Eine vom Kieferbogen völlig unabhängige Anordnung der Symmetrieebene ist praxisfremd, da ja die zu ersetzenden Zähne in dem Kieferbogen positioniert werden sollen. Somit offenbart D1 auch, dass die Symmetrieebene ,,anhand des Verlaufs des Kieferbogens" bestimmt wird.
3.3 Die Beschwerdeführerin war der Auffassung, D1 offenbare keine Symmetrieebene, die computergestützt automatisch bestimmt werde.
Hierzu ist anzumerken, dass "computergestützt" (Anspruch 1 des Hilfsantrags I) nicht die gleiche Bedeutung hat wie "automatisch". "Computergestützt" bedingt lediglich eine Unterstützung durch den Computer, aber keine automatische Bestimmung durch den Computer.
Da sowohl das in D1 als auch das in E2 beschriebene Verfahren auf einem Computer abläuft, ist dort auch offenbart, dass die Symmetrieebene "computergestützt" bestimmbar ist. Selbst wenn der Nutzer die Ebene quasi manuell positioniert, ist dabei immer noch der Computer unterstützend wirksam.
3.4 Daher beruht der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags I ausgehend von D1 in Kombination mit E2 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
4. Hilfsantrag III - Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
4.1 In Hilfsantrag III, erste Alternative, wurde ausgehend von Hilfsantrag I das Merkmal hinzugefügt, wonach das Werkzeug eine Vergrößerung oder eine Verkleinerung des ersten Zahns sowie des zweiten kontralateralen Zahns um einen Skalierungsfaktor bewirkt.
4.2 Eine Skalierung, also Größenanpassung, wird bereits in D1, Absatz [0042] genannt. Jede Skalierung impliziert auch einen Skalierungsfaktor.
4.3 Die Beschwerdeführerin argumentierte, die Skalierung in E2 beziehe sich auf das gesamte dargestellte Objekt, wohingegen in der Vorrichtung gemäß Anspruch 1 die Zähne unter Berücksichtigung der anatomischen Umgebung zunächst einzeln segmentiert werden müssten. Der Algorithmus der E2 sei aber nicht geeignet, einzelne Zähne zu skalieren.
Die separate Bearbeitung der Zähne ist jedoch bereits in der D1 offenbart. Daher ist es mit der Vorrichtung der D1 möglich, die einzelnen Zahnmodelle zu skalieren, während die umgebenden Zähne und der Kieferbogen unverändert bleiben, ohne dabei auf ein Verfahren nach E2 zurückgreifen zu müssen. Somit ist es irrelevant, ob E2 dazu geeignet ist, Zähne zunächst zu segmentieren und erst danach zu skalieren.
Die Beschwerdeführerin argumentierte, in D1 würden keine kompletten Zähne, sondern nur Teile der Zahnoberfläche bearbeitet. Außerdem werde die Größenanpassung dieser Oberflächen nicht dreidimensional, sondern nur in einer Ebene durchgeführt (Absatz [0022], Figur 5).
Die in D1 beschriebenen Zahnoberflächen sind jedoch naturgemäß dreidimensional, weil sie im Raum gekrümmt sind. Daher ist davon auszugehen, dass auch die Größenanpassung in drei Dimensionen stattfindet. Die Unterscheidung zwischen einem ganzen Zahn und Teilen seiner Oberfläche ist bei Betrachtung des Vorrichtungsanspruchs nicht relevant, da eine Vorrichtung zum Bearbeiten eines Zahnteiles auch zur Bearbeitung eines gesamten Zahns eingerichtet ist.
4.4 Daher beruht der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags III ausgehend von D1 in Kombination mit E2 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.