T 0193/18 27-07-2021
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Verfahren zur Verteilung von elektrischer Energie in einem Stromnetzwerk mit einer Vielzahl von Verteilungsnetzzellen
Beschwerdeentscheidung - Zurückverweisung an die erste Instanz (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - angefochtene Entscheidung begründet (nein)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - entspricht der Billigkeit wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels (ja)
I. Die Beschwerde der Patentanmelderin betrifft die Entscheidung der Prüfungsabteilung, mit welcher die europäische Patentanmeldung Nr. 12 002 956.6 aufgrund mangelnder erfinderischer Tätigkeit ausgehend vom einzigen in der Europäischen Recherche ermittelten Dokument D1 (WO 2010/081165 A2) zurückgewiesen worden ist.
II. Die Beschwerdeführerin beantragte in ihrer Beschwerdebegründung, der Beschwerde abzuhelfen und ein Patent auf der Grundlage der am 18. Februar 2016 eingereichten Patentansprüche 1 bis 6, welche auch der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen, sowie der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Beschreibungsseiten 2a und 2b zu erteilen.
Hilfsweise beantragte die Beschwerdeführerin, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Prüfungsverfahren fortzusetzen sowie die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen. Weiter hilfsweise beantragte sie, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.
III. In einer Mitteilung gemäß Regel 100 (2) EPÜ informierte die Kammer die Beschwerdeführerin darüber, dass sie den Antrag auf Erteilung eines Patents für nicht gewährbar halte, da das Prüfungsverfahren noch nicht abgeschlossen sei, sowie dass die Kammer beabsichtige, die Angelegenheit zur weiteren Prüfung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen und die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen.
IV. Mit Schreiben vom 21. April 2021 beantragte die Beschwerdeführerin die Zurückverweisung der Angelegenheit sowie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
V. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Verfahren zur Verteilung von elektrischer Energie in einem Stromnetzwerk (1) mit einer Vielzahl von selbständig führbaren Verteilungsnetzzellen (4.1, 4.2), von denen eine jede Verteilungsnetzzelle eine Vielzahl von selbständigen elektrischen Verbraucher-/Erzeugereinheiten (8.1.1 bis 8.n.m) enthält, die elektrische Energie aus der Verteilungsnetzzelle (4.1, 4.2) entnehmen und/oder in die Verteilungsnetzzelle (4.1, 4.2) einspeisen, und die jeweils über eine bidirektionale Kommunikationsschnittstelle (10) Informationen in Form von Preis-/Anreizkurven und Bedarfs-/Bereitstellungskurven mit einer dezentralen Berechnungseinheit austauschen,
dadurch gekennzeichnet, dass
jede Verteilungsnetzzelle (4.1, 4.2) jeweils einen Netzautomaten (14) aufweist, dem eine erste Vielzahl von eigenständigen Berechnungseinheiten (12.1 bis 12.n) zugeordnet ist, von denen eine jede Berechnungseinheit (12.1 bis 12.n) jeweils über eine bidirektionale Kommunikationsschnittstelle (10) mit einer zweiten Vielzahl von Verbraucher-/Erzeugereinheiten (8.1.1 bis 8.n.m) verbunden ist, dass jede der ersten Vielzahl von Berechnungseinheiten (12.1 bis 12.n) auf der Basis prognostizierter Marktpreiskurven (20) eine der Verbraucher-/Erzeugereinheit (8.1.1 bis 8.n.m) zugeordnete vorläufige Gesamtpreiskurve (22) für die während eines vorgegebenen Zeitraums (T) entnommene oder eingespeiste Menge an elektrischer Energie ermittelt und diese der zweiten Vielzahl von zugeordneten Verbraucher/Erzeugereinheiten (8.1.1 bis 8.n.m) über die jeweilige bidirektionale Kommunikationsschnittstelle (10) zuführt, dass jede der bidirektionalen Kommunikationsschnittstellen (10) aus der vorläufigen Gesamtpreiskurve (22) eine voraussichtliche Lastbedarfs/Einspeisekurve (24) für die von der jeweiligen Verbraucher-/Erzeugereinheit (8.1.1 bis 8.n.m) in dem vorgegebenen Zeitraum (T) benötigte oder angebotene elektrische Leistung ermittelt und diese zurück an die zugehörige Berechnungseinheit (12.1 bis 12.n) übersendet, dass jede der ersten Vielzahl von Berechnungseinheiten (12.1 bis 12.n) aus den voraussichtlichen Lastbedarfskurven/Einspeisekurven (24) aller ihr zugeordneten Verbraucher-/Erzeugereinheiten (8.1.1 bis 8.n.m) eine Gesamtbedarfskurve/Gesamteinspeisekurve (26.1 bis 26.n) für die in dem Zeitraum voraussichtlich benötigte oder gelieferte Menge an elektrischer Energie bestimmt, dass jede der ersten Vielzahl von Berechnungseinheiten (12.1 bis 12.n) die von ihr bestimmte Gesamtbedarfskurve/Gesamteinspeisekurve (26.1 bis 26.n) an den Netzautomaten (14) übermittelt, dass der Netzautomat (14) aus den ihm von der ersten Vielzahl von Berechnungseinheiten (12.1 bis 12.n) übersandten voraussichtlichen Gesamtbedarfskurven/Gesamteinspeisekurven (26.1 bis 26.n) eine kumulierte Gesamtbedarfskurve/Gesamteinspeisekurve (28) für die Verteilungsnetzzelle (4.1, 4.2) bestimmt und auf Basis von dieser ermittelt, ob der prognostizierte Energiefluss in der Verteilungsnetzzelle (4.1, 4.2) einen vorgegebenen Wert überschreitet, und
dass die Berechnungseinheiten (12.1 bis 12.n) die voraussichtliche Gesamtbedarfskurve/Gesamteinspeisekurve (26.1 bis 26.n) durch Addition der ihnen von den jeweils zugeordneten Verbraucher/Erzeugereinheiten (8.1.1 bis 8.n.m) übersandten voraussichtlichen Lastbedarfskurven/ Einspeisekurven (24) ermitteln."
Die Ansprüche 2 bis 6 sind von Anspruch 1 abhängig.
VI. Die für das Verfahren wesentlichen Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
Die Argumentation der Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung sei nicht nachvollziehbar. So beschränke sich die Zuordnung der Merkmale des Anspruchs 1 in der angefochtenen Entscheidung allein darauf, dass mosaikartig und zusammenhanglos irgendwelche Figurenbezeichnungen, Bezugsziffern oder auch Textpassagen in Klammern in die jeweiligen Anspruchsmerkmale einfügt würden, ohne dass hierzu im Einzelnen konkret Stellung bezogen werde, warum sich aus diesen das jeweilige Merkmal überhaupt entnehmen lasse. Dies stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, welcher die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertige. Zudem hätte Abhilfe gewährt werden müssen.
1. Zulässigkeit der Beschwerde
Die Beschwerde wurde frist- und formgerecht eingereicht und ausreichend substantiiert. Folglich ist die Beschwerde zulässig.
2. Entscheidung im schriftlichen Verfahren - Artikel 116 EPÜ
Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde nachrangig zu den Anträgen auf Abhilfe, Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Erteilung eines Patents, Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung sowie auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr gestellt. Da die Kammer, gestützt auf die in der Mitteilung nach Regel 100(2) EPÜ erwähnten Gründe, den Anträgen auf Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung sowie auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr stattgibt, ist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Sinne des Artikels 116 EPÜ weder zweckdienlich, noch erforderlich. Die Entscheidung kann daher im schriftlichen Verfahren erlassen werden (Artikel 12(8) VOBK 2020).
3. Begründetheit der angefochtenen Entscheidung - Regel 111 (2) EPÜ
Die angefochtene Entscheidung ist nicht ausreichend begründet im Sinne der Regel 111 (2) EPÜ.
3.1 Die Beschwerdeführerin hat bereits während des Verfahrens vor der Prüfungsabteilung gerügt, dass die Argumentation der Prüfungsabteilung zur mangelnden Neuheit bzw. erfinderischen Tätigkeit nicht nachvollziehbar sei (siehe das Schreiben der Beschwerdeführerin vom 29. November 2016, Seite 3, letzter Absatz).
Dies hat die Prüfungsabteilung ebenso wenig zum Anlass genommen, ihre mehrheitlich nur aus Angaben von Figurenbezeichnungen, Bezugsziffern oder auch Textpassagen des Dokuments D1 in Klammern hinter den jeweiligen Verfahrensschritten des Anspruchs 1 bestehende Begründung zu präzisieren oder zu überdenken, wie die Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin, in der diese sich hinsichtlich der Merkmale 1.4 bis 1.7 detailliert äußert, warum sie der Ansicht ist, die entsprechenden Merkmale seien in D1 nicht verwirklicht.
Die in der angefochtenen Entscheidung lediglich in Klammern hinter den oben genannten Anspruchsmerkmalen angegebenen Figurenbezeichnungen, Bezugsziffern oder auch Textpassagen des Dokuments D1 stellen keine ausreichende Begründung im Sinne der Regel 111 (2) EPÜ dar. Insbesondere fehlen Ausführungen zu entscheidenden Streitpunkten, d.h. den detaillierten Gegenargumenten der Beschwerdeführerin, damit die Beschwerdeführerin eine Vorstellung davon erhält, warum ihr Vorbringen nicht überzeugt.
3.2 In Reaktion auf die Rüge der Beschwerdeführerin hin, die einzelnen Merkmale des Anspruchs 1 seien nicht explizit in D1 nachgewiesen worden verweist die angefochtene Entscheidung lediglich pauschal auf den zugehörigen Erweiterten Europäischen Recherchenbericht und stellt die Behauptung auf, die Merkmale seien natürlicherweise bereits darin identifiziert worden.
Diese Behauptung hält der Überprüfung durch die Kammer nicht Stand. Zum einen stellt ein Erweiterter Europäischer Recherchenbericht keinen Bescheid im Sinne des Artikels 94 (3) EPÜ dar. Zum anderen enthält dieser unter Punkt 2.1 lediglich dieselbe mehrheitlich nur aus in Klammern angegebenen Figurenbezeichnungen, Bezugsziffern oder auch Textpassagen des Dokuments D1 hinter den jeweiligen Verfahrensschritten des Anspruchs 1 bestehende Begründung.
Mithin scheint die Argumentation in der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich aller, mit Ausnahme der letzten aus dem ursprünglichen Anspruch 2 hinzugetretenen Merkmale, lediglich eine unmittelbare Kopie des Erweiterten Europäischen Recherchenberichts zu sein. Weitere Argumente zu den verbleibenden Merkmalen des Anspruchs 1, d.h. den Merkmalen des ursprünglichen Anspruchs 1, enthält die angefochtene Entscheidung nicht. Es ist daher weder für die Beschwerdeführerin noch für die Kammer möglich anhand der Begründung prüfen zu können, ob die Entscheidung gerechtfertigt ist oder nicht.
3.3 Zudem bestehen, soweit die Angaben der Prüfungsabteilung überhaupt nachprüfbar sind, auch inhaltliche Widersprüche in der Begründung der Prüfungsabteilung die ebenfalls zur mangelnden Substantiierung beitragen.
Beispielsweise werden sowohl zum Nachweis der Verbraucher-/Erzeugereinheiten, als auch zum Nachweis der Berechnungseinheiten jeweils identische Bezugszeichen (320, 322, 324) aus D1 verwendet, ohne dass erläutert würde, welches Bezugszeichen genau welchem Anspruchsmerkmal entsprechen soll oder warum sich die beiden eindeutig unterschiedlichen Anspruchsmerkmale aus identischen Bezugszeichen der selben Figur ergeben sollten. Außerdem ist nicht einmal klar, ob nicht noch weitere Bezugszeichen gemeint sind, da jeweils noch "etc." hinter den genannten Bezugszeichen mit angeführt ist.
Als weiteres Beispiel entsprechen die beanspruchten Netzautomaten der Verteilungsnetzzellen angeblich den Bezugszeichen 311 und 331 der Figur 3 von D1. Diese werden jedoch in der Beschreibung auf Seite 16 als "net producer" bzw. "net consumer" bezeichnet. Die angefochtene Entscheidung enthält keinerlei Angaben, warum diese augenscheinlich völlig unterschiedlichen Elemente den Netzautomaten entsprechen sollen.
Auch für die verbleibenden Merkmale hält die Kammer es in Ermangelung irgendeiner Erläuterung für nicht nachvollziehbar, warum diese sich aus den in Klammern hinter den Anspruchsmerkmalen angegebenen Figurenbezeichnungen, Bezugsziffern oder auch Textpassagen des Dokuments D1 ergeben sollten.
3.4 Die Kammer ist folglich zu der Auffassung gelangt, dass die angefochtene Entscheidung nicht ausreichend begründet im Sinne der Regel 111 (2) EPÜ ist.
4. Anträge der Beschwerdeführerin mit der Beschwerdebegrünung - Abhilfe und Erteilung
4.1 Abhilfe - Artikel 109 EPÜ
Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin dahingehend zu, dass Abhilfe zu gewähren gewesen wäre.
Für den Fall, dass die in der angefochtenen Entscheidung angegebene Begründung nicht (mehr) zutreffend oder fehlerhaft ist, d.h. dass die Beschwerde zulässig und begründet ist, räumt Artikel 109 (1) Satz 1 EPÜ der Prüfungsabteilung nämlich kein Ermessen über die Gewährung der Abhilfe ein ("..., so hat es ihr abzuhelfen.").
Dies ist hier der Fall, denn spätestens mit Erhalt der Beschwerdebegründung muss der Prüfungsabteilung bewusst gewesen sein, dass die Begründung in der angefochtenen Entscheidung nicht mehr zutreffend war, weil die in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Argumente die in der Entscheidung behandelten Gründe ausräumen.
Allerdings ist die Abhilfe ein Verfahren, das nur von der ersten Instanz durchgeführt werden kann, wie sich unmittelbar aus Artikel 109 (1) Satz 1 EPÜ ergibt. Die Kammer selbst vermag folglich, entgegen dem Antrag der Beschwerdeführerin, nicht abzuhelfen. Stattdessen entscheidet die Kammer über die Beschwerde.
4.2 Antrag auf Erteilung eines Patents
Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Erteilung eines Patents ist derzeit nicht gewährbar, da das Prüfungsverfahren nicht vollständig abgeschlossen ist.
Wie von der Beschwerdeführerin selbst mehrmals vorgebracht, ist der Gegenstand von Anspruch 1 in Dokument D1 nicht einmal angedacht. Die Kammer schließt sich dieser Auffassung der Beschwerdeführerin an. Folglich liegt kein geeigneter Stand der Technik vor, anhand dessen die Prüfung der Patentierbarkeit vorgenommen werden könnte.
Die Tatsache, dass das einzige ermittelte Dokument nicht sonderlich einschlägig ist, kann nach Auffassung der Kammer jedoch nicht als direkte Konsequenz haben, dass das Patent ohne vollständige Prüfung erteilt wird. Jedenfalls erscheint es der Kammer nicht plausibel, dass kein näherkommender Stand der Technik hinsichtlich des Gegenstands des Anspruchs 1 existieren soll. Augenscheinlich ist das Prüfungsverfahren daher noch nicht vollständig abgeschlossen.
5. Anträge der Beschwerdeführerin vom 21. April 2021 - Zurückverweisung und Rückzahlung der Beschwerdegebühr
5.1 Zurückverweisung - Artikel 111 (1) EPÜ
Aufgrund des oben unter 3. festgestellten Begründungsmangels der angefochtenen Entscheidung gibt die Kammer dem Antrag der Beschwerdeführerin vom 21. April 2021 auf Zurückverweisung an die erste Instanz statt.
5.2 Rückzahlung der Beschwerdegebühr - Regel 103 (1) a) EPÜ
Dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird ebenfalls stattgegeben.
Eine nicht ausreichende Begründung einer Entscheidung stellt grundsätzlich einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigt (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts, 9. Auflage, 2019, V.A. 9.5.9).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.
3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.