T 2404/18 11-10-2022
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RITZEL
I. Gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, wonach das Streitpatent in der Fassung des damaligen Hilfsantrags 3 die Erfordernisse des EPÜ erfüllt, hat die Einsprechende (Beschwerdeführerin) Beschwerde eingelegt.
II. Die Einspruchsabteilung hatte unter anderem entschieden, dass der Gegenstand des Streitpatents gemäß diesem Antrag nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe.
III. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
IV. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
V. Der unabhängige Anspruch 1 gemäß dem einzigen Antrag (von der Einspruchsabteilung als gewährbar erachtete Fassung gemäß dem damaligen Hilfsantrag 3) lautet wie folgt (Merkmalsgliederung in eckigen Klammern hinzugefügt; wesentliche Änderungen gegenüber der erteilten Fassung hervorgehoben):
[01] Ritzel (1), das mit einem Zahnkolben eines Türschließers oder eines Türantriebes korrespondiert,
[02] welches mindestens eine Verzahnung (2) und an jedem Ende des Ritzels (1) einen Vierkant (4a, 4b) aufweist,
[03] an denen mindestens ein Konus (12a, 12b) vorhanden ist, und dass
[04] zwischen jedem Vierkant (4a, 4b) und der Verzahnung (2) ein zylindrischer Schaft (3a, 3b) angeordnet ist,
[05] wobei die Verzahnung (2) lageorientiert zu den beiden am Ende des Ritzels (1) befindlichen Vierkanten (4a, 4b) angebracht ist,
[06] wobei die stirnseitigen Mittellinien (10a) zur Lagebestimmung der Verzahnung (2) dienlich sind indem ein voller Zahn der Verzahnung (2) auf einer der stirnseitigen Mittellinien 10a steht oder die Vertiefung eines Zahnes der Verzahnung (2) auf einer der stirnseitigen Mittellinien 10a steht,
[07] und die Verzahnung (2) an einem Ende einen Bund (6) aufweist,
dadurch gekennzeichnet, dass
[08] das Ritzel (1) als ein Kaltfließpressteil hergestellt wird.
VI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, soweit für die Entscheidung relevant, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Der geänderte Anspruch 1 definiere nicht die Lage der stirnseitigen Mittellinien, die zur Bestimmung der Lageorientierung der Verzahnung gegenüber dem Vierkant dienen sollen. Die Bezugszeichen dürften diesbezüglich nicht zu einer einschränkenden Auslegung des Anspruchs herangezogen werden. Der geänderte Anspruch umfasse daher alle denkbaren stirnseitigen Mittelinien. Die ursprüngliche Anmeldung hingegen offenbare auf Seite 4, Zeilen 18 bis 27 ausschließlich die in Figur 5 konkret abgebildeten stirnseitigen Mittellinien 10a, die zur Bestimmung der Lageorientierung der Verzahnung herangezogen werden sollen. Der geänderte Anspruch 1 gehe daher über den Offenbarungsgehalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinaus und verletze damit Artikel 123 (2) EPÜ.
VII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin, soweit für die Entscheidung relevant, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Im geänderten Anspruch 1 werde für die stirnseitigen Mittellinien der bestimmte Artikel "die" verwendet, woraus sich für den Fachmann unmittelbar und eindeutig ergebe, dass nur die Mittellinien der Stirnseite des Vierkants gemeint sein können. Darüber hinaus wisse der Fachmann, dass eine gewünschte Vorspannung beim Einbau des Türschließers oder des Türantriebs nur dann erzielt werden könne, wenn als Bezugsgröße für die Lageorientierung von Verzahnung und Vierkant diejenigen Mittellinien gewählt werden, die durch die Mitte der Seiten des Vierkants verlaufen. Diese Mittellinien entsprächen den in der ursprünglichen Anmeldung auf Seite 4, Zeilen 18 bis 27 und in Figur 5 offenbarten Mittellinien 10a. Im Übrigen lese der Fachmann auf Seite 4, Zeilen 18 bis 27 auch Mittellinien mit, die durch die Ecken des Vierkants gehen. Aus diesen Gründen erfülle der geänderte Anspruch das Erfordernis des Artikels 123 (2) EPÜ.
1. Änderungen (Artikel 123 (2) EPÜ)
1.1 Anspruch 1 in der ursprünglich eingereichten Fassung betrifft ein
"[01] Ritzel (1), das mit einem Zahnkolben eines Türschließers oder eines Türantriebes korrespondiert,
[02] welches mindestens eine Verzahnung (2) und an jedem Ende des Ritzels (1) einen Vierkant (4a, 4b) aufweist,
[03] an denen mindestens ein Konus (12a, 12b) vorhanden ist, und dass
[04] zwischen jedem Vierkant (4a, 4b) und der Verzahnung (2) ein zylindrischer Schaft (3a, 3b) angeordnet ist,
dadurch gekennzeichnet, dass
[05] die Verzahnung (2) lageorientiert zu den beiden am Ende des Ritzels (1) befindlichen Vierkanten (4a, 4b) angebracht ist."
1.2 Im Laufe des Prüfungsverfahrens und des Einspruchsverfahrens wurde unter anderem das Merkmal [06] in den Anspruch aufgenommen, wonach
"[06] die stirnseitigen Mittellinien (10a) zur Lagebestimmung der Verzahnung (2) dienlich sind indem ein voller Zahn der Verzahnung (2) auf einer der stirnseitigen Mittellinien 10a steht oder die Vertiefung eines Zahnes der Verzahnung (2) auf einer der stirnseitigen Mittellinien 10a steht."
1.3 Wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, definiert das hinzugefügte Merkmal [06] nicht, um welche stirnseitigen Mittellinien es sich handelt. Zwar führt der Anspruch diesbezüglich das Bezugszeichen "10a" an, welches sich in der Figur 5 wiederfindet und darin zwei Linien bezeichnet, die im rechten Winkel zueinander jeweils durch die Mitte der Seiten des Quadrats verlaufen, das die Stirnfläche des Vierkants 4a darstellt. Dieses Bezugszeichen darf jedoch nicht zu einer einschränkenden Auslegung des Anspruchs herangezogen werden (Regel 43 (7) EPÜ). Vom Anspruchswortlaut umfasst sind daher beispielsweise auch stirnseitige Mittellinien, die durch die Ecken der Stirnfläche des Vierkants 4a verlaufen. Auch wenn man also dem Argument der Beschwerdegegnerin folgt, dass sich aus der Formulierung "die stirnseitigen Mittellinien" für den Fachmann unmittelbar und eindeutig ergibt, dass nur die Mittellinien der Stirnseite des Vierkants gemeint sein können, umfasst der Anspruchswortlaut mehrere alternative Möglichkeiten.
1.4 Die Beschwerdegegnerin machte geltend, der Fachmann wisse, dass eine gewünschte Vorspannung beim Einbau des Türschließers oder des Türantriebs nur dann erzielt werden könne, wenn als Bezugsgröße für die Lageorientierung von Verzahnung und Vierkant diejenigen Mittellinien gewählt werden, die jeweils durch die Mitte der Seiten der Stirnfläche des Vierkants verlaufen. Der Anspruch sei daher auf diese Mittellinien beschränkt.
Die von der Beschwerdegegnerin geltend gemachte Zweckbestimmung in Bezug auf die Vorspannung findet sich jedoch nicht im Anspruch. Sie ist darüber hinaus von weiteren Faktoren abhängig, die nicht Gegenstand des Anspruchs sind, wie beispielsweise der Ausgestaltung des Türschließers oder des Türantriebs. Schon deshalb kann die geltend gemachte Zweckbestimmung nicht zu einer engeren Auslegung des Anspruchs führen.
1.5 Folglich ist der Anspruch so auszulegen, dass Merkmal [06] sowohl dann erfüllt ist, wenn die stirnseitigen Mittellinien durch die Mitte der Seiten der Stirnfläche des Vierkants verlaufen, als auch dann, wenn sie durch die Ecken der Stirnfläche des Vierkants verlaufen.
1.6 Als Stütze für das in den Anspruch aufgenommene Merkmal [06] verwies die Beschwerdegegnerin auf die Seite 4, Zeilen 18 bis 27 der ursprünglich eingereichten Beschreibung.
1.7 Bei der genannten Textstelle handelt es sich um die Beschreibung der in Figur 5 gezeigten Ausführungsform. Sie thematisiert die Lageorientierung der Verzahnung 2 gegenüber dem Vierkant 4a und offenbart mit Bezug auf die konkret in Figur 5 dargestellten stirnseitigen Mittellinien 10a, dass entweder ein voller Zahn oder eine Vertiefung der Verzahnung auf einer der stirnseitigen Mittellinien 10a steht.
1.8 Die Beschwerdegegnerin argumentierte, der Fachmann lese bei der genannten Textstelle auch andere Mittellinien mit, die nicht den in Figur 5 dargestellten Mittellinien 10a entsprechen, also auch solche, die durch die Ecken der Stirnfläche des Vierkants 4a verlaufen. Folglich sei selbst bei der von der Beschwerdeführerin vorgetragenen breiten Auslegung des geänderten Anspruchs, dieser in der genannten Textstelle auf Seite 4 ursprünglich offenbart.
Die besagte Textstelle erläutert jedoch die Lageorientierung nicht abstrakt, sondern anhand des in Figur 5 gezeigten Ausführungsbeispiels, und verweist konkret auf die in der Figur abgebildeten stirnseitigen Mittellinien 10a, die jeweils durch die Mitte der Seiten der Stirnfläche des Vierkants verlaufen. Eine davon abweichende Lageorientierung der Verzahnung, bei der ein voller Zahn oder eine Vertiefung der Verzahnung auf einer anders verlaufenden Mittellinie steht - beispielsweise durch die Ecken der Stirnfläche des Vierkants - offenbart die Textstelle nicht. Die von der Beschwerdegegnerin vertretene Lesart geht daher über den unmittelbaren und eindeutigen Offenbarungsgehalt der Textstelle hinaus.
1.9 Da also der geänderte Anspruch mehrere alternative Verläufe der stirnseitigen Mittellinien umfasst, welche die Lageorientierung der Verzahnung bestimmen, die ursprüngliche Beschreibung hingegen nur einen konkreten Verlauf, liegt eine Verallgemeinerung der ursprünglichen Offenbarung vor.
1.10 Der Gegenstand des geänderten Anspruchs 1 verstößt daher gegen Artikel 123 (2) EPÜ.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.