T 2572/18 21-10-2022
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UMSCHLAG FÜR EIN IDENTIFIKATIONSDOKUMENT
I. Die Beschwerde der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch zurückzuweisen.
Der Einspruch gegen das europäische Patent
EP 2 790 922 B1 ("Streitpatent") stützte sich auf die Einspruchsgründe unter Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 52 (1), 54 (1) und (2), und 56 EPÜ.
II. In der angefochtenen Entscheidung werden unter anderem folgende Dokumente genannt:
E1 DE 10 2005 057 241 A1
E2 US 2008/0032087 A1
E3 DE 44 45 245 A1
III. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Streitpatent in vollem Umfang zu widerrufen. Ferner beantragt die Beschwerdeführerin, Hilfsantrag 1 nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
IV. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen und hilfsweise, die Entscheidung aufzuheben und das Patent in eingeschränkter Form auf der Grundlage des Hilfsantrags 1, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung, aufrechtzuerhalten.
V. Der erteilte Anspruch 1 hat den folgenden Wortlaut:
Umschlag (4) für ein Identifikationsdokument (2), wobei der Umschlag (4) mindestens eine Materialausnehmung (12) aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass mindestens eine Materialausnehmung (12) in ihrem Verlauf über ihre Länge unterschiedliche Tiefen hat.
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 hat den folgenden Wortlaut:
Umschlag (4) für ein Identifikationsdokument (2), wobei der Umschlag (4) mindestens eine Materialausnehmung (12) aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass mindestens eine Materialausnehmung (12) in ihrem Verlauf über ihre Länge unterschiedliche Tiefen hat und sich auf der Seite des Umschlags (4) befindet, welche mit einem Innenteil des Identifikationsdokuments (2) verbunden wird und die mindestens eine Materialausnehmung (12) eine Knickkante bildet.
VI. Die Beteiligten haben im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag (Anspruch wie erteilt) und gemäß Hilfsantrag 1 gegenüber Dokument E2 als nächstliegendem Stand der Technik in Kombination mit den Dokumenten E1 oder E3 oder mit dem Fachwissen des Fachmanns keine erfinderische Tätigkeit aufweist.
Ferner sei der Hilfsantrag 1 nicht in das Verfahren zuzulassen, da er bereits im Einspruchsverfahren hätte eingereicht werden sollen.
Die Beschwerdegegnerin ist der Ansicht, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag und gemäß Hilfsantrag 1 gegenüber Dokument E2 als nächstliegendem Stand der Technik in Kombination mit den Dokumenten E1 oder E3 oder mit dem Fachwissen des Fachmanns eine erfinderische Tätigkeit aufweise.
Ferner sei der Hilfsantrag 1 im Verfahren zu berücksichtigen, da er bereits mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht worden sei.
1. Die beanspruchte Erfindung
Das Streitpatent betrifft einen Umschlag für ein Identifikationsdokument, wie beispielsweise einen Reisepass, ein Identifikationsdokument mit einem entsprechenden Umschlag, sowie entsprechende Verfahren zur Herstellung des Umschlags und des Identifikationsdokuments.
Identifikationsdokumente, wie z.B. Reisepässe, bestehen aus einem Umschlag und einem Innenteil. Der Innenteil besteht gewöhnlich aus einem Satz von mittig gefalzten Doppelblättern und ist mit dem Umschlag verklebt.
Aus dem Stand der Technik ergibt sich laut Streitpatent das Problem, dass ein Umschlag eines Identifikationsdokuments nicht parallel zum Innenteil liegen bleibt, wenn das Identifikationsdokument zum ersten Mal geöffnet und geschlossen worden ist, sondern selbst im geschlossenen Zustand in einem Winkel vom Innenteil absteht, siehe Absatz [0003] und Figur 1 des Streitpatents. Dieses Verhalten wird als "Aufsperren" bezeichnet.
Gegenüber dem Stand der Technik ergibt sich laut Streitpatent folglich die Aufgabe, einen Umschlag bereitzustellen, welcher nach dem Schließen des Identifikationsdokuments parallel zum Innenteil des Identifikationsdokuments liegen bleibt, siehe Absatz [0005] des Streitpatents.
Zur Lösung dieses Problems wird gemäß dem erteilten Patentanspruch 1 des Streitpatents ein Umschlag für ein Identifikationsdokument vorgeschlagen, wobei der Umschlag mindestens eine Materialausnehmung aufweist. Die mindestens eine Materialausnehmung hat dabei in ihrem Verlauf über ihre Länge unterschiedliche Tiefen.
2. Hauptantrag - erfinderische Tätigkeit
2.1 Die Einspruchsabteilung versteht unter dem Begriff "Materialsausnehmung" eine Vertiefung, welche entweder durch Entfernen/Abtragen von Material oder durch Weglassen von Material während der Herstellung entstanden ist, so dass die Materialstärke an dieser Stelle reduziert ist. Somit offenbare E2 "Materialausnehmungen", welche mittels Laser hergestellt würden, siehe Absatz [0056].
Der Umschlag gemäß Anspruch 1 unterscheide sich von E2 dadurch, dass eine Materialausnehmung in ihrem Verlauf über ihre Länge unterschiedliche Tiefen habe. Das durch dieses Unterscheidungsmerkmal zu lösende Problem sei das Erreichen einer punktuellen Einstellung des Falt- bzw. Aufsperrverhaltens. Weder die weiteren Druckschriften noch das allgemeine Fachwissen würden es nahelegen, dieses Problem durch das Unterscheidungsmerkmal zu lösen.
2.2 Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass die in Absatz [0056] der E2 beschriebenen "Schwächungsmittel"
("weakening means"), welche mittels eines Lasers hergestellt würden, "Materialausnehmungen" seien und die Deformierbarkeit erhöhten (siehe Absatz [0004] der E2).
Das Unterscheidungsmerkmal in Anspruch 1 sei somit, dass eine Materialausnehmung in ihrem Verlauf über ihre Länge unterschiedliche Tiefen habe.
Eine punktuelle Einstellung des Falt- bzw. Aufsperrverhaltens beim Knicken des beanspruchten Umschlags habe von außen (d.h. makroskopisch) betrachtet keinen Einfluss auf den gesamten Biegewiderstand. Eine punktuelle Variation der Tiefe der Materialausnehmung würde vom Nutzer nicht bemerkt werden. Es gebe keine "ernste Auswirkung" auf das Schließ- oder Faltverhalten des Umschlags. Das Unterscheidungsmerkmal in seiner breitesten Auslegung löse daher nicht die von der Einspruchsabteilung formulierte Aufgabe.
Die objektive technische Aufgabe sei daher darin zu sehen, nach alternativen Ausgestaltungen von Schwächungsmitteln zur Verringerung des Biegewiderstands zu suchen.
Zum Einen argumentiert die Beschwerdeführerin, dass bereits durch Ungenauigkeiten im Herstellungsverfahren zwangsläufig unterschiedliche Tiefen in den Materialausnehmungen der E2 aufträten. Daher sei das Unterscheidungsmerkmal für den Fachmann offensichtlich.
Insbesondere erkenne der Fachmann, dass das Falt- bzw. Aufsperrverhalten des Umschlages in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Biegewiderstand des Materials stehe, und dass der Biegewiderstand des Materials maßgeblich durch die Tiefe der Materialausnehmung beeinflusst werde. Der Fachmann würde folglich bereits unter Berücksichtigung seines allgemeinen Fachwissens eine Variation der Tiefe der Materialausnehmung über ihre Länge vorsehen.
Weiterhin würde der Fachmann zur Lösung der Aufgabe E1 heranziehen und die Schwächungsmittel in Form der Profilierung mit Heizdrähten gemäß E1, Absätze [0013] und [0014] realisieren und somit zum Gegenstand von Anspruch 1 gelangen. Auch E1 habe das Ziel, eine erhöhte Deformierbarkeit des Umschlags zu erreichen, siehe E1, Absatz [0006]. Die E3 lege ebenfalls das Unterscheidungsmerkmal nahe, siehe Spalte 3, Zeilen 8 bis 18 und Anspruch 3.
2.3 Die Beschwerdegegnerin argumentiert, dass E2 Schlitze ("slots") als Schwächungsmittel offenbare, wobei kein Material entfernt werde. Als weitere Alternativen würden mittels Laser eingebrachte Längslöcher ("slots"), Durchgangslöcher ("through holes") und Sacklöcher ("blind holes") in Absatz [0056] der E2 genannt, wobei nur "Längslöcher" eine "Länge" aufweisen würden und ein "Sackloch" keine Länge habe. Die in Absatz [0056] genannten Schwächungsmittel seien Materialausnehmungen. Für keine dieser Varianten gebe es in E2 jedoch Angaben über die Ausgestaltung ihrer Tiefe oder darüber, dass die Herstellung durch einen Laser zwangläufig verschiedene Tiefen hervorrufe.
Das Unterscheidungsmerkmal sei demnach, dass eine Materialausnehmung in ihrem Verlauf über ihre Länge unterschiedliche Tiefen habe.
Gemäß Absatz [0035] des Streitpatents habe diese Tiefenmodulation den technischen Effekt, dass punktuell oder bereichsweise ein höheres und/oder ein niedrigeres Aufsperrverhalten eingestellt werden könne. Dies sei beispielsweise dann gewünscht, wenn das Identifikationsdokument und/oder der Umschlag unterschiedlich dick seien oder der Umschlag aus Bereichen oder Materialien mit variabler Biegesteifigkeit bzw. Elastizität aufgebaut sei. Auch könne es sinnvoll sein, das Aufsperrverhalten am Rand eines Umschlags anders einzustellen als im Inneren, um dem Randeffekt Rechnung zu tragen. Die Beschwerdeführerin verweist auch auf Absatz [0015] des Streitpatents. Das Unterscheidungsmerkmal habe daher eine nachvollziehbare und plausible Wirkung.
Bezüglich der von der Beschwerdeführerin formulierten technischen Aufgabe, argumentiert die Beschwerdegegnerin, dass diese in E2 bereits gelöst sei, da alternative Schwächungsmittel offenbart seien ("Sacklöcher", "Perforationen" und dergleichen, siehe Absätze [0007], [0008], [0012], [0054] und [0055] der E2).
E1 würde der Fachmann nicht heranziehen, da das Unterscheidungsmerkmal nicht offenbart sei. In E1 sei eine Materialumformung erwähnt, welche einen anderen Zweck habe, nämlich die Steifigkeit des Umschlags zu erhalten. Die Schlitze aus E2 seien nur "mit enormen Aufwand mit Heizdrähten realisierbar". Eine punktuelle Änderung der Rückstellkraft durch unterschiedliche Tiefen der Ausnehmung sei in E1 nicht offenbart. Gleiches gelte für E3.
2.4 Die Kammer ist überzeugt, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
2.4.1 Offenbarung der Druckschrift E2
Im Wortlaut von Anspruch 1 beschreibt E2 einen Umschlag (2) für ein Identifikationsdokument (Figur 1, "PASSEPORT"), wobei der Umschlag (2) mindestens eine Materialausnehmung (20, [0056], "weakening means" d.h. "Schwächungsmittel", "slots" d.h. "Längslöcher", "through holes" d.h. "Durchgangslöcher", "blind holes" d.h. "Sacklöcher") aufweist.
Die Schwächungsmittel 20 befinden sich in einem Einlagebogen 5 (Figur 3), welcher sich z.B. zwischen zwei Bögen (Figur 2, [0005], [0036], "outer and inner sheets 6 and 7") des Umschlags (Figur 2, [0036] "cover 2") befindet und somit Bestandteil des Umschlags ist (siehe [0004] und [0036]). In einer anderen Variante (Figur 6, [0005], [0057]) ist der Umschlag (40, 5) so ausgebildet, dass der Einlagebogen (5) in Kontakt mit einer Seite (3) des Identifikationsdokuments (z. B. eines Reisepasses) ist. Die in Figur 6 gezeigte Seite 3 ist nicht Teil des Umschlags, sondern Bestandteil des Innenteils des Identifikationsdokuments.
Die Schwächungsmittel können dabei Schnitte (siehe [0007], "cut"), Schlitze ([0008] bis [0012], "succession of slots"), Perforationen ([0054], [0055] "perforations") oder durch einen Laser hergestellte Längslöcher, Durchgangslöcher, oder Sacklöcher sein ([0056], "by means of a laser, burning the insert sheet 5 in such a manner as to make slots and/or through holes or blind holes"). Absatz [0056] offenbart ein Abtragen des Materials des Einlagebogens 5 mittels Laser und somit "Materialausnehmungen" gemäß Anspruch 1, siehe auch Abschnitt [0039] des Streitpatents.
2.4.2 Unterscheidungsmerkmal
Es ist unbestritten, dass E2 demnach nicht offenbart, dass mindestens eine Materialausnehmung in ihrem Verlauf über ihre Länge unterschiedliche Tiefen hat. In E2 gibt es keine Angaben über die Tiefen der Schwächungsmittel 20.
Gemäß Anspruch 1 umfasst der Umschlag mindestens eine Materialausnehmung, welche an einer Stelle eine erste Tiefe und an einer anderen Stelle eine zweite Tiefe hat, wobei die erste und die zweite Tiefe unterschiedlich sind. Die Kammer folgt daher nicht der in der mündlichen Verhandlung von der Beschwerdeführerin vorgeschlagenen, breiteren Auslegung des Unterscheidungsmerkmals, wonach eine erste Materialausnehmung im Umschlag eine erste Tiefe und eine weitere Materialausnehmung im gleichen Umschlag eine zweite, unterschiedliche Tiefe habe. Nach Überzeugung der Kammer bezieht sich "Verlauf" und "Länge" auf dieselbe Materialausnehmung. Die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagene Auslegung würde insbesondere bei einem Umschlag mit einer einzigen Materialausnehmung auch keinen Sinn mehr ergeben.
2.4.3 Technische Wirkung und objektive technische Aufgabe
Über die technische Wirkung des Unterscheidungsmerkmals besteht Uneinigkeit zwischen den Parteien.
Die Kammer ist nicht davon überzeugt, dass das Unterscheidungsmerkmal die in Absatz [0035] des Streitpatents beschriebene technische Aufgabe, also punktuell oder bereichsweise ein höheres und/oder ein niedrigeres Aufsperrverhalten einzustellen, löst, jedenfalls nicht im gesamten in Anspruch 1 definierten Bereich.
Zunächst definiert Anspruch 1 nicht, wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht, wie groß wie Tiefenunterschiede innerhalb des Verlaufs der mindestens einen Materialausnehmung sind. So umfasst Anspruch 1 beispielsweise eine Materialausnehmung mit einer Länge l, wobei auf 95 % dieser Länge die Ausnehmung eine Tiefe t hat und auf den restlichen 5 % eine Tiefe t + Deltat. Anspruchsgemäß kann dabei Deltat sehr klein sein (z. B. Deltat/t = 0.01). Somit umfasst Anspruch 1 einen Umschlag gemäß Dokument E2, bei der in einem kleinen Bereich eines einzigen, in Figur 3 gezeigten Schwächungsmittels 20 (z. B. eines Sacklochs oder eines Längsloch) die Tiefe etwas größer ist als im Rest dieses einen Schwächungsmittels. Diese geringe Tiefenabweichung hat aus Sicht der Kammer keine messbare Auswirkung auf das Falt- oder Aufsperrverhalten des Umschlags.
Die Beschwerdegegnerin veranschaulichte ihre Sichtweise während der mündlichen Verhandlung durch das Beispiel eines Umschlag, welcher mittig ein höheres Aufsperrverhalten hat als an den Rändern. Ohne die erfindungsgemäße Materialausnehmung führe dies zu einer Wölbung des Identifikationsdokuments. Diese unerwünschte Wölbung könne dadurch kompensiert werden, dass die Materialausnehmung mittig eine größere Tiefe und an den Enden eine geringere Tiefe aufweise. Ein Identifikationsdokument mit dieser erfindungsgemäßen Materialausnehmung weise keine Wölbung auf.
Dieses Argument hat die Kammer jedoch nicht überzeugt. Es mag zutreffend sein, dass für bestimmte Ausgestaltungen der Materialausnehmung punktuell oder bereichsweise ein höheres und/oder ein niedrigeres Aufsperrverhalten des Umschlags in Verbindung mit spezifischen Innententeilen eingestellt werden kann. Anspruch 1 ist jedoch nicht auf diese Ausgestaltungen beschränkt und umfasst überhaupt kein Innenteil.
Weiterhin bemerkt die Kammer, dass gemäß der Absätze [0007] und [0031] des Streitpatents beschreiben, dass eine erfindungsgemäße Materialausnehmung bewirkt, dass eine Aufsperrung komplett unterbunden wird, siehe Absatz [0007] ("... ohne dass das oben beschriebene Aufsperren auftritt, d.h. der Umschlag bleibt sowohl im auf- als auch im zugeklappten Zustand jeweils flach liegen") und Absatz [0031] ("Der Vorteil dieser Erfindung ist, dass das Aufsperrverhalten von Identifikationsdokumenten 2 wie aus dem Stand der Technik bekannt, nicht mehr auftritt. Das bedeutet, dass auch nach wiederholtem Öffnen und Schließen des erfindungsgemäßen Identifikationsdokuments 2 der Umschlag 4 immer wieder flach bzw. parallel zu dem Innenteil zu liegen kommt und nicht wie im Stand der Technik bekannt, in einem bestimmten Winkel dauerhaft im geschlossenen Zustand von dem Innenteil absteht.").
Die Absätze [0007] und [0031] des Streitpatents sind identisch mit den Seite 2, Zeilen 15 bis 24 und Seite 11, Zeilen 1 bis 10 der ursprünglichen Beschreibung, welche demnach offenbaren, dass allein eine Materialausnehmung (mit möglicherweise konstanter Tiefe) eine Aufsperrung komplett unterbindet. Wenn aber gemäß der Absätze [0007] und [0031] eine Aufsperrung durch eine erfindungsgemäße Materialausnehmung gar nicht mehr auftritt, ist es nicht nachvollziehbar, wie eine Materialausnehmung mit einer "Tiefenmodulation" das Aufsperrverhalten (wie in Absatz [0035]des Streitpatents beschrieben) erhöhen oder verringern kann.
Unter den oben genannten Gesichtspunkten ist die Kammer überzeugt, dass die von der Einspruchsabteilung und der Beschwerdegegnerin formulierte technische Aufgabe nicht über die gesamte Breite des Anspruchs 1 gelöst wird und somit unter Zugrundelegung eines weniger anspruchvollen Ziels neu formuliert werden muss.
Die Druckschrift E2 befasst sich mit dem Problem des Aufsperrens eines Identifikationsdokumentes, siehe Absatz [0002], letzter Satz. Gemäß der Absätze [0003] und [0004] ist es die Aufgabe der Schwächungsmittel, die Deformierbarkeit des Umschlags zu erhöhen, d.h. den Biegewiderstand zu verringern, siehe auch Anspruch 1 der E2. Die objektive technische Aufgabe ist daher darin zu sehen, nach alternativen Ausgestaltungen von Schwächungsmitteln zur Verringerung des Biegewiderstands zu suchen. Der Umstand, dass E2 bereits Alternativen aufzeigt, steht dem nicht entgegen. Im Allgemeinen würde der Fachmann immer nach alternativen Ausgestaltungen suchen. Insofern stimmt die Kammer der Beschwerdeführerin zu.
2.4.4 Naheliegen
Wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, macht E2 keine spezifischen Angaben über die Tiefe der in Abschnitt [0056] genannten Materialausnehmungen bzw. Schwächungsmittel 20. Der Fachmann würde den Begriff Durchgangsloch ("through hole") so verstehen, dass sich das Schwächungsmittel durch die gesamte Dickes des Einlegebodens 5 erstreckt, jedoch nicht durch die Bögen 6, 7 oder 40, siehe Figuren 4 und 6 der E2. Bei einem Sackloch ("blind hole") erstreckt sich das Schwächungsmittel dementsprechend nicht durch die gesamte Dicke des Einlegebodens. Bei einem Längsloch ("slot") geht der Fachmann prinzipiell davon aus, dass es die gesamte Dicke des Einlegebodens 5 durchzieht. Die Absätze [0051] bis [0053] der E2 betreffen Längslöcher, welche mittels einer Klinge ([0052], "blade") in den Einlegeboden eingebracht werden. Absatz [0053] offenbart explizit, dass sich solche Längslöcher nicht notwendigerweise durch die gesamte Dicke des Einlegebodens 5 ausdehnen.
Dem Fachmann ist also mittels seines Fachwissens nicht nur klar, dass die in Absatz [0056] genannten Schwächungsmittel jede Tiefe haben können, sondern auch, wie diese durch Laserbestrahlung herzustellen ist, z.B. durch Veränderung der Lichtintensität, der Belichtungszeitdauer, der Laserabtastrate usw. Da auch die Absätze [0019] und [0039] keinerlei Angaben machen, wie Materialausnehmungen mit unterschiedlichen Tiefen durch einen Laser hergestellt werden, ist davon auszugehen, dass die technischen Details dem Fachmann durch sein allgemeines Fachwissen bekannt sind, wie auch von der Beschwerdeführerin vorgebracht.
Ausgehend von der objektiven technischen Aufgabe ist es nach diesen Erwägungen für den Fachmann offensichtlich, eine Materialausnehmung mit einem variablen Tiefenprofil herzustellen. Es scheint sich lediglich um eine offensichtliche Auswahl aus zwei Möglichkeiten (Materialausnehmung mit konstanter oder variabler Tiefe) zu handeln.
Insofern stimmt die Kammer der Beschwerdeführerin zu, dass der Fachmann, ausgehend von E2 in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen, zu einem Umschlag mit einer Materialausnehmung gelangen würde, welche in ihrem Verlauf über ihre Länge unterschiedliche Tiefen hat.
Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 beruht demnach nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 52 (1) und 56 EPÜ).
Angesichts der oben gemachten Ausführungen kann die Frage, ob E1 oder E3 überhaupt das Unterscheidungsmerkmal offenbaren und dem Fachmann als Lösung der objektiven technischen Aufgabe nahelegen, unbeantwortet bleiben.
3. Hilfsantrag 1
3.1 Berücksichtigung - Artikel 12 (4) VOBK 2007
3.1.1 Die Beschwerdeführerin beantragt, dass der Hilfsantrag gemäß Artikel 13 (1) VOBK 2020 nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen wird, bzw. nicht berücksichtigt wird, da seitens der Beschwerdegegnerin keine rechtfertigenden Gründe vorgetragen worden seien, warum der Hilfsantrag erst im Beschwerdeverfahren und nicht schon im Einspruchsverfahren vorgebracht wurde. Eine Berücksichtigung des Hilfsantrags würde die Komplexität des neuen Vorbringens unnötig vergrößern. Die gegen die erteilten Ansprüche unter Artikel 56 EPÜ erhobenen Einwände würden nicht ausgeräumt.
3.1.2 Die Beschwerdegegnerin argumentiert, dass der Hilfsantrag 1 zum frühestmöglichen Zeitpunkt mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht wurde. Artikel 13 (1) VOBK 2020 sei demnach auch gar nicht anzuwenden.
3.1.3 Die Kammer stellt zunächst klar, dass Artikel 13 (1) VOBK 2020 Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung betrifft. Da Hilfsantrag 1 mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht wurde, ist Artikel 13 (1) VOBK 2020 nicht einschlägig.
Absatz 4 des Artikel 12 VOBK 2007, welcher gemäß Artikel 25 (2) VOBK 2020 anzuwenden ist, besagt, dass, unbeschadet der Befugnis der Kammer, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können, das gesamte Vorbringen der Beteiligten nach Absatz 1 des Artikels 12 VOBK 2007 von der Kammer berücksichtigt wird, wenn und soweit es sich auf die Beschwerdesache bezieht und die Erfordernisse nach Absatz 2 erfüllt.
Aus Sicht der Kammer gab es keinerlei Anlass für die Beschwerdegegnerin, Hilfsantrag 1 bereits im Einspruchsverfahren einzureichen. Schlussendlich hat die Einspruchsabteilung entschieden, den Einspruch zurückzuweisen, so dass es auf einen Hilfsantrag in keiner Weise ankam, und dies zudem im Einklang mit ihrer vorläufigen Meinung, siehe Anhang der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung.
Hilfsantrag 1 wurde demnach zum frühestmöglichen Zeitpunkt eingereicht und wird im Beschwerdeverfahren berücksichtigt.
3.2 Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
3.2.1 Laut Beschwerdeführerin sind die zusätzlichen Merkmale des Anspruchs 1 in den Absätzen [0004] und [0059] sowie Figur 6 und Anspruch 1 der E2 offenbart. Wie sie weiter vorgetragen hat, müssten, um die erhöhte Deformierbarkeit des Umschlags zu erreichen, sich die Schwächungsmittel auf der Seite des Umschlags befinden, welche mit einem Innenteil des Identifikationsdokuments verbunden wird.
Die Beschwerdeführerin erkennt auch keinen weiteren kombinatorischen oder synergistischen Effekt mit dem nicht in E2 offenbarten Merkmal, dass mindestens eine Materialausnehmung in ihrem Verlauf über ihre Länge unterschiedliche Tiefen habe.
Anspruch 1 sei somit aus denselben Gründen wie der erteilte Anspruch 1 nicht gewährbar.
3.2.2 Die Beschwerdegegnerin argumentiert, dass sich die Schlitze oder Perforierungen in E2 nicht auf einer Seite des Umschlags befänden und auch keine unterschiedlichen Tiefen aufwiesen. Die in Figur 6 gezeigte Seite 3 sei Teil des Umschlags. Absatz [0008] des Streitpatent offenbare, dass die beanspruchte Position der Materialausnehmungen Schutz vor äußeren Beschädigungen biete.
Während der mündlichen Verhandlung argumentierte die Beschwerdegegnerin, dass die Schwächungsmittel in E2 auch keine Knickkante bildeten.
Die zusätzlichen Merkmale bewirkten zusammen mit der Tiefemodulation einen "kombinatorischen Effekt", wodurch das Aufsperr- bzw. Biegeverhalten noch besser einstellbar sei.
3.3 Zunächst stellt die Kammer fest, dass Dokument E2 offenbart, dass die Schwächungsmittel eine Knickkante bilden (siehe E2, [0022], "... a passport, in which weakening means are formed in a predefined zone of the insert sheet, the weakening means making the insert sheet easier to fold along a fold line extending in the above-specified zone", [0034], "fold line X", [0044], Figur 3, Anspruch 1).
Weiterhin offenbart E2 eine Variante (Figur 6, [0005], [0057]), bei der der Einlagebogen (5) in Kontakt mit einer Seite (3) des Identifikationsdokuments ist. Die in Figur 6 gezeigte Seite 3 ist nicht Teil des Umschlags, sondern Bestandteil des Innenteils. Die in Absatz [0056] der E2 genannten Längslöcher, Durchgangslöcher und Sacklöcher sind durch Laser hergestellte Materialausnehmungen und befinden sich demnach in Einlagebogen (3), d.h. auf der Seite des Umschlags, welche mit dem Innenteil des Identifikationsdokuments (also z.B. einer Seite 3 eines Reisepasses, siehe Figur 6) verbunden ist. Nach Überzeugung der Kammer ist dies implizit in E2 der Fall, um den gewünschten technischen Effekt, also eine erhöhte Deformierbarkeit (siehe E2, Anspruch 1), zu erreichen. Insofern folgt die Kammer den Ausführungen der Beschwerdeführerin.
Das Streitpatent enthält keinerlei Hinweise auf einen kombinatorischen Effekt mit der beanspruchen Tiefenmodulation. Aus den bereits aufgeführten Gründen ist die Kammer davon überzeugt, dass die beanspruchten Merkmale nicht notwendigerweise zu einem einstellbaren Aufsperrverhalten des Umschlags führen. Absatz [0008] des Streitpatents beschreibt, dass die Lage der Materialausnehmung auf der Seite des Umschlags, welche mit dem Innenteil verbunden ist, vor Beschädigungen von außen schütze. Diese technische Aufgabe wird jedoch in E2 von dem Element 40 erfüllt und ist somit nicht relevant.
Somit scheint sich Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 (genau wie der erteilte Anspruch 1) nur dadurch von E2 zu unterscheiden, dass mindestens eine Materialausnehmung in ihrem Verlauf über ihre Länge unterschiedliche Tiefen hat.
Aus den unter 2.4 genannten Gründen beruht der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 52 (1) und 56 EPÜ).
4. Schlussfolgerung
Die Beschwerde ist demnach begründet. Da kein gewährbarer Antrag vorliegt, muss das Patent widerrufen werden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.