T 0895/19 23-05-2022
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Hausgerätvorrichtung mit einer Träger- und einer Lichtemissionseinheit
Wesentlicher Verfahrensmangel - Rückzahlung der Beschwerdegebühr (ja)
Grundlage der Entscheidung - vom Anmelder vorgelegte oder gebilligte Fassung der Anmeldung (nein)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - entspricht der Billigkeit wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die Europäische Patentanmeldung Nr. 09 172 264.5 zurückzuweisen. Die Entscheidung erging als "Entscheidung nach Lage der Akten", unter Rückverweis auf den Bescheid der Prüfungsabteilung vom 24. Mai 2018.
II. Hiergegen hat die Anmelderin (im Folgenden: Beschwerdeführerin) form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt. Darin hat sie zunächst die Erteilung eines Patents auf der Grundlage des dort eingereichten Hauptantrags und hilfsweise die Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung beantragt. Die Beschwerdeführerin trug vor, dass die Prüfungsabteilung nach einer Serie von Antragsänderungen schließlich über Anträge entschieden habe, die nicht mehr anhängig waren, während sie die tatsächlich anhängigen Anträge unbeachtet gelassen habe.
III. In einer Mitteilung gemäß Regel 100(2) EPÜ vom 2. November 2021 informierte die Kammer die Beschwerdeführerin dahingehend, dass beabsichtig werde, die Angelegenheit wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels ohne eigene Sachprüfung an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen.
Daraufhin beantragte die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 29. Dezember 2021, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Angelegenheit an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen. Weiterhin beantragte die Beschwerdeführerin die Erstattung der Beschwerdegebühr.
Hilfsweise beantragte die Beschwerdeführerin, die Entscheidung der Prüfungsabteilung aufzuheben und basierend auf dem Hauptantrag vom 19. Februar 2019 (AN3, siehe unten) ein Patent zu erteilen, weiter hilfsweise die Entscheidung der Prüfungsabteilung aufzuheben und basierend auf einem der hiermit eingereichten Hilfsanträge 1 bis 9 ein Patent zu erteilen, weiter hilfsweise eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, sofern dem Antrag auf Zurückverweisung nicht bereits im schriftlichen Verfahren gefolgt werden kann.
IV. Der unabhängige Anspruch 1 des am 4. September 2017 im Prüfungsverfahren eingegangenen Hauptantrags (im Folgenden AN1), welcher in dem der Entscheidung der Prüfungsabteilung zu Grunde liegenden Bescheid vom 24. Mai 2018 behandelt wird, hat folgenden Wortlaut (Merkmalsgliederung durch die Kammer hinzugefügt) :
M1|Hausgerätvorrichtung mit wenigstens einer Lichtemissionseinheit (10; 10a) und zumindest einer Trägereinheit (12; 12a), welche eine Gewichtskraft der Lichtemissionseinheit (10; 10a) zumindest teilweise aufnimmt, wobei die Trägereinheit (12; 12a) an die Lichtemissionseinheit (10; 10a) zumindest teilweise angespritzt ist, wobei die Lichtemissionseinheit (10; 10a) wenigstens ein Elektrolumineszenz-Lichtemissionsmittel (14; 14a) aufweist,|
M2|dadurch gekennzeichnet, dass die Lichtemissionseinheit (10; 10a) wenigstens ein Steckverbindungsmittel (20; 20a) zumindest teilweise bildet, um zumindest eine konstruktiv einfache Befestigung eines Stromanschlusses zu erreichen, |
A |wobei auf das Elektrolumineszenz-Lichtemissionsmittel (14; 14a) elektrische Kontaktflächen (28; 28a) aufgedrucktsind, welche als Metallflächen ausgebildet sind. |
V. Der unabhängige Anspruch 1 des am 12. März 2018 im Prüfungsverfahren eingegangenen Hauptantrags (im Folgenden AN2) hat folgenden Wortlaut (Merkmalsgliederung durch die Kammer hinzugefügt, Hinzufügung in Vergleich zu AN1 unterstrichen) :
M1|Hausgerätvorrichtung mit wenigstens einer Lichtemissionseinheit (10; 10a) und zumindest einer Trägereinheit (12; 12a), welche eine Gewichtskraft der Lichtemissionseinheit(10; 10a) zumindest teilweise aufnimmt, wobei die Trägereinheit (12; 12a) an die Lichtemissionseinheit (10; 10a) zumindest teilweise angespritzt ist, wobei die Lichtemissionseinheit (10; 10a) wenigstens ein Elektrolumineszenz-Lichtemissionsmittel (14; 14a) aufweist,|
B |welches eine Folie (16; 16a) aufweist, |
M2|dadurch gekennzeichnet, dass die Lichtemissionseinheit (10; 10a) wenigstens ein Steckverbindungsmittel (20; 20a) zumindest teilweise bildet, um zumindest eine konstruktiv einfache Befestigung eines Stromanschlusses zu erreichen, |
A |wobei auf das Elektrolumineszenz-Lichtemissionsmittel (14; 14a) elektrische Kontaktflächen (28; 28a) aufgedruckt sind, welche als Metallflächen ausgebildet sind. |
VI. Der unabhängige Anspruch 1 des mit der Beschwerdebegründung am 19. Februar 2019 eingegangenen Hauptantrags (im Folgenden AN3) hat folgenden Wortlaut (Merkmalsgliederung durch die Kammer hinzugefügt) :
M1|Hausgerätvorrichtung mit wenigstens einer Lichtemissionseinheit (10; 10a) und zumindest einer Trägereinheit (12; 12a), welche eine Gewichtskraft der Lichtemissionseinheit (10; 10a) zumindest teilweise aufnimmt, wobei die Trägereinheit (12; 12a) an die Lichtemissionseinheit (10; 10a) zumindest teilweise angespritzt ist, wobei die Lichtemissionseinheit (10; 10a) wenigstens ein Elektrolumineszenz-Lichtemissionsmittel (14; 14a) aufweist,|
M2|dadurch gekennzeichnet, dass die Lichtemissionseinheit (10; 10a) wenigstens ein Steckverbindungsmittel (20; 20a) zumindest teilweise bildet, um zumindest eine konstruktiv einfache Befestigung eines Stromanschlusses zu erreichen. |
Dieser Anspruch enthält somit weder das Merkmal A, noch das Merkmal B.
VII. Die weiteren mit Schreiben vom 29. Dezember 2021 im Beschwerdeverfahren eingereichten Hilfsanträge spielen für diese Entscheidung keine Rolle.
VIII. Zu dem für diese Entscheidung relevanten Ablauf des Prüfungsverfahrens
a) Die Anmelderin reichte mit Schreiben vom 7. August 2017 (eingegangen am 8. August 2017) einen Hauptantrag und acht Hilfsanträge 1 bis 8 ein (AN0).
b) In Reaktion auf eine Kurzmitteilung der Prüfungsabteilung vom 25. August 2017, in der die Ansprüche des Hilfsantrags 3 von AN0 als prinzipiell gewährbar angesehen worden waren, reichte die Anmelderin mit Schreiben vom 30. August 2017 (eingegangen am 4. September 2017) Hauptantrag AN1 ein (basierend auf Hilfsantrag 3 von AN0 mit einer angepassten Beschreibung). In dem Begleitschreiben erklärte sie, dass sie "die bisherigen Anträge" (d.h. die Anträge von AN0) zurückziehe (siehe Begleitschreiben, Seite 1, zweiter Absatz).
c) Mit einer Mitteilung vom 13. November 2017 erhob die Prüfungsabteilung einen Einwand unter Artikel 123(2) EPÜ bezüglich Merkmal A von AN1. Die Prüfungsabteilung war der Meinung, dass das Merkmal A nur in Verbindung mit anderen Merkmalen (B: "als Folie ausgebildetes Elektrolumineszenz-Leucht[sic]emissionsmittel " und C: "Elektrolumineszenz-Leucht[sic]emissionsmittel teilweise aus Polycarbonat gebildet") ursprünglich offenbart sei (vgl. auch Beschwerdebegründung, Punkt I, zweiter Absatz).
d) Die Anmelderin reichte daraufhin mit Schreiben vom 12. März 2018 den Hauptantrag AN2 ein, der die vorherigen Ansprüche (d.h. Antrag AN1) ersetzte. Im Hauptantrag war das Merkmal B hinzugefügt worden. Anspruch 1 enthielt auch das Merkmal A. Das Begleitschreiben enthielt zusätzlich Argumente zu dem von der Prüfungsabteilung als fehlend angesehenen Merkmal C.
Zum besseren Verständnis der Schriftsätze weist die Kammer darauf hin, dass die Merkmalsbezeichnung im Schreiben der Anmelderin (jetzt Beschwerdeführerin) vom 12. März 2018 und in der Beschwerdebegründung nicht einheitlich ist. Die Kammer verwendet der Einfachheit halber durchgehend die Bezeichnungen der Beschwerdebegründung.
e) In dem darauf folgenden nächsten Bescheid der Prüfungsabteilung vom 24. Mai 2018 (auf den die angefochtene Entscheidung zurückverweist) wurde AN2 nicht behandelt. Stattdessen wurde AN1, zusammen mit sämtlichen am 8. August 2017 eingegangenen Hilfsanträgen (d.h. den Hilfsanträgen von AN0), diskutiert. Im Bescheid wurden erneut die Merkmale B und C unter Artikel 123(2) EPÜ als fehlend beanstandet (wie bereits im Bescheid vom 13. November 2017, vgl. obigen Punkt c). Die Gegenargumente im Schreiben der Anmelderin vom 12. März 2018 und die Änderungen in AN2 wurden nicht berücksichtigt.
f) Die Anmelderin beantragte am 17. Juli 2018 eine Entscheidung nach Aktenlage und nahm ihren hilfsweise gestellten Antrag auf mündliche Verhandlung zurück.
g) Antragsgemäß entschied die Prüfungsabteilung am 22. Oktober 2018 nach Lage der Akten. Zur Begründung der Entscheidung wurde ausschließlich auf den Bescheid vom 24. Mai 2018 verwiesen.
IX. Die Beschwerdeführerin argumentierte in der Beschwerdebegründung im Wesentlichen wie folgt:
Weder der neue Hauptantrag (AN2) noch die mit Schreiben vom 12. März 2018 diesbezüglich vorgebrachte Argumentation sei in der Mitteilung der Prüfungsabteilung vom 24. Mai 2018, auf die sich die Entscheidung nach Aktenlage stützte, berücksichtigt worden. Stattdessen sei der ursprünglich allein in Bezug auf den am 4. September 2017 eingereichten Hauptantrag (AN1) erhobene Einwand unter Artikel 123(2) EPÜ auf die am 8. August 2017 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 8 (von AN0) übertragen worden, obwohl die am 8. August 2017 eingereichten Hilfsanträge 1, 2, 4 und 6 das Merkmal A gar nicht aufwiesen, und daher die Zurückweisung dieser Hilfsanträge in der angegriffenen Entscheidung nicht auf diese Einwände unter Artikel 123(2) EPÜ gegen Merkmal A gestützt werden könne.
1. Wesentlicher Verfahrensmangel und Zurückverweisung - Artikel 11 VOBK 2020, Artikel 111(1) EPÜ
1.1 Im Rahmen der Prüfung der vorliegenden Beschwerde hat die Kammer festgestellt, dass das Verfahren vor der Prüfungsabteilung einen wesentlichen Mangel aufweist, der auf der Grundlage von Artikel 11 VOBK 2020 die Zurückverweisung der Sache an die Prüfungsabteilung ohne Entscheidung über die in der Beschwerde gestellten Anträge rechtfertigt.
Nach Artikel 11 VOBK 2020 verweist eine Kammer die Angelegenheit bei Vorliegen besonderer Gründe zur weiteren Entscheidung an das Organ zurück, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Besondere Gründe dafür liegen in der Regel dann vor, wenn das Verfahren vor diesem Organ wesentliche Mängel aufweist.
1.2 Ein solcher wesentlicher Mangel ist insbesondere dann gegeben, wenn die Entscheidung einen anderen Streitgegenstand (aliud) betrifft als den, den der Antragsteller zur Entscheidung gestellt hat. Dies stellt einen Verstoß gegen die Dispositionsmaxime dar, die, wie allgemein anerkannt, insbesondere den Prüfungs- und Beschwerdeverfahren vor dem EPA zugrunde liegt (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage, III.B.3.1; R 0013/13, Punkt 15; T1477/15, Punkt 14).
So liegt der Fall auch hier. Die Prüfungsabteilung hat ihrer Entscheidung Anträge zugrunde gelegt (AN1 und Hilfsanträge 1 bis 8 von AN0 vom 8. August 2017), die nicht mehr bei ihr anhängig waren, außerdem hat sie keine Entscheidung über den tatsächlich anhängigen Antrag (AN2) getroffen. Im Ergebnis ist über das tatsächliche Begehren der Beschwerdeführerin von der Prüfungsabteilung bislang nicht entschieden worden.
Insbesondere hat die Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung ihre Entscheidungsgründe auf die Mitteilung vom 24. Mai 2018 gestützt, die bestimmte Ausführungen zur mangelnden Gewährbarkeit betreffend den am 30. August 2017 gestellten Hauptantrag (AN1) sowie die am 7. August 2017 gestellten Hilfsanträge 1 bis 8 (von AN0) enthielt. Diese Anträge waren allerdings zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung allesamt nicht mehr anhängig. Denn der betreffende Hauptantrag (AN1) war bereits mit Schreiben vom 12. März 2018 durch einen neuen Hauptantrag (AN2) ersetzt worden, und Hilfsanträge 1 bis 8 waren noch zuvor mit Schreiben vom 30. August 2017 (eingegangen am 4. September 2017) zurückgenommen worden.
1.3 Damit stand bei der Prüfungsabteilung allein der Hauptantrag vom 12. März 2018 (AN2) zur Entscheidung, er bildete dort den einzigen Streitgegenstand. Über ihn ist jedoch nicht entschieden worden.
1.4 Die Prüfungsabteilung hat sich somit bei ihrer Entscheidung nicht an die vom Anmelder vorgelegte oder gebilligte Fassung gehalten, in Widerspruch zu Artikel 113(2) EPÜ.
Angesichts dessen ist das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels festzustellen.
1.5 Unter diesen Umstände wird die Angelegenheit ohne eigene Sachprüfung an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung gemäß Artikel 11 VOBK 2020 und Artikel 111(1) EPÜ zurückverwiesen.
Besondere Gründe zur Zurückverweisung gemäß Artikel 11 VOBK 2020 sieht die Kammer auch dadurch gegeben, dass der im Hauptantrag des Beschwerdeverfahrens weiterverfolgte Gegenstand (Hauptantrag AN3) weder das Merkmal A noch das Merkmal B enthält und die Kammer somit im Beschwerdeverfahren mit einem breiterem Gegenstand befasst wäre, als er der Entscheidung zu Grunde lag und als er der Entscheidung zu Grunde hätte liegen müssen.
2. Zurückerstattung der Beschwerdegebühr - Regel 103(1)(a) EPÜ
Da die Prüfungsabteilung nicht über die anhängigen Anträge entschieden hat, sondern über solche, die nicht mehr anhängig waren, muss das Prüfungsverfahren fortgeführt werden (vgl. diesbezüglich Punkt 1.4 der Mitteilung der Kammer vom 2. November 2021). Da die Beschwerdeführerin die Beschwerde einlegen musste, um zu ihrem Recht zu kommen, entspricht es der Billigkeit, die Beschwerdegebühr gemäß Regel 103(1)a) EPÜ zurückzuzahlen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.
3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.