T 1182/19 01-09-2022
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Verbundmaterial
Neuheit (ja)
Zurückverweisung an die erste Instanz (ja)
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin und die Beschwerde der Einsprechenden richten sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, mit der unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin vorgenommenen Änderungen das europäische Patent Nr. 2336811 in geänderter Fassung gemäß dem damaligen zweiten Hilfsantrag aufrechterhalten worden ist.
Mit dem Einspruch war das Streitpatent in vollem Umfang und gestützt auf die Einspruchsgründe unzulässiger Erweiterung (Artikel 100 c) EPÜ), unzureichender Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ), sowie mangelnder Neuheit und fehlender erfinderischer Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikeln 52 (1), 54 (1) und 56 EPÜ) angegriffen worden.
II. Folgende Dokumente wurden u.a. im erstinstanzlichen Verfahren herangezogen und von den Beteiligten im Beschwerdeverfahren wieder aufgegriffen:
D1: DE 4344258 C1
D2: US 4334523 A
D3: "Oberflächen von Leichtmetallen", M. Textor; Vorlesungsunterlagen SS 2002, ETH Zürich; Seiten 2a bis 3b, Teil I (Seiten 4 bis 23) und Teil II (Seiten 1 bis 49)
D17: Auszug aus "Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry" (2009), W B Frank et al.; Abschnitt "Aluminium", 13 Seiten
D20: "Aluminium-Taschenbuch", 11. Auflage (1957); Seiten 138 bis 147.
III. In der angefochtenen Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung u.a. die Auffassung, dass
- der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß dem Hauptantrag (Patent in der erteilten Fassung) nicht neu gegenüber der Druckschrift D1 sei;
- der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß dem damaligen ersten Hilfsantrag gegenüber der Druckschrift D1 als nächstkommendem Stand der Technik nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe; und
- der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß dem damaligen zweiten Hilfsantrag u.a. gegenüber der Druckschrift D1 neu sei und u.a. gegenüber der Druckschrift D1 als nächstliegendem Stand der Technik auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
IV. Mit der Beschwerdebegründung hat die Patentinhaberin Ansprüche gemäß einem ersten und einem zweiten Hilfsantrag und das folgende Dokument eingereicht:
D22: "Nanoscale tomography in materials science", G. Möbus et al.; Materials Today, Bd. 10, Nr. 12 (2007); Seiten 18 bis 25.
V. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020, die als Anlage einer Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügt war, teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Auffassung zu der Sache mit.
VI. Auf die Mitteilung der Kammer hin hat die Einsprechende mit Schreiben vom 1. Februar 2022 folgende Dokumente eingereicht:
D23: "Improved Selective Properties of SiO2/TiNxOy-Al Tandem Absorbers Effected by Tempering", H. Schellinger et al.; SPIE Proceedings "Optical Materials Technology for Energy Efficiency and Solar Energy Conversion XIII", Bd. 2255, 1994; zwei bibliographische Seiten, Seiten iii bis v, und Seiten 172 bis 181
D24: "Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry"; Wiley-VCH Verlag GmbH, 2012; Seiten 163 bis 168
D25: "Verhalten von Kupferoberflächen an der Atmosphäre", H. Protzer et al., (www.kupferinstitut.de/fileadmin/user_upload/kupferinstitut.de/de/Documents/Werkstoffe/Anwendung/Bau/DachWand/s.131.pdf); 7 Seiten,
und die Patentinhaberin hat mit Schreiben vom 1. August 2022 folgendes Dokument eingereicht:
D26: "Plasma-Beschichtungsverfahren und Hartstoffschichten", B. Rother et al.; Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Leipzig, 1992; zwei bibliographische Seiten, und Seiten 33 bis 41.
VII. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 1. September 2022 statt.
Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin I) beantragte als Hauptantrag die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückweisung des Einspruchs (d.h. die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung), und hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche gemäß dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten ersten Hilfsantrag oder gemäß dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten zweiten Hilfsantrag. Weiter hilfsweise beantragte sie als dritten Hilfsantrag die Zurückweisung der Beschwerde der Einsprechenden (d.h. die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung gemäß dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden zweiten Hilfsantrag).
Die Einsprechende (Beschwerdeführerin II) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.
VIII. Der erteilte Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet wie folgt:
"Verbundmaterial mit einem aus Aluminium bestehenden Träger (1), mit einer auf einer Seite (A) auf dem Träger (1) befindlichen, aus Aluminiumoxid bestehenden Zwischenschicht (2) und mit einem auf die Zwischenschicht (2) aufgebrachten optisch wirksamen Mehrschichtsystem (3), welches aus mindestens zwei dielektrischen und/oder oxidischen Schichten (4, 5), nämlich einer oberen Schicht (4) und einer unteren, lichtabsorbierenden Schicht (5), besteht, wobei die obere Schicht (4) eine dielektrische Schicht mit einem Brechungsindex n < 1,7 ist, dadurch gekennzeichnet, dass die Zwischenschicht (2) eine Dicke (D2) von nicht mehr als 30 nm aufweist, wobei die untere, lichtabsorbierende Schicht (5) unmittelbar auf die Zwischenschicht (2) aufgetragen ist und die Zwischenschicht (2) sich unmittelbar auf dem Träger (1) befindet."
1. Die Beschwerde der Patentinhaberin und die Beschwerde der Einsprechenden sind zulässig.
2. Hauptantrag (Patent in der erteilten Fassung) - Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit (Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikel 54 EPÜ) - Druckschrift D1
2.1 In der angefochtenen Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 nicht neu gegenüber der Druckschrift D1 sei. Die Einspruchsabteilung befand u.a., dass in dem Verbundmaterial nach der Druckschrift D1 eine auf dem Aluminiumträger 1 (Fig. 8) befindliche Zwischenschicht aus Aluminiumoxid implizit vorhanden sei, weil in der Druckschrift D1 keine besonderen Maßnahmen offenbart seien, um die Bildung einer solchen natürlichen Schicht auf dem Aluminiumträger zu verhindern.
Die Patentinhaberin hat dieser Auffassung der Einspruchsabteilung widersprochen und unter Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung der Beschwerdekammern geltend gemacht, dass in der Druckschrift D1 keine klare und unmissverständliche Lehre einer aus Aluminiumoxid bestehenden Zwischenschicht zu finden sei. Falls eine solche Schicht mit den beanspruchten Merkmalen bei der Herstellung des Aluminiumsubstrats entstehen würde (D1, Ansprüche 10, 11 und 24, Seite 4, Zeilen 29 und 30, und Zeilen 62 bis 66, Seite 6, Zeilen 59 bis 67, und Seite 7, Zeilen 64 und 65, i.V.m. D3, Teil II, Fig. 2.1.2 und 3.2.1, und Seite 3, letzter Absatz, und D22, Fig. 2) und falls sie nach der Herstellung des gesamten Verbundmaterials unverändert bleiben würde, wäre dann in der Druckschrift D1 von einer impliziten Offenbarung einer Reinigung der Aluminiumoberfläche, also von einer Entfernung der Oxidschicht, wie diese üblicherweise praktiziert werde (D3, Teil I, Seite 15, Tabelle 3.3.1, vorletzter Zeile), auszugehen, da das Substrat des resultierenden Verbundmaterials definitionsgemäß "ein metallisches Substrat" bzw. eine metallische Unterlage (D1, Anspruch 14 und Seite 5, Zeilen 1 bis 8) sei und in der Druckschrift D1 keine Zwischenschicht aus Aluminiumoxid auf dem Substrat offenbart sei.
Die Einsprechende hat die Auffassung vertreten, dass in der Druckschrift D1 eine Aluminiumoxid-Zwischenschicht auf dem Aluminiumträger implizit offenbart sei, weil sich eine solche natürliche Oxidschicht mit einer Dicke von ca. 2 - 3 nm auf Aluminium bei normalen Bedingungen bilde und in der Druckschrift D1 keine besonderen Maßnahmen offenbart seien, die dazu führen würden, die Bildung dieser natürlichen Schicht zu verhindern. Die Einsprechende hat auch Argumente vorgebracht, die einerseits die von der Patentinhaberin zitierten Passagen der Druckschriften D1, D3 (Teil II, Seite 5, Tabelle 2.1.1) und D22 und andererseits die Offenbarung der Druckschriften D17 (Nr. 3.1) und D20 (Seite 145) betreffen.
2.2 Bei der Frage der Neuheit des beanspruchten Gegenstands gegenüber der Druckschrift D1 geht es, wie von der Patentinhaberin geltend gemacht, nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern darum, ob die Merkmale des beanspruchten Gegenstands sich unmittelbar und eindeutig aus der Offenbarung der Druckschrift D1 ableiten lassen. Dies gilt auch für Merkmale, die in der Druckschrift D1 implizit offenbart sind, d.h. für Merkmale, die der einschlägige Fachmann objektiv als sich aus dem expliziten Inhalt der Druckschrift D1 zwangsläufig ergebend ansehen würde (vgl. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA", 10. Auflage, Juli 2022, I.C.4.3).
In Bezug auf die Gesamtoffenbarung der Druckschrift D1 ist Folgendes anzumerken:
- Einerseits könnte angenommen werden, dass der Träger aus Aluminium der Druckschrift D1 (Seite 4, Zeile 62, bis Seite 5, Zeile 8) eine Oxidschicht mit einer Dicke in der Größenordnung von einigen Nanometern auf seiner Oberfläche aufweisen würde, weil sich bei normalen Bedingungen und in Abwesenheit geeigneter Maßnahmen zur Verhinderung einer Oxidierung der Aluminiumoberfläche des Trägers eine solche Oxidschicht auf der Aluminiumoberfläche auf natürliche Weise innerhalb kurzer Zeit bildet (siehe dazu auch Druckschrift D3, Teil II, Seite 1, Nr. 2.1, Zeilen 1 bis 7, und Seite 5, Tabelle 2.1.1, und Druckschrift D17, Nr. 3.1, erster Absatz).
- Andererseits betrifft die Druckschrift D1 das technische Gebiet der Strahlungswandler, insbesondere ihre Verwendung in der Solarenergie, in der Halbleiterindustrie, usw. (Zusammenfassung und Seite 4, Zeile 62, bis Seite 5, Zeile 42), und das in der Druckschrift D1 offenbarte Verbundmaterial (Fig. 8) besteht u.a. aus einer dünnen Absorber-Schicht "(2)", die - wie von der Patentinhaberin betont - nicht auf einem beliebigen Substrat, sondern "auf einem metallischen" Aluminiumsubstrat "(1)" aufgebracht wird (Anspruch 14 i.V.m. Seite 4, Zeilen 29 und 30, und Seite 4, Zeile 62, bis Seite 5, Zeile 56, insbesondere der die Seiten 4 und 5 überbrückende Satz). Es könnte davon ausgegangen werden, dass angesichts der zu erzielenden Eigenschaften (optische Absorption, Diffusion, elektrische Eigenschaften, usw., vgl. D1, Zusammenfassung und Seite 4, Zeile 62, bis Seite 5, Zeile 42) und der offenbarten strukturellen Merkmale des Verbundmaterials der auf diesem konkreten technischen Gebiet tätige Fachmann bei der Implementierung der Offenbarung der Druckschrift D1 hinsichtlich der Herstellung des Verbundmaterials der Fig. 8 geeignete Maßnahmen anwenden würde, die gewährleisten, dass das Verbundmaterial auf der inneren Oberfläche des metallischen Trägers keine natürliche Oxidschicht aufweist, die die erwähnten Eigenschaften beeinflussen könnte.
Aus diesen Überlegungen folgt nach Ansicht der Kammer bereits, dass die beanspruchte Zwischenschicht aus Aluminiumoxid mit einer Dicke von nicht mehr als 30 nm weder explizit noch implizit unmittelbar und eindeutig der Offenbarung der Druckschrift D1 entnommen werden kann.
Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben,
- ob sich konkret bei der Herstellung des Aluminiumsubstrats der Druckschrift D1 (Seite 4, Zeilen 26 bis 35, und Seite 7, Zeilen 5 bis 38, i.V.m. den Druckschriften D3 (Teil II, Seite 3, letzter Absatz, Seite 4, erster Absatz, Fig. 2.1.2 auf Seite 4, und Tabelle 2.1.1 auf Seite 5), D17 (Nr. 3.1) und D20 (Nr. 5.14 auf Seiten 144 und 145)) eine Aluminiumoxidschicht mit den beanspruchten Merkmalen auf dem Aluminiumsubstrat - wie von der Einsprechenden geltend gemacht - tatsächlich bildet bzw.
- ob eine solche Aluminiumoxidschicht, wie von der Patentinhaberin geltend gemacht, nicht - oder zumindest nicht zwangsläufig - entsteht oder, wenn vorhanden, nach der Abscheidung der übrigen Schichten (Fig. 8, Schichten (2) und (3)) durch Veränderung - insbesondere durch eine durch Ionen-Interdiffusion verursachte Schichtumwandlung (vgl. Druckschrift D1, Anspruch 24 i.V.m. Seite 7, Zeilen 64 und 65) - nicht mehr vorhanden ist bzw. bei der Implementierung der Offenbarung der Druckschrift D1 von dem einschlägigen Fachmann durch geeignete Maßnahmen entfernt wird (z.B. durch Abtragung einer solchen natürlichen Oxidschicht vor der Abscheidung der übrigen Schichten (siehe dazu Druckschrift D3, Teil I, Seite 15, Tabelle 3.3.1, vorletzte Zeile, und Teil II, Nr. 3.2 auf den Seiten 27 und 28 i.V.m. Fig. 3.2.1)).
Vielmehr untermauern diese Fragen die Ansicht der Kammer, dass sich weder explizit noch implizit aus den in der Druckschrift D1 offenbarten strukturellen und funktionellen Merkmalen des Verbundmaterials noch aus dem offenbarten Herstellungsverfahren des gesamten Verbundmaterials unmittelbar und eindeutig ein Verbundmaterial mit einer solchen natürlichen Aluminiumoxid-Zwischenschicht auf der inneren Seite des metallischen Aluminiumsubstrats ergibt.
2.3 Die Druckschrift D22 wurde von der Patentinhaberin mit ihrer Beschwerdebegründung zur Stützung ihrer Argumente eingereicht und ist für die Entscheidung über die Frage der Neuheit des erteilten Anspruchs 1 gegenüber der Druckschrift D1 ohne Belang (vgl. Nr. 2.2 oben). Daher hält die Kammer eine Entscheidung über die Berücksichtigung bzw. Zulassung der Druckschrift D22 im Hinblick auf Artikel 12 (4) VOBK 2007, der gemäß Artikel 25 (2) VOBK 2020 hier anzuwenden wäre, nicht für erforderlich.
2.4 Die Kammer kommt zu dem Schluss, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 zumindest gegenüber der Druckschrift D1 neu ist (Artikel 52 (1) i.V.m. 54 (1) EPÜ).
3. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung
3.1 In der angefochtenen Entscheidung wurde die Frage der Neuheit des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1 ausschließlich gegenüber der Druckschrift D1 behandelt. Die Kammer ist - wie oben unter Nr. 2 ausgeführt - der Auffassung, dass dieser beanspruchte Gegenstand gegenüber der Druckschrift D1 entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung neu ist. Die Einsprechende hat während des Beschwerdeverfahrens den im erstinstanzlichen Verfahren geltend gemachten Einwand der mangelnden Neuheit gegenüber der Druckschrift D2 aufrechterhalten. Die angefochtene Entscheidung beinhaltet aus nachvollziehbaren Gründen keine Begründung bezüglich dieses Einwands, sodass die angefochtene Entscheidung in dieser Hinsicht nicht gerichtlich überprüft werden kann und die Kammer erstmalig und zugleich letztinstanzlich über diesen Einwand entscheiden müsste. Gemäß Artikel 12 (2) VOBK 2020, der im vorliegenden Fall gemäß Artikel 25 (1) VOBK 2020 anwendbar ist, ist jedoch die gerichtliche Überprüfung der angefochtenen Entscheidung das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens.
Außerdem wurden nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer die Druckschriften D23 bis D25 von der Einsprechenden eingereicht und als Reaktion auf die Einreichung dieser Druckschriften wurde von der Patentinhaberin die Druckschrift D26 eingereicht, wobei seitens der Einsprechenden geltend gemacht wurde, dass die beanspruchte Erfindung gegenüber der Druckschrift D23 ggf. unter Berücksichtigung der Druckschriften D24 und D25 nicht neu sei. Aufgrund dieser Sachlage sieht sich die Kammer mit der Frage konfrontiert, ob die Druckschriften D23 bis D25 und D26 zuzulassen sind (Artikel 13 (2) VOBK 2020, der im vorliegenden Fall nach Artikel 25 (3) VOBK 2020 anzuwenden wäre), und gegebenenfalls mit der weiteren Frage, ob die Druckschrift D23 für die beanspruchte Erfindung neuheitsschädlich ist.
Darüber hinaus wurden die Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 b) und c) EPÜ in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung zwar diskutiert und vom Vorsitzenden der Einspruchsabteilung auch die Auffassung der Einspruchsabteilung verkündet, dass keiner dieser Einspruchsgründe die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung in Frage stelle (siehe Niederschrift über die mündliche Verhandlung, Seite 1, vierter Absatz, und Seite 2, dritter Absatz). Da aber bereits der Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung nach Ansicht der Einspruchsabteilung entgegenstand, erachtete sie es nicht für erforderlich, die Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 b) und c) EPÜ in der Entscheidung zu behandeln und die entsprechenden Gründe für ihre Entscheidung darzulegen. Außerdem wurde sowohl der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ als auch der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ von der Einsprechenden während des Beschwerdeverfahrens aufrechterhalten. Unter diesen Umständen liegt der Kammer insoweit nichts vor, was sie gerichtlich überprüfen könnte (vgl. Artikel 12 (2) VOBK 2020), sodass die Kammer über die Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 b) und c) EPÜ ohne Kenntnis der entsprechenden Gründe für die in der mündlichen Verhandlung mitgeteilte Auffassung der Einspruchsabteilung entscheiden müsste.
Es ist auch anzumerken, dass die Entscheidungsgründe zu den Hilfsanträgen (vgl. Nr. III oben) in der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich der Frage der erfinderischen Tätigkeit offenbar auf der Auffassung der Einspruchsabteilung basierten, dass die Druckschrift D1 für den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 neuheitsschädlich war und für die Frage der erfinderischen Tätigkeit hinsichtlich der Hilfsanträge den nächstkommenden Stand der Technik darstellte (vgl. Nr. III oben). Der Auffassung der Einspruchsabteilung hinsichtlich der Neuheit des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1 gegenüber der Druckschrift D1 wird aber von der Kammer nicht gefolgt, sodass die Beurteilung der Frage der erfinderischen Tätigkeit auf einer neuen Grundlage erfolgen muss.
Aus alledem folgt, dass im vorliegenden Fall eine gerichtliche Überprüfung der angefochtenen Entscheidung in Bezug auf den Hauptantrag von der Kammer durchgeführt wurde und dass eine weitere inhaltliche Prüfung des geltenden Hauptantrags über das im Artikel 12 (2) VOBK 2020 festgelegte "vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu prüfen" hinausgehen würde. Nach der Auffassung der Kammer stellen alle diese Umstände besondere Gründe im Sinne des vorliegend gemäß Artikel 25 (1) VOBK 2020 anwendbaren Artikels 11 VOBK 2020 dar, die für die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung, sprechen.
Während die Einsprechende in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer einer Zurückverweisung zustimmte, sprach sich die Patentinhaberin dafür aus, die Sache aus Gründen der Verfahrensökonomie und im Hinblick auf ein mögliches künftiges Patentverletzungsverfahren nicht an die erste Instanz zurückzuverweisen.
Da aber kein solches Patentverletzungsverfahren tatsächlich anhängig ist, sieht die Kammer darin keinen Grund, von einer Zurückverweisung abzusehen. Hinsichtlich des von der Patentinhaberin geltend gemachten Kriteriums der Verfahrensökonomie ist zu berücksichtigen, dass das Beschwerdeverfahren, wie oben dargelegt, in erster Linie der Überprüfung der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung dient. Eine Sache wird deshalb in der Regel zurückverwiesen, wenn wesentliche Fragen zur Patentierbarkeit des beanspruchten Gegenstands von der erstinstanzlichen Abteilung noch nicht geprüft und entschieden wurden. Dies und das Interesse der Einsprechenden an einer Prüfung durch zwei Instanzen überwiegen nach Ansicht der Kammer den von der Patentinhaberin geltend gemachten Aspekt der Verfahrensökonomie im vorliegenden Fall.
3.2 Aus diesen Gründen hält die Kammer es für angebracht, in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ und unter Berücksichtigung des Artikels 11 VOBK 2020 die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.