T 2490/19 05-04-2023
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FLIEHKRAFTPENDEL UND KUPPLUNGSSCHEIBE MIT DEMSELBEN
Valeo Embrayages
ZF Friedrichshafen AG
Ausreichende Offenbarung - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (nein)
I. Gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, wonach das Streitpatent in der Fassung des damaligen Hilfsantrags 4 die Erfordernisse des EPÜ erfüllt, hat die Einsprechende 1 (Beschwerdeführerin) Beschwerde eingelegt.
II. Die Einspruchsabteilung hatte unter anderem entschieden, dass
1) der Gegenstand dieses Antrags neu ist und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, und
2) das Streitpatent gemäß diesem Antrag die Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann.
III. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
Da die Verfahrensbeteiligte Einsprechende 2 trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zur mündlichen Verhandlung erschien, wurde das Verfahren gemäß Regel 115 (2) EPÜ ohne sie fortgesetzt. Gemäß Artikel 15 (3) VOBK 2020 wurde sie so behandelt, als stützte sie sich ausschließlich auf ihr schriftliches Vorbringen.
IV. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde oder die Aufrechterhaltung des Streitpatents auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 oder 2, eingereicht am 6. April 2020.
Die Verfahrensbeteiligte Einsprechende 2 stellte keine Anträge.
V. Der unabhängige Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt (Merkmalsgliederung in eckigen Klammern hinzugefügt):
[1.1] Kupplungsscheibe (1) mit
[1.2] zumindest zwei entgegen der Wirkung einer Federeinrichtung (11) um eine gemeinsame Drehachse (D) verdrehbaren eingangsseitigen und ausgangsseitigen Flanschteilen (3, 4, 7),
[1.3] wobei einem der Flanschteile (3) Reibbeläge (6) zugeordnet sind, und
[1.4a] wobei einem der Flanschteile (7) zumindest ein Fliehkraftpendel (2, 2a)
[1.5] mit einem Trägerflansch (12, 12a) und zumindest einer Pendelmasse (14, 14a), die gegenüber dem Trägerflansch (12, 12a) mittels auf Laufbahnen (19, 19a, 20, 20a) von im Trägerflansch (12, 12a) und in den Pendelmassen (14, 14a) vorgesehen Ausschnitten (17, 17a, 18, 18a) abwälzenden Wälzkörpern (22, 22a) in Umfangsrichtung und radial begrenzt verschwenkbar angeordnet ist,
[1.4b] radial innerhalb der Reibbeläge (6) wirksam zugeordnet ist,
[1.6] wobei die zumindest eine Pendelmasse (14, 14a) während einer Auslenkung gegenüber dem Trägerflansch (12, 12a) unter Verdrehung um einen eigenen Massenschwerpunkt (S) in den Laufbahnen (19, 19a, 20, 20a) geführt ist,
[A2] der Trägerflansch (12, 12a) mit dem Flanschteil (7) drehfest verbunden ist;
[A3] zumindest ein Trägerflansch (12, 12a) mit zumindest einer auf eine Ordnung einer Drehschwingung abgestimmter [sic] Pendelmasse (14, 14a) vorgesehen ist,
[A4] die Laufbahnen (19, 19a, 20, 20a) bezüglich einer bei einer Nulllage der zumindest einen Pendelmasse (14, 14a) parallel zu einer Mittellinie dieser durch die Wälzkörper (22, 22a) gezogenen Symmetrielinie (28) asymmetrisch ausgebildet sind,
[A5] die Laufbahnen (19, 19a, 20, 20a) eine Freiform aufweisen, und
[A11] ein Schwingwinkel (phi) der zumindest einen Pendelmasse (14, 14a) zwischen ±50° und ±120°, bevorzugt ±90° beträgt.
VI. In der vorliegenden Entscheidung wird auf folgende Entgegenhaltungen Bezug genommen:
D1: DE 10 2006 028 552 A1
D4: GB 598 811 A
D7a: DE 196 31 989 C1
D7b: EP 0 828 090 A2
VII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, soweit für die Entscheidung relevant, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Ausführbarkeit
Das Streitpatent offenbare die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann.
Erfinderische Tätigkeit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D1 in Verbindung mit D4 und dem allgemeinen Fachwissen.
Zulassung von ergänzenden Ausführungen der Beschwerdegegnerin in das Beschwerdeverfahren
Die während der mündlichen Verhandlung erstmals vorgebrachten ergänzenden Ausführungen der Beschwerdegegnerin zur Nichtkombinierbarkeit der Dokumente D1 und D4 ("Stufenbolzen") seien unter Artikel 13 (2) VOBK nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
VIII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin, soweit für die Entscheidung relevant, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Ausführbarkeit
Das Streitpatent offenbare die Erfindung so deutlich und vollständig, dass ein Fachmann sie ausführen kann.
Erfinderische Tätigkeit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe auf einer erfinderischen Tätigkeit, da der Fachmann ausgehend von D1 die Lehre der D4 nicht berücksichtigt hätte.
Zulassung von ergänzenden Ausführungen der Beschwerdegegnerin in das Beschwerdeverfahren
Die Beschwerdegegnerin machte keine Ausführungen zur Zulassung der von ihr während der mündlichen Verhandlung erstmals vorgebrachten ergänzenden Ausführungen zur Nichtkombinierbarkeit der Dokumente D1 und D4 ("Stufenbolzen") unter Artikel 13 (2) VOBK.
1. Ausführbarkeit
1.1 Merkmal [A5]: Freiform
1.1.1 Gemäß dem Merkmal [A5] weisen die Laufbahnen eine Freiform auf.
1.1.2 Die Beschwerdeführerin argumentierte, laut Absatz [0009] des Streitpatents sei es eine schwierige Aufgabe, Laufbahnen mit einer Freiform zu erhalten, da sie ausschließlich durch den Zusammenhang der Bewegungsgleichungen der Pendel- und Rotationsbewegung rechnerisch ermittelt werden könnten. Ferner spreche der genannte Absatz davon, dass derartige Laufbahnen einen komplizierten mathematischen Zusammenhang zwischen der Pendelbewegung und der Rotationsbewegung aufweisen. Das Streitpatent offenbare aber keine Gleichungen.
1.1.3 Die von der Beschwerdeführerin angeführten Schwierigkeiten beziehen sich auf die in Absatz [0009] der Beschreibung beschriebenen Wirkungen, wie die Verhinderung von Gleitbewegungen der Wälzkörper auf den Laufbahnen oder die Erzielung von bestimmten Pendel- und Rotationsbewegungen. Diese Wirkungen, die laut dieses Absatzes nur bei ganz speziell geformten Laufbahnen eintreten, sind aber nicht Gegenstand des Anspruchs 1 und damit kein Kriterium für die Frage der Ausführbarkeit der (beanspruchten) Erfindung.
Bezüglich des Merkmals [A5] wird nämlich anspruchsgemäß nur geschuldet, dass der Fachmann Laufbahnen herstellen kann, die eine Freiform aufweisen. Sonstige Einschränkungen bezüglich der Form der Laufbahnen ergeben sich aus dem Anspruch nicht.
1.1.4 Eine Freiform ist nach allgemeinem Begriffsverständnis eine beliebige Form. Für die Herstellung von Laufbahnen, die eine Freiform aufweisen, benötigt der Fachmann also nichts weiter als geeignetes Werkzeug, wie beispielsweise eine Fräse. Vor dem Hintergrund seines allgemeinen Fachwissens kann der Fachmann also die beanspruchte Erfindung hinsichtlich des Merkmals [A5] ohne Weiteres ausführen.
1.1.5 Zu diesem Ergebnis käme man im Übrigen selbst dann, wenn man die Beschreibung des Streitpatents zur Auslegung des Begriffs "Freiform" heranziehen wollte. Die Beschreibung enthält keine ausdrückliche Begriffsdefinition, erläutert aber in Absatz [0009], dass die Formen der Laufbahnen, welche Freiformen bilden,
"im Gegensatz zu kreisbogen- oder parabelförmigen Formen nicht durch geometrische Operationen ineinander überführt werden können".
Daraus resultiert ein etwas engeres Begriffsverständnis, wonach eine Freiform jedenfalls keine Kreisbogen- oder Parabelform sein soll. Von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen wäre der Fachmann aber immer noch frei, die Ausschnitte im Trägerflansch und in den Pendelmassen hinsichtlich ihrer Form beliebig auszugestalten. Er könnte also auch hier die beanspruchte Erfindung hinsichtlich des Merkmals [A5] ohne Weiteres mit geeignetem Werkzeug in die Praxis umsetzen.
1.2 Merkmal [A11]: Schwingwinkel
1.2.1 Gemäß dem Merkmal [A11] soll ein Schwingwinkel phi der zumindest einen Pendelmasse vorliegen, der "zwischen ±50° und ±120°, bevorzugt ±90° beträgt".
1.2.2 Die Beschwerdeführerin beanstandete zunächst den Begriff "Schwingwinkel". Der Fachmann wisse nicht, was der "Schwingwinkel" sei, da dieser nicht im Streitpatent definiert sei.
In der Tat enthält das Streitpatent keine Definition des Begriffs "Schwingwinkel". Der Begriff des Schwingwinkels ist dem Fachmann jedoch als Fachbegriff im Zusammenhang mit Pendeln allgemein bekannt, wie auch in der angegriffenen Entscheidung unter Punkt 2.2.1.4 zutreffend festgestellt wurde. Die Beschwerdegegnerin führte hierzu überzeugend aus:
"Charakteristikum eines Pendels bzw. einer Pendelmasse ist eine Schwingung des Massenmittelpunkts um die Pendelachse, die durch den Schwingwinkel beschrieben wird, der bei freien Pendeln zur bekannten Sinusschwingung führt:
phi(t) = A×sin(omega×t). Entsprechend durchläuft der Schwingwinkel periodisch den Bereich [-phimax, phimax], der symmetrisch zu phi = 0 liegt."
Dieses Verständnis ist im Einklang mit den Absätzen [0020] bis [0023] und den Figuren 4 bis 7 des Streitpatents.
1.2.3 Die Beschwerdeführerin argumentierte weiter, das Patent enthalte kein Ausführungsbeispiel, bei dem der (maximale) Schwingwinkel in den beanspruchten Bereich falle. Bei den Figuren 6 und 7 betrage der Winkel 45°, was außerhalb des beanspruchten Bereichs von 50° bis 120° liege.
1.2.4 Zunächst ist festzustellen, dass es sich bei den Figuren 6 und 7 des Streitpatents um schematische Darstellungen handelt, denen gemäß der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern grundsätzlich keine absoluten Winkelangaben entnommen werden können. Darüber hinaus sind die Figuren 6 und 7 relativ kleine Abbildungen, die jeweils auf einer halben DIN-A4 Seite Platz finden, und wovon der relevante Winkel wiederum nur jeweils einen Bruchteil ausmacht. Daher läge, selbst wenn es sich bei den Figuren 6 und 7 um exakt maßstabsgetreue Darstellungen handeln würde, die geltend gemachte Abweichung des gemessenen Winkels (45°) vom beanspruchten Winkel (50°) mit etwa 10% im Rahmen der Messunsicherheit und wäre damit nicht aussagekräftig.
1.2.5 Doch auch wenn das Streitpatent kein Ausführungsbeispiel für den beanspruchten Gegenstand enthalten würde, wäre dies für sich genommen noch kein Grund, die Ausführbarkeit zu verneinen. Entscheidend ist, ob der Fachmann aus dem Streitpatent und seinem allgemeinen Fachwissen genügend Informationen erhält, wie die beanspruchte Erfindung in die Praxis umgesetzt werden kann. Im vorliegenden Fall ist für die Frage der Ausführbarkeit der beanspruchten Erfindung hinsichtlich des Merkmals [A11] relevant, ob der Fachmann ein Fliehkraftpendel erhalten kann, dessen Pendelmasse zwischen ±50° und ±120° schwingen kann. Dies ist dem Fachmann vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens ohne Weiteres möglich, da er lediglich die Ausschnitte 17, 18 groß genug bzw. die darin befindlichen Laufbahnen 19, 20 lang genug ausgestalten muss.
1.3 Folglich offenbart das Streitpatent die in Anspruch 1 des Hauptantrags definierte Erfindung so deutlich und vollständig, dass ein Fachmann sie ausführen kann.
2. Erfinderische Tätigkeit
2.1 Die Entgegenhaltung D1 offenbart in den Figuren 2 und 3 unstreitig eine Kupplungsscheibe mit den Merkmalen [1.1] bis [1.5] und [A3], also eine (Bezugnahmen in runden Klammern beziehen sich auf D1)
[1.1] Kupplungsscheibe (18) mit
[1.2] zumindest zwei entgegen der Wirkung einer Federeinrichtung (19) um eine gemeinsame Drehachse verdrehbaren eingangsseitigen und ausgangsseitigen Flanschteilen,
[1.3] wobei einem der Flanschteile Reibbeläge (31-33) zugeordnet sind, und
[1.4a] wobei einem der Flanschteile zumindest ein Fliehkraftpendel (28)
[1.5] mit einem Trägerflansch (24) und zumindest einer Pendelmasse (25, 26), die gegenüber dem Trägerflansch (24) mittels auf Laufbahnen (41, 42) von im Trägerflansch (24) und in den Pendelmassen (25, 26) vorgesehen Ausschnitten abwälzenden Wälzkörpern (38, 39) in Umfangsrichtung und radial begrenzt verschwenkbar angeordnet ist,
[1.4b] radial innerhalb der Reibbeläge (31-33) wirksam zugeordnet ist,
[A3] wobei zumindest ein Trägerflansch (24) mit zumindest einer auf eine Ordnung einer Drehschwingung abgestimmten Pendelmasse (25, 26) vorgesehen ist (Absatz [0038]).
2.2 Das Merkmal [A5] bestimmt, dass die Laufbahnen eine "Freiform" aufweisen. Hierbei handelt es sich, wie oben ausgeführt (siehe Punkt 1.1.4), um einen breiten Begriff, der nach allgemeinem Begriffsverständnis eine beliebige Form bezeichnet. Selbst nach dem engeren Begriffsverständnis gemäß Absatz [0009] der Beschreibung des Streitpatents kann eine Freiform - mit wenigen Ausnahmen - eine nahezu beliebige Gestalt haben (siehe oben Punkt 1.1.5).
Die in D1 offenbarten Laufbahnen weisen eine solche Freiform auf, wie von der Beschwerdegegnerin nicht weiter bestritten.
2.3 Das Merkmal [A2], wonach der Trägerflansch mit dem Flanschteil drehfest verbunden ist, fordert nicht, dass der Trägerflansch 24 mit dem Flanschteil direkt drehfest verbunden ist, also ohne ein Zwischenstück.
Es ist unstreitig, dass in der Ausführungsform der Figur 2 der D1 der Trägerflansch 24 mit der Nabe 20 durch eine formschlüssige Verzahnung verbunden ist (D1, Absatz [0030]), und die Nabe 20 wiederum fest mit dem Abtriebsflansch des Dämpfers verbunden ist.
Die D1 offenbart somit auch das Merkmal [A2].
2.4 Bezüglich des Merkmals [A11] ist festzustellen, dass der Schwingwinkel phi sowohl nach allgemeinem fachmännischen Verständnis als auch nach den Erläuterungen in der Beschreibung und den Figuren des Streitpatents (siehe oben Punkt 1.2.2) den Winkel angibt, den die Pendelmasse zu einem bestimmten Zeitpunkt einnimmt. Das Merkmal [A11], wonach ein Schwingwinkel phi der zumindest einen Pendelmasse zwischen ±50° und ±120° beträgt, stellt damit auf einen Zustand im Betrieb der Kupplungsscheibe ab. Für die beanspruchte Vorrichtung bedeutet das, dass sie dafür ausgelegt sein muss, den beanspruchten Winkelbereich für den Schwingwinkel einerseits zu erreichen und andererseits nicht darüber hinaus zu gehen. Das Merkmal [A11] ist folglich derart auszulegen, dass der maximale Schwingwinkel phimax der zumindest einen Pendelmasse im beanspruchten Winkelbereich liegt.
2.5 Die Beschwerdeführerin argumentierte mit Verweis auf die Figur 10 der D1 sowie den Umstand, dass in der D1 wie auch im Streitpatent genau drei Pendelmassen am Trägerflansch angebracht sind, die D1 offenbare das Merkmal [A11] zumindest implizit.
Wie bereits ausgeführt (siehe oben Punkt 1.2.4), können jedoch einer schematischen Zeichnung grundsätzlich keine konkreten Abmessungen entnommen werden. Schon deshalb enthält die Figur 10 der D1, bei der es sich um eine schematische Abbildung handelt, keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung des konkret beanspruchten Winkels zwischen ±50° und ±120°. Im Übrigen ist auch in der Figur 10 der D1, wie bereits in den Figuren 6 und 7 des Streitpatents, der relevante Abschnitt zu klein, um eine aussagekräftige Winkelmessung vornehmen zu können (vgl. oben Punkt 1.2.4).
Die D1 enthält auch keine implizite Offenbarung des beanspruchten Winkels, die sich aus der Anzahl der Pendelmassen ableiten ließe. Zwar mag sich aus dem Umstand, dass in der Kupplungsscheibe der D1, wie im Streitpatent, drei Pendelmassen am Trägerflansch angebracht sind, die grundsätzliche Möglichkeit eröffnen, dass die Pendelmassen der D1 denselben maximalen Schwingwinkel einnehmen können wie die Pendelmassen des Streitpatents. Jedoch ist dies nicht zwingend der Fall, da der maximale Schwingwinkel noch durch weitere Faktoren bestimmt wird, wie beispielsweise die Länge der Laufbahnen (siehe oben Punkt 1.2.5). Daher lässt allein die Anzahl der am Trägerflansch angebrachten Pendelmassen keine unmittelbare und eindeutige Schlussfolgerung zu, wie weit die einzelnen Pendelmassen in der D1 tatsächlich ausschwingen können.
2.6 Folglich unterscheidet sich der beanspruchte Gegenstand vom Offenbarungsgehalt der D1 durch das Merkmal [A11] sowie unstreitig durch die Merkmale [1.6] und [A4], wonach
[1.6] die zumindest eine Pendelmasse während einer Auslenkung gegenüber dem Trägerflansch unter Verdrehung um einen eigenen Massenschwerpunkt (S) in den Laufbahnen geführt ist,
[A4] die Laufbahnen bezüglich einer bei einer Nulllage der zumindest einen Pendelmasse parallel zu einer Mittellinie dieser durch die Wälzkörper gezogenen Symmetrielinie asymmetrisch ausgebildet sind, und
[A11] ein Schwingwinkel (phi) der zumindest einen Pendelmasse zwischen ±50° und ±120°, bevorzugt ±90° beträgt.
2.7 Die sich aus dem Unterscheidungsmerkmal [1.6] ergebende objektive technische Teilaufgabe wurde in der angefochtenen Entscheidung (Punkt 2.3.3 bei der Diskussion des damaligen Hilfsantrags 1) nach Auffassung der Kammer zutreffend darin gesehen, eine Kupplungsscheibe mit verbesserter Bauraumausnutzung des Fliehkraftpendels bei gleichzeitig effizienter Filterung von Torsionsschwingungen anzugeben. Diese Aufgabenformulierung wurde zuletzt auch von den Beteiligten im Beschwerdeverfahren verwendet.
2.8 Die von der Beschwerdeführerin in Bezug genommene Entgegenhaltung D4 befasst sich mit Schwingungsdämpfern und geht von einer Konfiguration aus, bei der die Pendelmasse 11 an schwenkbaren Gliedern 12 derart aufgehängt ist, dass die Pendelmasse 11 eine parallele Schwingung relativ zum Träger 10 ausführen kann. Durch eine geeignete Wahl der Längen der Glieder 12 und des Schwerpunkts der Pendelmasse 11 könne die Vorrichtung auf eine bestimmte Ordnung der Schwingung abgestimmt werden (D4, Seite 1, Zeilen 18 bis 35; Figur 1).
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Wenn die Pendel sehr kurz sind, sei es zweckmäßiger, eine Konstruktion wie in den Figuren 2, 3 oder 4 zu verwenden, bei der auf kreisförmigen Bahnen laufende Rollen die Aufhängung bilden (D4, Seite 1, Zeilen 36 bis 41). Dies sei mechanisch einfacher umzusetzen als eine schwenkbare Lagerung für die Glieder 12 (D4, Seite 1, Zeilen 66 bis 71).
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Ausgehend hiervon stellt die D4 fest, die schwenkbaren Glieder 12 könnten auch nicht-parallel angeordnet werden, wie in den Figuren 5 und 6 gezeigt. Dies erlaube es, die Längen der schwenkbaren Glieder 12 zu verändern und dennoch zum selben Dämpfungsverhalten zu kommen, was zu mehr Spielraum hinsichtlich des Designs führe (D4, Seite 1, Zeilen 72 bis 81; Seite 2, Zeile 105 bis Seite 3, Zeile 10).
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Gleiches gelte für die nicht-parallele Aufhängung mithilfe von Rollen, wie in Figur 7 dargestellt (D4, Seite 1, Zeilen 81 bis 89; Seite 2, Zeile 105 bis Seite 3, Zeile 10).
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
2.9 Die D4 adressiert insofern die oben formulierte objektive technische Teilaufgabe. Ein größerer Spielraum hinsichtlich des Designs, unter Beibehaltung desselben Dämpfungsverhaltens, ermöglicht eine verbesserte Bauraumausnutzung des Fliehkraftpendels bei unverändert effizienter Filterung von Torsionsschwingungen. Dies umfasst insbesondere den Fall, dass - aufgrund der nicht-parallelen Aufhängung - anstatt langer schwenkbarer Glieder 12 eine Aufhängung mithilfe von Rollen zum Einsatz kommen kann (D4, Seite 3, Zeilen 8 bis 10).
2.10 Die Beschwerdegegnerin wandte ein, der Fachmann hätte ausgehend von D1 die Lehre der D4 nicht herangezogen, weil sich bei der nicht-parallelen Aufhängung mithilfe von Rollen der große Nachteil ergebe, dass zwischen den Kontaktflächen der Rollen und der Laufbahnen ein Gleiten auftrete (D4, Seite 1, Zeilen 81 bis 89). Dies gelte laut D4, Seite 2, Zeilen 7 bis 14 insbesondere bei großen Schwingwinkeln, wie sie in Merkmal [A11] gefordert werden.
Die Vermeidung von Gleiten ist jedoch nicht Bestandteil der sich aus dem Unterscheidungsmerkmal [1.6] ergebenden objektiven technischen Teilaufgabe. Sie könnte zwar bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit dann Berücksichtigung finden, wenn es sich hierbei um eine Rahmenbedingung handeln würde, die der beanspruchte Gegenstand im Allgemeinen zu erfüllen versucht. Dies ist vorliegend aber nicht der Fall, denn laut Absatz [0009] des Streitpatents kann ein Gleiten nur durch ganz bestimmte Formen von Laufbahnen vermieden werden. Der Anspruch fordert aber in Merkmal [A5] lediglich die Ausgestaltung der Laufbahnen in einer (nahezu) beliebigen Freiform (siehe oben Punkt 1.1).
Der Fachmann hätte daher die Lehre der D4 zur Lösung der genannten Teilaufgabe herangezogen.
2.11 Die D4 offenbart unstreitig das Merkmal [A4], wie anhand der folgenden Darstellung verdeutlicht, bei der die Figur 7 der D4 um die Symmetrielinien N und N' durch die Wälzkörper bei einer Nulllage der Pendelmasse ergänzt wurde.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
2.12 Die in D4 beschriebene nicht-parallele Aufhängung der Pendelmassen geht einher mit einer Asymmetrie der Laufbahnen gemäß Merkmal [A4], und führt zwangsläufig zu einer Verdrehung der Pendelmassen um ihren eigenen Massenschwerpunkt während einer Auslenkung gemäß Merkmal [1.6]. Der Fachmann wäre daher bei Anwendung der Lehre der D4 auf die Kupplungsscheibe der D1 zu einem Gegenstand gelangt, der die Merkmale [1.6] und [A4] erfüllt.
2.13 Hinsichtlich des Unterscheidungsmerkmals [A11] besteht die objektive technische Teilaufgabe darin, den maximalen Schwingwinkel phimax der zumindest einen Pendelmasse anzugeben.
2.14 Auf dem Gebiet der Schwingungsdämpfer sind Schwingwinkel von 50° und mehr nicht unüblich, wie beispielsweise der Entgegenhaltung D7a/D7b zu entnehmen ist, die einen maximalen Schwingwinkel von 70° lehrt (D7b, Spalte 4 Zeile 57 bis Spalte 5, Zeile 3).
2.15 Die Beschwerdegegnerin argumentierte, der Fachmann würde einen solch großen Schwingwinkel, wie er in D7a/D7b für Fliehkraftpendel ohne zusätzliche Verdrehung der Pendelmassen offenbart ist, nicht für Fliehkraftpendel mit zusätzlicher Verdrehung in Erwägung ziehen. Für letztere lehre die D4 nämlich ausdrücklich kleine Schwingwinkel.
Dieses Argument basiert wiederum auf der Überlegung, dass laut D4 bei großen Schwingwinkeln zwischen den Kontaktflächen der Rollen und der Laufbahnen ein Gleiten auftrete (D4, Seite 1, Zeilen 81 bis 89).
Die Vermeidung eines solchen Gleitens ist aber auch kein Bestandteil der sich aus dem Unterscheidungsmerkmal [A11] ergebenden objektiven technischen Teilaufgabe. Aus den oben unter Punkt 2.10 genannten Gründen kann dieser Aspekt daher bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit keine Berücksichtigung finden.
2.16 Der Fachmann hätte daher die Lehre der D7a/D7b zur Lösung der genannten Teilaufgabe herangezogen und wäre so in naheliegender Weise zu einem Gegenstand gelangt, der auch das Merkmal [A11] erfüllt.
2.17 Aus diesen Gründen beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
3. Zulassung von ergänzenden Ausführungen der Beschwerdegegnerin in das Beschwerdeverfahren
3.1 Während der mündlichen Verhandlung machte die Beschwerdegegnerin ergänzende Ausführungen zur Nichtkombinierbarkeit der Dokumente D1 und D4, indem sie auf die in Absatz [0033] der D1 erwähnten Stufenbolzen 44 bis 46 verwies.
3.2 Die Beschwerdeführerin beanstandete dies als eine Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK, welches die dort genannten Zulassungsvoraussetzungen nicht erfülle.
3.3 Die Beschwerdegegnerin machte keine stichhaltigen Gründe dafür geltend, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine Zulassung dieses Vorbringens in das Beschwerdeverfahren rechtfertigen könnten.
3.4 Daher wurden die ergänzenden Ausführungen der Beschwerdegegnerin zur Nichtkombinierbarkeit der Dokumente D1 und D4 ("Stufenbolzen") unter Artikel 13 (2) VOBK nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen.
4. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung
4.1 Die Hilfsanträge 1 und 2 enthalten Änderungen, die nicht nur in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit zu prüfen sind, sondern auch Fragen unter Artikel 123 (2), 83 und 84 EPÜ aufwerfen.
4.2 Da hierzu keine Feststellungen getroffen wurden, übt die Kammer das ihr durch Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ eröffnete Ermessen aus und verweist die Sache an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurück.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
Die Sache wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.