T 0156/20 07-03-2023
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GESCHOSS MIT SPRENGLADUNG MIT VORGEGEBENEM VOLUMEN UND VORGEGEBENER ÄUSSERER FORM
Zulässigkeit der Beschwerde - Beschwerdebegründung
Zulässigkeit der Beschwerde - fristgerecht eingelegt (ja)
Neuheit - (nein)
I. Das europäische Patent EP 3 091 328 B1 ("das Patent") betrifft ein Geschoss mit einer Sprengladung mit vorgegebenem Volumen und vorgegebener äußerer Form.
II. Gegen das erteilte Patent hatte die Einsprechende Einspruch eingelegt. Als Einspruchsgründe wurden unzureichende Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ) sowie mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ) geltend gemacht.
III. Die Einspruchsabteilung hat entschieden, das Patent zu widerrufen. Die Entscheidung beruht auf der Ansicht der Einspruchsabteilung, wonach der Gegenstand von Anspruch 1 des Patents nicht neu sei, und die Änderungen in Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 nicht das Erfordernis der Klarheit nach Artikel 84 EPÜ erfüllten.
IV. Gegen diese Entscheidung hat die Patentinhaberin ("die Beschwerdeführerin") Beschwerde eingelegt.
V. In der als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020 teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Einschätzung des der Beschwerde zugrundeliegenden Sachverhalts mit, wonach mit einer Zurückweisung der Beschwerde zu rechnen sei.
VI. Mit Schreiben vom 14. Dezember 2022, 20. Dezember 2022 bzw. 30. Januar 2023 ergänzten die Verfahrensbeteiligten jeweils ihr Vorbringen mit weiteren Argumenten.
VII. Eine mündliche Verhandlung fand am 7. März 2023 in Form einer Videokonferenz statt.
VIII. Am Schluss der mündlichen Verhandlung bestand folgende Antragslage:
Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent auf Grundlage des der Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrags 1 aufrechtzuerhalten, hilfsweise die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
IX. Ansprüche
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 inklusive einer von den Verfahrensbeteiligten verwendeten Merkmalsnummerierung gemäß Punkt II.2.1 der angefochtenen Entscheidung lautet:
M1.1|Geschoss (21), |
M1.2|umfassend eine Geschosshülle (22) |
M1.3|sowie eine mit einer Vergussmasse (23) in der Geschosshülle (22) umgossene Sprengladung (1, 11) mit vorgegebenem Volumen und vorgegebener äußerer Form, |
M1.4|gebildet aus einer vorgegebenen Anzahl von miteinander verbundenen vorgeformten Segmenten, welche jeweils |
M1.5|entweder ein Sprengstoff enthaltendes Sprengstoffsegment (4a, 4b, 4c, 14a, 14b, 14c) |
M1.6|oder ein keinen Sprengstoff enthaltendes Inertsegment (5a, 5b, 15a, 15b, 15c) sind, |
M1.7|wobei zumindest ein Segment ein Sprengstoffsegment (4a, 4b, 4c, 14a, 14b, 14c) ist, |
M1.8|so dass die Menge des in der Sprengladung aufgenommenen Sprengstoffs in Abhängigkeit von der Anzahl der Sprengstoffsegmente (4a, 4b, 4c, 14a, 14b, 14c) einstellbar ist, |
M1.9|wobei die in der Sprengladung (1, 11) aufgenommene Menge an Sprengstoff je nach Anzahl der Inertsegmente (5a, 5b, 15a, 15b, 15c), die anstatt von Sprengstoffsegmenten (4a, 4b, 4c, 14a, 14b, 14c) in der Sprengladung (1, 11) vorgesehen sind, schrittweise reduziert ist.|
X. Stand der Technik
Das folgende im Einspruchsverfahren bereits zitierte Dokument ist für diese Entscheidung relevant:
E9: DE 197 22 698 C1
XI. Das schriftsätzliche und mündliche Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Zulässigkeit der Beschwerde
Gemäß der Mitteilung des EPA vom 01.05.2020 über Störungen aufgrund des Ausbruchs von COVID-19 seien Fristen, die am oder nach dem 15. März 2020 abgelaufen waren, für alle Verfahrensbeteiligten und ihre Vertreter bis zum 2. Juni 2020 verlängert worden. Daher sei die gemäß Artikel 108 EPÜ ursprünglich am 16. April 2020 ablaufende Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung unter Anwendung der Regel 134 (2) EPÜ bis zum 2. Juni 2020 verlängert worden. Die Einreichung der Beschwerdebegründung am 29. Mai 2020 sei mithin fristgerecht erfolgt.
b) Hilfsantrag 1 - Neuheit
E9 offenbare ein Übungsgeschoss. Anspruch 1 definiere dagegen ein scharfes Geschoss. Ein Übungsgeschoss gemäß E9 stelle nicht notwendigerweise ein adaptiertes scharfes Geschoss mit Standardmaßen dar. Ein Übungsgeschoss könne auch länger sein oder ein anderes Gewicht haben.
Zwar sei für eine in eine Geschosshülle eingegossene Sprengladung nicht mehr erkennbar, ob für ein vorhandenes Inertsegment in der Sprengladung zuvor ein Sprengstoffsegment vorgesehen gewesen sei. Allerdings müsse es gemäß dem Modularitätsgedanken des Merkmals M1.9 des Anspruchs 1 zumindest bestimmungsgemäß bei der Herstellung der Sprengladung möglich gewesen sein, statt eines im Endstadium vorhandenen Inertsegments ein Sprengstoffsegment einzubauen. Genau das sei bei dem Übungsgeschoss von E9 nicht der Fall, da darin Inertkörper (Inertsegmente) zwingend als Abstandhalter zwischen den Wirkladungen (Sprengstoffsegmenten) vorgesehen seien.
E9 biete dem Fachmann keinen Anlass bei einem bestimmten Geschoss, Sprengstoffsegmente gegen Inertsegmente auszutauschen, um die Sprengkraft schrittweise zu reduzieren. Vielmehr lehre E9 eine besondere Anordnung von Wirkladungen und Inertkörpern zueinander, um relativ große Splitter bei der Aktivierung der Wirkladungen zu erzeugen, die nach der Detonation des Übungsgeschosses im Zielgebiet auf einfache Weise entsorgt werden können. Um diese bestimmungsgemäße Wirkung zu erzielen, seien gemäß E9 zwingend die Inertkörper vorgesehen. Die E9 weise den Inertkörpern also eine feste Funktion zu, nämlich die Funktion eines Abstandhalters. Es bestehe in der E9 daher keine Wahlmöglichkeit, die Inertkörper als Wirkladungen auszubilden. Allenfalls könnten bei einem längeren Geschoss insgesamt mehr Sprengstoffsegmente und Inertladungen vorgesehen sein, dies jedoch immer mit der Funktionszuordnung der Inertkörper als Abstandshalter.
Ein Ersetzen eines Inertkörpers durch eine Wirkladung würde dem Grundgedanken der E9 widersprechen und sei deswegen nicht möglich.
XII. Das entsprechende Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
a) Zulässigkeit der Beschwerde
Die Beschwerde sei nicht innerhalb der gemäß Artikel 108 EPÜ festgesetzten Frist begründet worden. Die Beschwerde sei daher unzulässig. Ein nach Regel 134(5) EPÜ zu stellender Antrag auf Fristverlängerung sei nicht eingereicht worden.
b) Hilfsantrag 1 - Neuheit
Anspruch 1 definiere allgemein ein Geschoss und umfasse sowohl scharfe Geschosse als auch Übungsgeschosse. Insbesondere enthalte Anspruch 1 keine Merkmale, die eine Abgrenzung des beanspruchten Geschosses von einem Übungsgeschoss nach E9 erlaube.
Wie von der Einspruchsabteilung festgestellt, offenbare E9 ein Geschoss mit den Merkmalen M1.1 bis M1.8 gemäß Anspruch 1.
Das hinzugefügte Merkmal stelle gegebenenfalls eine Einschränkung für ein Herstellungsverfahren dar. Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei jedoch auf eine Vorrichtung, nämlich ein Geschoss gerichtet. Für ein Geschoss, bei dem Inertsegmente und Sprengmittelsegmente in einer Vergussmasse eingegossen vorliegen, könne nicht mehr festgestellt werden, ob das vorhandene Inertsegment anstelle eines Sprengstoffsegments eingebaut wurde. Das dem erteilten Anspruch 1 hinzugefügte Merkmal M1.9 liefere daher keine strukturelle Einschränkung für das Geschoss.
Ohnehin gehe der von Merkmal M1.9 vermeintlich adressierte Modularitätsgedanke unmittelbar aus E9 hervor. Figur 1 von E9 zeige ein Geschoss mit folgender Abfolge von Segmenten: Deutladung (15), zwei Sprengstoffsegmente übereinander (8), Inertsegment (13), Sprengstoffsegment (9), Inertsegment, etc.. Damit verdeutliche Figur 1 von E9, dass sowohl ein Sprengstoffsegment als auch zwei Sprengstoffsegmente benachbart eingesetzt werden können. E9 offenbare zudem, dass bei dem in E9 beschriebenen Geschoss die Anzahl und Stärke der Wirkladungen wählbar sei und damit die gewünschte Zerlegung der Hülle bei der Detonation erzielt werden kann. Die Menge an Sprengstoff hänge von der Anzahl der Inertsegmente ab, die anstatt von Sprengstoffsegmenten ausgebildet seien.
1. Zulässigkeit der Beschwerde
Die Beschwerde wurde mit dem Schreiben vom 29. Mai 2020 und damit nach der gemäß Artikel 108 EPÜ ursprünglich am 16. April 2020 ablaufenden Frist begründet.
Gemäß der Mitteilung des EPA vom 1. Mai 2020 (Amtsblatt EPA 2020, A60) über Störungen nach Regel 134(2) EPÜ aufgrund des Ausbruchs von COVID-19 waren Fristen, die am oder nach dem 15. März 2020 abgelaufen waren, jedoch für alle Verfahrensbeteiligten und ihre Vertreter bis zum 2. Juni 2020 verlängert worden.
Daraus folgt, dass die gemäß Artikel 108 EPÜ ursprünglich am 16. April 2020 ablaufende Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung unter Anwendung der Regel 134 (2) EPÜ bis zum 2. Juni 2020 verlängert worden war.
Die Einreichung der Beschwerdebegründung am 29. Mai 2020 erfolgte mithin fristgerecht.
Alle übrigen Erfordernisse für die Zulässigkeit einer Beschwerde werden unstreitig im vorliegenden Fall erfüllt.
Die Beschwerde ist folglich zulässig.
2. Hilfsantrag 1 - Neuheit (Artikel 54 EPÜ)
2.1 E9 beschreibt ein Übungsgeschoss mit einer Geschosshülle (siehe Spalte 1, Zeilen 3-4; Anspruch 1). Die vorgefertigt Sprengladung wird in der Geschosshülle von einer Inertmasse 5 umhüllt (siehe Spalte 2, Zeilen 43-51). Das Geschoss enthält Sprengstoffsegmente ("Wirkladungen", (8-11)) und Inertsegmente ("Inertkörper", (13)) sowie Übertragungsladungen (12), siehe Figur 1 und Spalte 2, Zeilen 9 bis 15.
2.2 Nach Ansicht der Beschwerdeführerin unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 von der Offenbarung von E9 dadurch, dass es sich bei dem beanspruchten Gegenstand um ein Geschoss und nicht um ein Übungsgeschoss handele. Zudem unterscheide sich das beanspruchte Geschoss von dem Übungsgeschoss der E9 durch das im Vergleich zur erteilten Fassung aufgenommene Merkmal M1.9, das einen "Modularitätsgedanken" zum Ausdruck bringe.
Die Kammer teilt diese Ansicht der Beschwerdeführerin nicht.
2.3 Anspruch 1 definiert ein Geschoss im Allgemeinen und umfasst daher sowohl scharfe Geschosse als auch Übungsgeschosse. Übungsgeschosse können sich zwar von scharfer Munition neben ihrer Sprengkraft zum Beispiel auch durch das Gewicht oder die Länge unterscheiden. Allerdings ist dies nicht zwingend, und Anspruch 1 enthält auch keine Merkmale, die diesbezüglich eine Abgrenzung zu einem in Figur 1 von E9 dargestellten Übungsgeschoss erlauben.
2.4 Die Formulierung "anstatt" in Merkmal M1.9 setzt zwar gedanklich zunächst ein Sprengstoffsegment voraus, anstelle dessen ein Inertsegment in dem Geschoss vorgesehen ist. Dieser nach Merkmal M1.9 erforderliche Austausch eines Sprengstoffsegments durch ein Inertsegment charakterisiert allerdings lediglich das Herstellungsverfahren des Geschosses und nicht das in Anspruch 1 definierte Geschoss als solches, bei dem die Sprengladung von einer Inertmasse in der Geschosshülle umgossen vorliegt.
Ob für ein vorhandenes Inertsegment der Sprengladung des bereits gefertigten Geschosses zuvor ein Sprengstoffsegment angedacht war und dann im Herstellungs- oder Konstruktionsprozess ersetzt wurde, ist für eine in einer Geschosshülle eingegossene Sprengladung nicht mehr erkennbar.
Das Merkmal M1.9 liefert daher keine strukturellen Merkmale für das beanspruchte Geschoss, die der Abgrenzung von dem in E9 beschriebenen Geschoss dienen könnten.
2.5 Selbst wenn man dem Argument der Beschwerdeführerin dahingehend folgte, dass das hinzugefügte Merkmal M1.9 einen "Modularitätsgedanken" definiere, für den E9 keine Anregung liefere, so ermöglicht dieses Merkmal nichtsdestotrotz keine Abgrenzung des beanspruchten Gegenstands von dem Geschoss nach E9.
Da für ein gegebenes, fertiggestelltes Geschoss nicht nachvollzogen werden kann, wie es hergestellt wurde bzw. welches Geschoss als Vorlage oder Ausgangspunkt diente, ist es für die Beurteilung der Neuheit unerheblich,
- ob E9 keine Anregung dafür liefert, bei der
Herstellung des Geschosses entsprechend E9 ein Sprengstoffsegment durch ein Inertsegment zu ersetzen, um ein Geschoss nach Figur 1 herzustellen, und
- ob E9 auch keinen Anlass dazu gibt, ein
Inertsegment durch ein Sprengstoffsegment zu ersetzen.
Für die Frage der Neuheit reicht es aus, dass das in E9 offenbarte Geschoss so ausgestaltet ist, dass dieses geeignet ist, gedanklich ausgehend von einem Geschoss hergestellt zu werden, das anstelle zumindest eines der Inertsegmente ein Sprengstoffsegment aufgewiesen hat.
Bei dem in Figur 1 von E9 dargestellten Geschoss ist dies technisch ohne weiteres möglich.
2.6 Diese Ansicht wird auch durch die weiteren Argumente der Beschwerdeführerin nicht in Frage gestellt.
2.6.1 Einerseits hat die Beschwerdeführerin kein Argument vorgebracht, warum es nicht möglich gewesen sein sollte, dass E9 auf Grundlage eines Geschosses mit höherer Sprengkraft entwickelt wurde, das anstelle von einem oder mehreren Inertsegementen mehr Sprengstoffsegmente aufwies.
2.6.2 Andererseits stützt auch die Offenbarung in E9 nicht die Auffassung der Beschwerdeführerin, wonach E9 zwingend vorschreibe, dass Sprengstoffsegmente immer von einem Inertsegment als Abstandhalter getrennt vorliegen müssten.
Im Gegenteil zeigt Figur 1 von E9, dass in dem Geschoss auch direkt übereinander angeordnete Sprengstoffsegmente vorliegen können, die nicht von einem Inertsegment getrennt werden, siehe den unteren Bereich des in Figur 1 dargestellten Geschosses.
Selbst wenn man der Auffassung der Beschwerdeführerin dahingehend folgt, dass in dem Übungsgeschoss nach E9 Sprengstoffsegmente und Inertsegmente im Wesentlichen abwechselnd eingesetzt werden, um große Splitter bei der Detonation zu erzeugen (siehe Spalte 1, Zeilen 47 bis 51 von E9), lässt sich daraus nicht ableiten, dass E9 nicht auf Grundlage eines Geschosses entwickelt und hergestellt werden konnte, das anstelle eines oder mehrerer Inertsegmente ein oder mehrere Sprengstoffsegmente aufwies und gegebenenfalls kleine Splitter bei der Detonation erzeugte.
2.7 Daher ist der Argumentation in Punkt II.3.2 der angefochtenen Entscheidung und der Argumentation der Beschwerdegegnerin zuzustimmen, dass nicht erkennbar ist, wie das hinzugefügte Merkmal M1.9 eine Abgrenzung von einem gegebenen, beispielsweise in Figur 1 von E9 beschriebenen Geschoss ermöglichen soll.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 ist somit gegenüber dem Dokument E9 nicht neu.
Die Beschwerde bleibt daher ohne Erfolg.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.