T 0573/20 27-10-2022
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SICHERHEITSELEMENT, WERTDOKUMENT MIT EINEM SOLCHEN SICHERHEITSELEMENT SOWIE HERSTELLUNGSVERFAHREN EINES SICHERHEITSELEMENTES
Neuheit - (nein)
Zurückverweisung - (ja)
I. Die Einsprechende hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das Patent Nr. 2507068 zurückzuweisen, Beschwerde eingelegt.
II. Mit dem Einspruch war das Patent in gesamtem Umfang im Hinblick auf Artikel 100 a) und b) EPÜ angegriffen worden.
III. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) und b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form nicht entgegenstünden.
IV. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020, die als Anlage einer Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügt war, teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige und unverbindliche Meinung zu bestimmten, wesentlichen Aspekten des vorliegenden Beschwerdeverfahrens mit.
V. Die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 27. Oktober 2022 statt.
VI. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) beantragte abschließend die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents, sowie die Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz, falls der Hauptantrag für nicht gewährbar gehalten werden sollte.
VII. Die Patentinhaberin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag),
- hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz, falls der Hauptantrag für nicht gewährbar gehalten werden sollte,
- weiter hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung mit den Ansprüchen gemäß Hilfsanträgen 1, 2, 2a, 3, 3a, 4, 4a, 5, 6, 6a, 7, 7a, alle eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung vom 13. Oktober 2020.
VIII. Die vorliegende Entscheidung nimmt Bezug auf folgende, aus dem erstinstanzlichem Verfahren bereits bekannte Druckschrift E2: DE 101 08 637 A1.
IX. Der Wortlaut des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag lautet (die aus der angefochtenen Entscheidung bekannte Nummerierung M1 bis M4.2 der Merkmale des erteilten Anspruchs 1 wird übernommen und dem eigentlichen Wortlaut der jeweiligen Merkmale des Anspruchs 1 vorangestellt):
"M1 Sicherheitselement für ein Sicherheitspapier, Wertdokument oder dergleichen, mit
M2.1 einem Träger,
M2.2 der einen reflektiven Flächenbereich aufweist,
M2.3 der in eine Vielzahl von reflektiven Pixeln aufgeteilt ist, wobei
M2.4 die Fläche jedes Pixels um zumindest eine Größenordnung kleiner ist als die Fläche des reflektiven Flächenbereiches, wobei
M3.1 jedes Pixel zumindest eine reflektive Facette aufweist, die in einer Oberfläche des Trägers ausgebildet ist, wobei
M3.2 die zumindest eine reflektive Facette auf den Flächenbereich entlang einer vorbestimmten Richtung einfallendes Licht gerichtet in eine durch ihre Orientierung vorgegebene Reflexionsrichtung reflektiert, wobei
M4.1 die Orientierungen der Facetten unterschiedlicher Pixel über den reflektiven Flächenbereich eine im Wesentlichen zufällige Variation aufweisen, und wobei
M4.2 die Orientierungen der Facetten unterschiedlicher Pixel eine im Wesentlichen zufällige Variation um bereichsweise vorgegebene unterschiedliche mittlere Orientierungen aufweisen."
1. Auslegung des Begriffs "zufällige Variation" in den Merkmalen M4.1 und M4.2
1.1 Gemäß der Einsprechenden haben die Merkmale M4.1 und M4.2 "zum Inhalt, dass die Variation im Wesentlichen durch einen Zufallsprozess bestimmt ist" und dass "[d]as 'Wesen' eines Zufallsprozesses gerade darin [besteht], dass sämtliche mögliche Kombinationen auftreten können". Dadurch sei nicht nachvollziehbar, ob die zufällige Orientierung der Facetten "basierend auf einem 'Zufallsprozess' oder einem 'deterministischen Algorithmus' bestimmt worden ist". Bei den Merkmalen M4.1 und M4.2 handele "es sich somit letztendlich um 'product by process' Merkmale, welche nach gefestigter Rechtsprechung nur dann ein Abgrenzungsmerkmal bereitstellen, wenn der hierzu angegebene Prozess (Zufallsprozess) an dem beanspruchten Produkt (Sicherheitselement) noch erkennbar ist" (Beschwerdebegründung, Seiten 4 bis 6, Punkte 1.4.1 bis 1.4.4).
1.2 Gemäß der Patentinhaberin ist es für den Fachmann leicht ersichtlich, dass mit dem Begriff "zufällige Orientierung" eine "nicht regelmäßige, regellose oder nicht geordnete Orientierung" gemeint ist (Beschwerdeerwiderung, Punkt 2.3, Seite 4, zweiter Absatz). Während der mündlichen Verhandlung fügte die Patentinhaberin hinzu, dass der Begriff "zufällige Variation" so ausgelegt werden müsste, dass er einen technischen Sinn ergebe. Ansonsten wäre er, entgegen der Lesart des Fachmanns, bedeutungslos.
1.3 Die Einspruchsabteilung kam zu dem gleichen Schluss wie die Patentinhaberin, nämlich dass "die 'zufällige' Variation der Orientierungen der Facetten als ungeordnet und unregelmäßig anzusehen ist" (angefochtene Entscheidung, Punkt II.3.1, Seite 7, erster und vierter Absatz).
1.4 Die Kammer teilt die oben im Punkt 1.1 wiedergegebene Auffassung der Einsprechenden.
Der Anspruch 1 definiert eine Vielzahl von Pixeln mit jeweils einer reflektiven Facette, deren Orientierung eine zufällige Variation aufweist. Dies bedeutet, dass die Facette jedes Pixels irgendeine, mit gleicher Wahrscheinlichkeit auftauchende Orientierung aufweist. Die Vielzahl der Facetten der Pixel können alle möglichen Kombinationen der Orientierungen aufweisen. Regelmäßige Orientierungen sind ebenso möglich wie unregelmäßige Orientierungen. Die Kammer folgt damit der Auslegung der Einsprechenden, wonach die beanspruchte "zufällige Variation" der Orientierungen der Facetten sämtliche mögliche Kombinationen der Orientierungen abdeckt. Der in den Merkmalen M4.1 und M4.2 benutzte Begriff "zufällige Variation" der Orientierungen hat die gleiche Bedeutung wie "irgendwelche Variation" der Orientierungen. Anders ausgedrückt: Aus dem Begriff "zufällige Variation" der Orientierungen der Facetten ist kein strukturelles Merkmal der Pixel ableitbar. Der Begriff "zufällige Variation" ist somit nicht einschränkend für das beanspruchte Sicherheitselement.
1.5 Die Gegenargumente der Patentinhaberin sind nicht überzeugend.
1.5.1 Das Argument der Patentinhaberin, wonach der Fachmann den Begriff "zufällige Variation" nur als eine nicht regelmäßige, regellose oder nicht geordnete Variation verstehen würde, kann nicht nachvollzogen werden. Anspruch 1 weist keine technischen Merkmale auf, aus denen hervorgehen würde, dass die Orientierungen der Facetten eine nicht regelmäßige, regellose oder nicht geordnete Variation aufwiesen. Ob in einer Anordnung von Orientierungen der Facetten eine "zufällige Variation" vorliegt, kann nicht aus der Anordnung als solcher abgeleitet werden. Für jegliche Variation der Orientierungen kann grundsätzlich eine Verteilungsregel gefunden werden, wodurch die Variation als nicht zufällig angesehen wird. Ob eine Anordnung eine "zufällige Variation" aufweist, hängt von dem Herstellungsprozess der Facetten ab, der in dem vorliegenden Fall nicht in dem Anspruch 1 definiert ist. Die nachträgliche Feststellung, ob die Anordnung der Orientierungen während der Herstellung zufällig oder deterministisch erfolgte, ist anhand der Anordnung allein nicht mehr möglich.
1.5.2 Zum Vorbringen der Patentinhaberin, wonach der Wortlaut eines Anspruchs 1 so ausgelegt werden muss, dass er einen technischen Sinn ergibt, meint die Kammer, dass das jedenfalls nur gelten kann, wenn der Wortlaut des Anspruchs eine solche Lesart zulässt. Ein Anspruch ist so auszulegen, wie der Fachmann ihn versteht. In dem vorliegenden Fall handelt es sich um einen Vorrichtungsanspruch, in dem der Begriff "zufällige Variation" verwendet wird. Da aus einer fertigen Anordnung von Orientierungen der Facetten in einem Sicherheitselement nicht nachträglich erkennbar ist, ob eine zufällige Anordnung während des Herstellungsprozesses der Facetten angewandt wurde, kann der Begriff "zufällige Variation" keine einschränkende Wirkung in dem Sicherheitselement entfalten.
1.5.3 Die Patentinhaberin argumentiert, es gäbe "um viele Größenordnungen mehr ungeordnete Orientierungen als geordnete Orientierungen, so dass eine zufällig gewählte Orientierung in der Praxis fast sicher eine ungeordnete Orientierung darstellt" (Schreiben vom 3. Februar 2022, Punkt 1.3.2, Seite 4, zweiter Absatz). Daher sei "bei dem Sicherheitselement nach Anspruch 1 eine 'zufällige Variation' der Facetten der unterschiedlichen Pixel für alle praktische Belange eine Anordnung mit ungeordneter Orientierung der Facetten" (Schreiben vom 3. Februar 2022, Punkt 1.3.2, Seite 4, fünfter Absatz; Hervorhebung im Original).
Dieses Argument überzeugt die Kammer nicht. Die Auslegung eines Begriffs wird nicht dadurch bestimmt, dass sie in der Praxis viel häufiger vorkommt als eine andere Auslegung, sondern von dem allgemeinen technischen Verständnis über die Bedeutung des Begriffs. In diesem Fall ist die Kammer der Überzeugung, dass unter den Begriff "zufällige Variation" von Orientierungen alle möglichen, und nicht nur ungeordnete oder unregelmäßige, Anordnungen von Orientierungen mit gleicher Wahrscheinlichkeit fallen.
2. Neuheit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist nicht neu gegenüber E2 (Artikel 100 a) in Verbindung mit Artikel 54(1) EPÜ).
2.1 Gemäß der angefochtenen Entscheidung, Punkt II.3.3, Seiten 7 und 8, sei der Gegenstand des Anspruchs 1 neu gegenüber E2, weil E2 die Merkmale M1, M4.1 und M4.2 nicht offenbare. Die Patentinhaberin ist der gleichen Auffassung wie die Einspruchsabteilung (Beschwerdeerwiderung, Punkt 4.2; Schreiben vom 3. Februar 2022).
2.2 Auffassung der Kammer
2.2.1 Merkmal M1:
Die Kammer stimmt der Patentinhaberin zu, dass die Vorrichtung von E2 nicht tatsächlich als Sicherheitselement für ein Sicherheitspapier, Wertdokument oder dergleichen eingesetzt wird. Das Merkmal M1 verlangt dies jedoch nicht, sondern lediglich, dass die Vorrichtung dazu geeignet ist. Wie von der Einsprechenden während der mündlichen Verhandlung vorgetragen, stellt das Merkmal M1 eine Zweckangabe dar. Die Eignung der aus E2 bekannten Vorrichtung als Sicherheitselement für ein Sicherheitspapier, Wertdokument oder dergleichen eingesetzt zu werden, ist eindeutig gegeben: Die Vorrichtung von E2 erzeugt nämlich auf komplexe und schwer zu kopierende Art einen optischen Effekt, der geeignet ist, die Echtheit eines Gegenstands zu überprüfen (siehe das in Figur 1 erzeugte Muster "H"), und ist aufgrund ihrer schichtförmigen Beschaffenheit geeignet, "auf einen zu sichernden Gegenstand, beispielsweise eine Kreditkarte, ein Pass oder ein Geldschein appliziert oder in diesen integriert zu werden" (Beschwerdebegründung, Seiten 15 und 16 überbrückender Absatz). Daher ist das Merkmal M1 durch die aus E2 bekannte Vorrichtung vorweggenommen.
2.2.2 Merkmal M4.1:
Der Begriff "zufällige Variation" ist im Sinne von "irgendwelche Variation" auszulegen (siehe oben Punkt 1.). Somit hat das Merkmal M4.1 keine einschränkende Wirkung und kann daher grundsätzlich keine Neuheit gegenüber E2 begründen.
2.2.3 Merkmal M4.2:
Figur 2 von E2 zeigt einen Ausschnitt der Vorrichtung mit zwölf Pixeln oder Keilen (22-44). Wie von der Einsprechenden vorgetragen, können diese Pixel willkürlich in zwei Bereiche eingeteilt werden, denn der Begriff "bereichsweise" im Merkmal M4.2 lässt offen, um welche Bereiche es sich genau handelt. Beispielsweise können die Keile in der Figur 2 in Keile auf der rechten Seite und Keile auf der linken Seite aufgeteilt werden, und zwar so, dass die beiden Bereiche Keile aufweisen mit jeweils unterschiedlichen mittleren Orientierungen. Inwiefern diese Orientierungen "vorgegeben" sind, wie im Merkmal M4.2 definiert, kann dahingestellt bleiben, weil der fertigen Anordnung der Facetten nachträglich nicht anzusehen ist, ob während des Herstellungsprozesses unterschiedliche mittlere Orientierungen vorgegeben waren. Der Begriff "vorgegeben" entfaltet im Merkmal M4.2 des Vorrichtungsanspruchs 1 keine einschränkende Wirkung.
Um die mittlere Orientierung eines bestimmten Bereichs herum verteilen sich dann die Orientierungen der einzelnen Keile des entsprechenden Bereichs auf irgendwelche Art. Inwiefern die Orientierungen der Facetten um die unterschiedlichen mittleren Orientierungen eine "zufällige Variation" aufweisen, wie im Merkmal M4.2 definiert, kann ebenfalls dahin gestellt bleiben, weil der Begriff "zufällige Variation" keine einschränkende Wirkung entfaltet (siehe oben Punkt 1.)
2.2.4 Es folgt, dass die Merkmale M1, M4.1 und M4.2 in E2 offenbart sind bzw. keine einschränkende Wirkung haben.
2.3 Gegenargumente der Patentinhaberin
Merkmal M1:
2.3.1 Gemäß der Patentinhaberin handelt es sich in der Druckschrift E2 um eine Vorrichtung zum Homogenisieren eines Lichtstrahls, d.h. um einen Diffusor, oder um eine Vorrichtung, um Strahlteileroperationen auszuführen. Hinweise, dass solche Diffusoren als Sicherheitselemente für ein Sicherheitspapier, Wertdokument oder dergleichen eingesetzt würden, gebe es nicht in E2. Der Begriff "Sicherheitselement" bezeichne "nicht eine allgemeine Vorrichtung für eine bestimmte Verwendung (...), sondern ausdrücklich ein Sicherheitselement", welches ein konkret benannter Gegenstand sei, genauso wie beispielsweise der Begriff "Hammer" nicht mit irgendeiner "Vorrichtung für das Einschlagen von Nägeln" gleichzusetzen sei (Schreiben vom 3. Februar 2022, Punkt 1.2.2).
Auch wenn das Argument der Patentinhaberin für den Begriff "Hammer" zuträfe, kann die Kammer dieses Argument im vorliegenden Zusammenhang nicht nachvollziehen, denn der eigentliche Begriff "Sicherheitselement" ist anderer Natur als der Begriff "Hammer". Er bezeichnet keinen konkreten, eindeutig und strukturell definierten Gegenstand wie der Begriff "Hammer", sondern nur ein allgemeines "Element", welches eine Sicherheitsfunktion ausübt. Um welche Art von Sicherheit und anhand welcher technischer Merkmale des Elements die Sicherheitsfunktion zustande kommt, bleibt bei dem Begriff "Sicherheitselement" vollkommen unbestimmt.
2.3.2 Die oben im Punkt 2.3.1 vertretene Ansicht sei - so die Patentinhaberin - durch die Entscheidung T 2130/18 gestützt, wonach "Lentikularvorrichtungen für Unterhaltungszwecke nicht ohne weiteres Lentikularvorrichtungen als Sicherheitselemente vorwegnehmen oder nahelegen können, da für Letztere strengere Anforderungen gelten" (Schreiben vom 24. Oktober 2022).
Dieses Argument überzeugt die Kammer ebenfalls nicht. Für die Herstellung der aus zahlreichen winzigen Keilen bestehende, komplexe und schwer kopierbare Anordnung von E2 gelten ebenfalls "strengere Anforderungen" als z.B. für Anordnungen mit wenigen und größeren Keilen. Daher erfüllt die Vorrichtung in E2 auch die in der Entscheidung T 2130/18 aufgestellte Beschreibung der Funktion eines allgemeinen Sicherheitselements.
2.3.3 Die Patentinhaberin ist der Meinung, dass "[d]as in Fig. 1 gezeigte Zeichen 'H' (...) keinerlei absichernde Eigenschaft" habe (Schreiben vom 3. Februar 2022, Punkt 1.2.3, Seite 3, erster Absatz).
Die Kammer ist jedoch der Auffassung, dass jedes Element, z.B. das Zeichen "H", ein Sicherheitselement darstellen kann. Es reicht, dass anfangs eine Bestimmung getroffen wurde, wonach das Vorhandensein des schwer kopierbaren Zeichens "H" die Echtheit des zu sichernden Produkts garantiert.
2.3.4 Im Hinblick auf den einzigen Hinweis in E2 auf das Material der optischen Vorrichtung, nämlich Glas, stellt die Patentinhaberin die Eignung der Vorrichtung von E2, auf eine Kreditkarte, einen Pass oder einen Geldschein aufgebracht zu werden, infrage (Schreiben vom 3. Februar 2022, Punkt 1.2.3, Seite 3, zweiter und dritter Absatz).
Wie von der Einsprechenden während der mündlichen Verhandlung vorgetragen, ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund ein dünnes Glassubstrat nicht geeignet sein sollte, z.B. auf Kreditkarten aufgebracht zu werden. Verpackungen, wie in Absatz [0003] des Patents erwähnt, beispielweise Schuhkartons, stellen weitere, mögliche Untergründe für kleine, dünne Glassubstrate dar, um die Echtheit des darin aufbewahrten Produkts anhand eines bestimmten erzeugten Lichtmusters zu gewährleisten.
Merkmal M4.1:
2.3.5 Aus den im Punkt 1.5 oben vorgetragenen Gründen ist die Patentinhaberin der Auffassung, dass "die Wendung 'zufällige Variation' (...) im Sinn einer 'ungeordneten, unregelmäßigen Orientierung der Facetten' zu verstehen" sei. Wie ebenfalls im Punkt 1.5 oben erläutert, ist die Kammer nicht von dieser Begründung der Patentinhaberin überzeugt.
Weitere Argumente der Patentinhaberin zur Begründung der Neuheit des Merkmals M4.1 gingen von einer ungeordneten Orientierung der Facetten aus. Beispielsweise trug die Patentinhaberin vor, dass E2 lediglich eine zufällige Variation der Position der Facetten, jedoch nicht deren Orientierung, offenbare (Schreiben vom 3. Februar 2022, Punkt 1.3.3). Da die Kammer von einer nicht einschränkenden Wirkung des Begriffs "zufällige Variation" der Orientierung ausgeht, sind diese weiteren Argumente der Patentinhaberin nicht relevant für die Neuheitsprüfung des Merkmals M4.1.
Merkmal M4.2:
2.3.6 Für die Patentinhaberin ist die Aufteilung der Keile in der Figur 2 von E2 in einen linken Bereich und in einen rechten Bereich willkürlich. "Eine solche künstliche Aufteilung der Keilanordnung der E2 ist nach diesseitiger Ansicht weder sachgerecht noch an den technischen Gegebenheiten orientiert, so dass der Fachmann eine solche Aufteilung (...) nicht in Betracht ziehen würde" (Schreiben vom 3. Februar 2022, Punkt 1.4.1).
Die Kammer kann dieses Argument der Patentinhaberin nicht nachvollziehen, denn der Anspruch 1 lässt offen, welche Bereiche mit dem Wort "bereichsweise" gemeint sind. Insbesondere fallen die beiden willkürlich ausgesuchten Bereiche auf der linken und der rechten Seite des Ausschnitts der Figur 2 von E2 unter den Wortlaut des Merkmals M4.2.
2.3.7 Gemäß Patentinhaberin versteht der Fachmann, "dass sich das Merkmal M4.2 auf Bereiche bezieht, für die bei der Herstellung eine mittlere Orientierung überhaupt vorgegeben sein konnte". Diese Bereiche seien durch "eine wahrnehmbare, bereichsweise unterschiedliche mittlere Reflexionsrichtung" gekennzeichnet (Schreiben vom 3. Februar 2022, die Seiten 7 und 8 überbrückender Absatz; Hervorhebung im Original). In diesem Sinne wiesen "die rechte und die linke Seite des Ausschnitts der Fig. 2 keine vorgegebene mittlere Orientierung, sondern lediglich eine nachträglich berechnete mittlere Orientierung auf" (Schreiben vom 3. Februar 2022, Seite 8, dritter Absatz; Hervorhebung im Original).
Die Kammer ist nicht überzeugt von diesem Argument. Im Merkmal M4.2 wird das Wort "bereichsweise" benutzt, welches an sich nicht unklar, sondern breit ist. Ein an sich klarer Wortlaut eines Anspruchs soll so breit wie technisch sinnvoll ausgelegt werden und nicht aufgrund möglicher Überlegungen des Fachmanns eingeschränkt bzw. technisch klargestellt werden. Keine der von der Patentinhaberin erwogenen technischen Eigenschaften der Bereiche sind im Anspruch 1 definiert und können somit die Neuheit des Merkmals M4.2 begründen. Ähnlich verhält es sich mit dem Argument der Patentinhaberin, wonach im Merkmal M4.2 die mittleren Orientierungen vorgegeben und nicht nachträglich berechnet werden: der Anspruch 1 weist keine konkreten technischen Merkmale des Sicherheitselements auf, aus denen ableitbar wäre, dass mittlere Orientierungen bereichsweise vorgegeben sind. Wie bereits oben im Punkt 2.2.3 erklärt, ist es nicht möglich aus einer fertigen Anordnung von Keilen abzuleiten, ob bei der Herstellung der Anordnung eine mittlere Orientierung der Keile vorgegeben war. Wie von der Einsprechenden während der mündlichen Verhandlung vorgetragen, definieren die Begriffe "bereichsweise" und "vorgegebene" keine strukturellen Merkmale des Sicherheitselements.
2.3.8 Laut Patentinhaberin variieren die Orientierungen der Facetten nicht zufällig um einen Mittelwert, denn alle Orientierungen in der Vorrichtung von E2 seien deterministisch durch das darzustellende Muster vorgegeben (Schreiben vom 3. Februar 2022, Punkt 1.4.2).
Dieses Argument der Patentinhaberin ist nicht überzeugend, weil der Begriff "zufällige Variation" an sich keine einschränkende Wirkung in einem Vorrichtungsanspruch entfaltet (siehe oben Punkt 1.4).
2.3.9 Zusammenfassend können die Gegenargumente der Patentinhaberin die Kammer nicht überzeugen.
3. Aus den genannten Gründen steht der Grund der mangelnden Neuheit (Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 54 (1) EPÜ) der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form entgegen. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben.
4. Zurückverweisung
Beide Beteiligte haben hilfsweise für den Fall, dass ihr jeweiliger Hauptantrag für nicht gewährbar gehalten werden sollte, beantragt, die Angelegenheit an die erste Instanz zurückzuverweisen (oben Nr. VI und VII). Diese Bedingung ist erfüllt. Die Kammer beschließt aus folgenden Gründen, von ihrem Ermessen nach Artikel 111 (1) EPÜ und Artikel 11 VOBK 2020 dahingehend Gebrauch zu machen, die Sache zur weiteren Bearbeitung an die erste Instanz zurückzuverweisen und damit diesen Hilfsanträgen stattzugeben:
Die Patentinhaberin hat eine große Anzahl an Hilfsanträgen eingereicht. Jedoch wurde bis jetzt keiner der Anspruchsätze dieser Hilfsanträge hinsichtlich der Erfordernisse des EPÜ von der Einspruchsabteilung überprüft. Des Weiteren hat die Einsprechende eine Vielzahl an Druckschriften eingeführt, die alle angeblich die Neuheit des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1 vorwegnehmen. Die Relevanz dieser Druckschriften gegenüber dem in den Hilfsanträgen beanspruchten Gegenstand ist bis jetzt ungeprüft geblieben. Weiterhin weicht die von der Kammer vorgenommene Auslegung der Begriffe "zufällige Variation", "bereichsweise" und "vorgegebene" grundsätzlich von derjenigen ab, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde lag. Diese neue Auslegung der Kammer könnte eine wesentliche Auswirkung auf die Beurteilung der Patentfähigkeit des beanspruchten Gegenstands der Hilfsanträge zur Folge haben. Aus diesen Gründen liegt nunmehr ein neuer Fall vor, dessen erstmalige Überprüfung durch die Kammer nicht mit dem vorrangigen Ziel des Beschwerdeverfahrens der gerichtlichen Überprüfung der angefochtenen Entscheidung vereinbar ist.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.