T 1928/20 07-09-2022
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Schere zum Schneiden von Ästen
Teilanmeldung - unzulässige Erweiterung (nein)
Zurückverweisung - (ja)
Zurückverweisung - besondere Gründe für Zurückverweisung
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 10170864.2 nach Artikel 97 (2) EPÜ zurückzuweisen. Die Patentanmeldung wurde als Teilanmeldung der früheren europäischen Patentanmeldung 06791556.1 eingereicht (nachfolgend Stammanmeldung, als PCT/EP2006/007623 eingereicht und als WO 2007/017163 A1 veröffentlicht).
II. Die Prüfungsabteilung war der Auffassung, dass der Gegenstand des am 10. Januar 2013 in elektronischer Form eingereichten Anspruch 1 über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, so dass die Anmeldung und die Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, nicht den Erfordernissen des EPÜ genügen.
III. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf Basis des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrags, hilfsweise eine Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung zur weiteren Prüfung des Hauptantrags, weiterhin hilfsweise eine mündliche Verhandlung.
IV. Der für diese Entscheidung relevante unabhängige Anspruch 1 des Hauptantrags hat den folgenden Wortlaut (die Änderung gegenüber der Fassung, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegt, ist von der Kammer durch Unterstreichung hervorgehoben):
"Schere (1) zum Schneiden von Ästen mit zumindest zwei korrespondierend ausgebildeten, relativ zueinander bewegbaren Scherenteilen (2), von denen zumindest eines mit einer Griffeinrichtung (10) verbunden ist und von denen zumindest eines über ein zumindest abschnittsweise flexibles Zugmittel (7) mit einer Betätigungskraft beaufschlagbar ist, wobei das Zugmittel (7) über eine Zugmittelrolle(6) mit dem Scherenteil (2) wirkverbunden ist,
dass das Zugmittel (7) zumindest abschnittsweise im Bereich einer zwischen der Griffeinrichtung (10) und dem damit verbundenen Scherenteil (2) vorgesehenen Gelenkeinrichtung (11) koaxial zu einer Gelenkachse (20) der Gelenkeinrichtung (11) angeordnet ist,
dadurch gekennzeichnet,
dass zumindest zwei Getriebestufen (21, 22) vorgesehen sind,
wobei zwischen der Zugmittelrolle (6) und dem Scherenteil (2) eine Getriebeeinrichtung (21, 22) vorgesehen ist, die insbesondere für eine Kraftübersetzung zur Erhöhung einer Schnittkraft des Scherenteils (2) ausgebildet ist,
wobei die Getriebeeinrichtung eine an der Zugmittelrolle (6) angebrachte Verzahnung (21) und eine korrespondierende Verzahnung (22) an zumindest einem
Scherenteil (2) aufweist."
V. Die Beschwerdeführerin hat zu den entscheidungserheblichen Punkten Folgendes vorgetragen:
Der Gegenstand von Anspruch 1 gehe nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus. Daher solle die Zurückweisung der Patentanmeldung durch die Prüfungsabteilung aufgehoben und die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen werden.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Anwendungsgebiet der Erfindung
Die Patentanmeldung betrifft eine Schere (1) mit zwei relativ zueinander bewegbaren Scherenteilen (2) zum Schneiden von Ästen. Ein Scherenteil ist mit einer Griffeinrichtung (10) verbunden, das andere Scherenteil ist über eine Zugmittelrolle (6) und ein damit verbundenes, zumindest abschnittsweise flexibles Zugmittel (7) betätigbar. Zwischen der Zugmittelrolle und dem damit verbundenen Scherenteil ist eine Getriebeeinrichtung mit zumindest zwei Getriebestufen vorgesehen. Eine der Getriebestufen besteht aus einer an der Zugmittelrolle angebrachten Verzahnung (21) und einer korrespondierenden Verzahnung (22) am Scherenteil.
Zwischen der Griffeinrichtung (10) und dem damit verbundenen Scherenteil (2) ist eine Gelenkeinrichtung (11) vorgesehen, um den von den beiden Scherenteilen gebildeten Schneidbereich gegenüber der Griffeinrichtung abzuwinkeln und somit die Schere an unterschiedliche Schneidaufgaben anzupassen. Im Bereich dieser Gelenkeinrichtung ist das Zugmittel (7) zumindest abschnittsweise koaxial zu einer Gelenkachse (20) der Gelenkeinrichtung (11) angeordnet. Dadurch tritt beim Verschwenken keine Verlängerung oder Verkürzung des Zugmittels ein, so dass unabhängig von der Verschwenkung immer der gleiche Schneidbereich zwischen den Scherenteilen zur Verfügung steht, siehe den zweiten Absatz auf Seite 7 sowie die Figur 1 der ursprünglich eingereichten Teilanmeldung.
3. Änderungen
3.1 Die Patentanmeldung wurde als Teilanmeldung eingereicht. Deswegen darf der Gegenstand von Anspruch 1 nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung (nachfolgend: Stammanmeldung) in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehen, Artikel 76(1) EPÜ.
3.2 Anspruch 1 betrifft eine Schere zum Schneiden von Ästen mit zwei Scherenteilen, einer mit einem Scherenteil verbundenen Griffeinrichtung sowie einem über eine Zugmittelrolle mit einem Scherenteil verbundenen Zugmittel. Eine Gelenkeinrichtung befindet sich zwischen der Griffeinrichtung und dem damit verbundenen Scherenteil, wobei das Zugmittel zumindest abschnittsweise im Bereich der Gelenkeinrichtung koaxial zu deren Gelenkachse angeordnet ist. Eine Getriebeeinrichtung befindet sich zwischen der Zugmittelrolle und dem Scherenteil, die beide korrespondierende Verzahnungen aufweisen. Außerdem sind zumindest zwei Getriebestufen vorgesehen.
3.3 In Bezug auf diese Getriebestufen war die angefochtene Entscheidung zu dem Ergebnis gelangt, dass eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung vorläge, da die beiden Getriebestufen in der Stammanmeldung nur im Zusammenhang mit einer unrunden Kontur der Zugmittelrolle und einer variablen Kraftübersetzung in der ersten Getriebestufe offenbart seien.
Die Kammer muss darum nun prüfen, ob sich eine solche Schere ohne die Einschränkungen auf eine variable Kraftübersetzung in der ersten Getriebestufe und eine unrunde Kontur der Zugmittelrolle unmittelbar und eindeutig aus der Offenbarung der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableiten lässt.
3.4 Eine Schere mit den Merkmalen des Oberbegriffs von Anspruch 1 wird nach Auffassung der Kammer durch die Kombination des ersten Absatzes auf Seite 1 und des Brückenabsatzes zwischen den Seiten 7 und 8 der ursprünglich eingereichten Stammanmeldung offenbart. Dabei betrifft die Passage auf den Seiten 7 und 8 die Anordnung des Zugmittels im Bereich der Gelenkeinrichtung zwischen der Griffeinrichtung und dem damit verbundenen Scherenteil. Da das Zugmittel, die Griffeinrichtung und das damit verbundene Scherenteil bereits in der Passage auf Seite 1 - neben der dort ebenfalls genannten Zugmittelrolle - im Zusammenhang mit der Erfindung eingeführt wurden ("Die Erfindung betrifft..."), ist die Passage auf den Seiten 7 und 8 als Weiterbildung des allgemeinen Erfindungsgedankens aus der Passage auf Seite 1 anzusehen. Folglich bilden diese beiden Passagen eine eigenständige zweite Ausführungsform der Erfindung, zusätzlich zu der auf Seite 2, zweiter Absatz und in Anspruch 1 der ursprünglich eingereichten Stammanmeldung genannten ersten Ausführungsform mit unrunder Kontur der Zugmittelrolle. Mangels irgendeines Hinweises auf die Form der Zugmittelrolle in den Passagen auf den Seiten 1, 7 und 8 ist diese zweite Ausführungsform nicht auf eine bestimmte Kontur der Zugmittelrolle beschränkt.
3.5 Eine Getriebeeinrichtung zwischen der Zugmittelrolle und dem Scherenteil, die beide korrespondierende Verzahnungen aufweisen, wird in den ersten beiden Absätzen auf Seite 4 der ursprünglich eingereichten Stammanmeldung offenbart. Diese Passage ist als "Ausgestaltung der Erfindung" formuliert, siehe jeweils die erste Zeile der beiden Absätze auf Seite 4, so dass sie sich auch auf die zweite Ausführungsform der Erfindung mit koaxialer Anordnung des Zugmittels im Bereich der Gelenkeinrichtung bezieht. Mangels Aussage über die Form der Zugmittelrolle ist diese Passage nicht auf eine bestimmte Kontur der Zugmittelrolle beschränkt. Zudem ist die einzige Aussage über die Übersetzung der Getriebeeinrichtung als Option formuliert ("kann dabei insbesondere als Getriebe mit konstanter oder variierender Übersetzung ausgebildet sein"), so dass die Passage auf Seite 4 der Stammanmeldung nicht auf eine variable Kraftübersetzung beschränkt ist.
3.6 Die Kammer stimmt der Prüfungsabteilung darin zu, dass die beiden Getriebestufen der Getriebeeinrichtung im Brückenabsatz zwischen den Seiten 8 und 9 der ursprünglich eingereichten Anmeldung offenbart werden. Die bereits in der angefochtenen Entscheidung aus dieser Passage zitierten Aussagen "die erste Getriebestufe bevorzugt eine variable Kraftübersetzung verwirklichen kann" und "Dazu kann vorgesehen sein, dass in der ersten Getriebestufe, ..., eine variable Kraftübersetzung stattfindet, die durch die unrunde Kontur der Zugmittelrolle verwirklicht ist."
(Hervorhebungen jeweils durch die Kammer) sind jedoch wegen der Begriffe "bevorzugt" und "kann vorgesehen sein" nach ständiger Rechtsprechung rein fakultativ. Folglich ist auch die Passage auf den Seiten 8 und 9 der Stammanmeldung weder auf eine unrunde Kontur der Zugmittelrolle noch auf eine variable Kraftübersetzung der ersten Getriebestufe beschränkt.
3.7 Anspruch 1 beruht somit auf einer Kombination der genannten Passagen auf den Seiten 1, 4 und 7 bis 9 der ursprünglich eingereichten Stammanmeldung. Mangels Beschränkung dieser Passagen auf eine unrunde Kontur der Zugmittelrolle oder auf eine variable Kraftübersetzung der ersten Getriebestufe müssen diese Merkmale nicht in den Anspruch aufgenommen werden. Daher geht Anspruch 1 des Hauptantrags nicht über den Inhalt der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus, so dass die Erfordernisse von Artikel 76(1) EPÜ erfüllt sind.
4. Zurückverweisung
4.1 Die Beschwerdeführerin hat hilfsweise beantragt, dass die Sache zur weiteren Entscheidung auf Grundlage des Hauptantrags an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen werden solle.
4.2 Die Beschwerdekammer wird gemäß Artikel 111 (1) EPÜ entweder im Rahmen der Zuständigkeit des Organs tätig, das die Entscheidung erlassen hat, oder sie verweist die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an dieses Organ zurück. Dabei ist das Verfahren vor den Beschwerdekammern auch im ex parte Verfahren primär auf die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung abgestellt. Ob die Beschwerdekammer in der Sache selbst entscheidet oder die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung verweist (Art. 111(1) Satz 2 EPÜ), hat sie nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sind die maßgebenden Umstände des Einzelfalles in Betracht zu ziehen und insbesondere abzuwägen, ob noch weitere Ermittlungen anzustellen sind, ob sich der Sachverhalt gegenüber dem angefochtenen Beschluss erheblich geändert hat, und welche Stellung der Anmelder zum "Instanzverlust" einnimmt. Welche Bedeutung den einzelnen Erwägungen zukommt, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (siehe G10/93, Punkte 4 und 5 der Entscheidungsgründe).
4.3 Im vorliegenden Fall wurde die Anmeldung alleine unter Verweis auf Artikel 76(1) EPÜ wegen vermeintlich über den Inhalt der früheren Anmeldung herausgehenden Änderungen zurückgewiesen. Die Erfordernisse der Klarheit, der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit wurden dagegen nicht untersucht. Zudem beantragt auch die Beschwerdeführerin, dass die Sache zur weiteren Entscheidung auf Grundlage des Hauptantrags an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen werden solle.
4.4 Nach Auffassung der Kammer liegen daher im vorliegenden Fall besondere Gründe vor, die eine Zurückverweisung der Sache an die Prüfungsabteilung nach Artikel 11 VOBK 2020 rechtfertigen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.