T 2049/20 14-07-2022
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VERFAHREN ZUR WARNUNG DES FAHRERS EINES FAHRZEUGES VOR EINEM DROHENDEN UMKIPPEN UND STEUERUNGSEINRICHTUNG DAFÜR
Knorr-Bremse
Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH
I. Das europäische Patent Nr. 2 750 942 wurde mit der am 13. Oktober 2020 zur Post gegebenen Entscheidung der Einspruchsabteilung in geänderter Form aufrechterhalten. Dagegen wurde von der Einsprechenden form- und fristgerecht gemäss Artikel 108 EPÜ Beschwerde eingelegt.
II. Folgende Dokumente werden in dieser Entscheidung zitiert:
EP-B (hiermit wird im Folgenden die veröffentlichte Streitpatentschrift EP 2 750 942 B1 bezeichnet);
E1 (DE 100 17 045 A1);
E6 (Stability Dynamics Ltd.: LG Alert, Lateral Acceleration Indicator, User/ Installation Manual. Ver 04, November 2006) EP 0 357 599 B1).
III. Es fand am 14. Juli 2022 eine mündliche Verhandlung statt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, das Patent auf der Grundlage der folgenden Unterlagen aufrechtzuerhalten:
Ansprüche 1-6 gemäß neuem Hauptantrag, eingereicht als Hilfsantrag 1 mit der Beschwerdeerwiderung,
Beschreibungsabsätze 1-20, 22 und 25-55 wie erteilt, Beschreibungsabsätze 21, 23 und 24 wie eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung zum damaligen Hilfsantrag 1,
Figuren 1-6 wie erteilt.
IV. Anspruch 1 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
"Verfahren zur Warnung des Fahrers eines Fahrzeugs (2, 3) vor einem drohenden Umkippen des Fahrzeugs (2, 3) um seine Längsachse, wobei eine Steuerungseinrichtung (13) die momentane Querbeschleunigung (aq) des Fahrzeugs (2, 3) erfasst und hiervon abhängig ein Warnsignal bei drohendem Umkippen abgibt, wobei die Steuerungseinrichtung (13) das Warnsignal zusätzlich in Abhängigkeit von wenigstens einem von der Steuerungseinrichtung (13) im Fahrbetrieb des Fahrzeugs (2, 3) ermittelten kippkritischen Querbeschleunigungswert (aq,krit) abhängig macht, der ein Maß für die Querbeschleunigung des Fahrzeuges ist, bei der das Fahrzeug (2, 3) tatsächlich um seine Längsachse umkippen würde, wobei der kippkritische Querbeschleunigungswert (aq,krit) anhand des Fahrzeugverhaltens bei Kurvenfahrt von der Steuereinrichtung (13) automatisch ermittelt wird, wobei während einer Kurvenfahrt eine Testbremsung mit geringem Bremsdruck an wenigstens einem kurveninneren Rad (7, 8, 9) von der Steuereinrichtung (13) ausgelöst wird, bei der das wenigstens eine kurveninnere Rad (7, 8, 9) mit einer im Verhältnis zur höchstmöglichen Bremskraft geringen Bremskraft beaufschlagt wird, und das Raddrehgeschwindigkeitsverhalten wenigstens des einen mit der Testbremsung beaufschlagten Rades (7, 8, 9) für die adaptive Anpassung des kippkritischen Querbeschleunigungswertes (aq, krit) herangezogen wird, wobei die momentane Querbeschleunigung (aq) des Fahrzeuges (2, 3) bezogen auf den kippkritischen Querbeschleunigungswert (aq,krit) in der Art eines künstlichen Horizonts dargestellt wird."
V. Die Einsprechende führte aus, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags für den von E1 ausgehenden Fachmann im Hinblick auf E6 nicht erfinderisch sei.
Der beanspruchte Gegenstand unterscheide sich von E1 lediglich durch die Merkmale (i) (dass zur Warnung des Fahrers die Steuereinrichtung in Abhängigkeit von der momentanen Querbeschleunigung bei drohendem Umkippen ein Warnsignal abgibt) und (ii) (dass die momentane Querbeschleunigung (aq) des Fahrzeuges (2, 3) bezogen auf den kippkritischen Querbeschleunigungswert (aq,krit) in der Art eines künstlichen Horizonts dargestellt wird).
Das Merkmal (i) könne jedenfalls nicht zur erfinderischen Tätigkeit beitragen, da E1 bereits explizit darauf hinweise (E1, Absatz [0003]), dass das Erzeugen eines Warnsignals aus dem (für die in E1 offenbarte Erfindung) gattungsgemäßen Dokument DE 196 02 879 C1 bekannt sei. Der Fachmann werde diesem Hinweis in naheliegender Weise folgen und sinnvollerweise im bekannten Verfahren gemäß E1 auch vorsehen, dass bei drohender Kippgefahr das Erzeugen oder die Emission eines Warnsignals gleichzeitig mit dem Bremseingriff stattfinde. Merkmal (ii) werde in naheliegender Weise durch E6 nahegelegt.
Insbesondere ergebe sich für den Fachmann im Hinblick auf die obigen Unterscheidungsmerkmale die Aufgabe, eine geeignete Anzeige auszuwählen, die den Fahrer bei drohender Umkippgefahr in geeigneter Weise warne, indem eine einfache Erfassung des Umkipprisikos durch den Fahrer ermöglicht werde.
Als mögliches Warnsignal komme für den Fachmann natürlich auch ein optisches Warnsignal in Frage und der Fachmann werde E6 in Betracht ziehen, weil E6 eine modulare, separate Komponente in der Art eines Displays offenbare, welche die momentane Querbeschleunigung ins Verhältnis zur kippkritischen Querbeschleunigung setze und optisch darstelle, und auch in der Lage sei, sich dynamisch ändernde kritische Querbeschleunigungen darzustellen. Da E6 zudem auch eine eigene getrennte Steuereinheit offenbare, könne der Fachmann die genannte modulare Komponente mit der Steuereinheit von E1 kombinieren. Somit werde der Fachmann die technischen Merkmale gemäß E6 in naheliegender Weise in der Vorrichtung gemäß E1 ohne Schwierigkeiten umsetzen können.
Weiterhin offenbare E6 (siehe Seiten 1, 5 und 7) auch eine optische Darstellung in der Form eines "künstlichen Horizonts" im Sinne des Streitpatents (EP-B), da die Anzeige bzw. das Display gemäß D6 (aufweisend eine abstrakte Horizontalstruktur mit den zum Rand hin ansteigenden LED-Bändern, welche die Kippneigung abstrakt darstellen) die Link-/Rechts-Abweichungen von der normalen bis zur kippkritischen Querbeschleunigung optisch darstellten, genauso wie in EP-B offenbart und in den Figuren 5 und 6 von EP-B dargestellt. Insbesondere entnehme man aus der Figur 6 von EP-B entgegen der Auffassung der Patentinhaberin keine "Neigung", so dass der Begriff im Patent weit auszulegen sei und auch die optische Darstellung gemäß der Anzeige auf Seite 7 von D6 nicht zwingend eine Neigung aufzeigen müsse.
Der Begriff eines "künstlichen Horizonts" sei zwar aus der Luftfahrttechnik bekannt und fachüblich, in der Kraftfahrzeugtechnik jedoch nicht fachüblich und es sei auch nicht klar und im Anspruch 1 nicht definiert, welche Eigenschaften dieser Begriff genau impliziere, insbesondere werde nicht notwendig und zwingend in irgendeiner Form eine "Neigung" impliziert und der Anspruch dürfe auch nicht so ausgelegt werden.
Insgesamt ergebe sich aus den genannten Gründen, dass der Fachmann durch die naheliegende Kombination von E1 und E6 zur Gesamtheit der beanspruchten Merkmale gelange.
Alle weiteren Angriffslinien wurden zurückgenommen.
VI. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) führte aus, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags im Hinblick auf E1 und E6 für den Fachmann nicht naheliegend sei.
Insbesondere sei die Kombination von E1 mit E6 für den Fachmann nicht naheliegend, weil E1 dem Fachmann nicht nahelege, einen Bremseingriff vorzusehen und gleichzeitig auch ein Warnsignal an den Fahrer abzugeben. Diese Warnung sei in E1 nur in Verbindung mit dem gattungsbildenden Stand der Technik DE 196 02 879 C1 (E1, Absatz [0003]) offenbart und E1 selbst lehre eigentlich davon weg, da gemäß E1 der Bremseingriff als für den Fahrer völlig ausreichender Hinweis auf die drohende Umkippgefahr angesehen werde.
Darüber hinaus führe selbst die Kombination von E1 und E6 den Fachmann nicht in naheliegender Weise zum Merkmal (ii), da die Anzeige von E6 keinen künstlichen Horizont offenbare. Die Anzeige bewege sich nur linear nach links oder rechts und weite sich in den Endbereichen auf, dies jedoch gleichmäßig nach oben und unten. Daher ergebe sich aus dieser Anzeige keine Neigung, die die momentane Querbeschleunigung des Fahrzeuges (2, 3) und den kippkritischen Querbeschleunigungswert in der Art eines künstlichen Horizonts zueinander in Relation setze.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist im Hinblick auf E1 und E6 für den Fachmann nicht naheliegend (Artikel 56 EPÜ).
Es wird festgestellt (wie die Diskussion in der mündlichen Verhandlung ergeben hat), dass die Merkmale (i) (dass zur Warnung des Fahrers die Steuereinrichtung in Abhängigkeit von der momentanen Querbeschleunigung bei drohendem Umkippen ein Warnsignal abgibt) und (ii) (dass die momentane Querbeschleunigung (aq) des Fahrzeuges (2, 3) bezogen auf den kippkritischen Querbeschleunigungswert (aq,krit) in der Art eines künstlichen Horizonts dargestellt wird) unstreitig als Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Gegenstand des Anspruchs 1 und dem Dokument E1 anzusehen sind.
Das Merkmal (i) ist jedoch für den Fachmann ausgehend von E1 als naheliegend anzusehen, da E1 (siehe Absatz [0003]) generell explizit darauf hinweist, dass die Abgabe eines Warnsignals bei drohender Umkippgefahr im Stand der Technik bekannt ist und die Offenbarung von E1 das Ergreifen dieser Maßnahme nicht ausschließt, selbst wenn diese Maßnahme nicht im Zusammenhang mit den erfindungsgemäßen Ausführungsbeispielen von E1 erwähnt ist. Zudem würde eine Warnung dem Fachmann als sinnvoll, wenn nicht sogar notwendig erscheinen, da es vernünftig und natürlich ist, den Fahrer allgemein über unmittelbar drohende Gefahrsituationen zu informieren, um ungeeignete und unpassende Reaktionen des Fahrers zu vermeiden, die sich irrtümlicherweise, unüberlegt und nicht beabsichtigt insbesondere als Reaktion auf den plötzlichen Bremseingriff des automatischen Bremssteuerungssystems ergeben können, und die auch negative Folgen für die Fahrzeugstabilität haben können.
Im Übrigen ist es im Bereich der Kraftfahrzeugtechnik fachüblich, den Fahrer in Gefahrsituationen zu warnen, siehe z.B. Warnungssignal bei nicht angeschnalltem Sicherheitsgurt oder bei überhöhter Temperatur im Kühlkreislauf des Motors.
Der Fachmann würde auch E6 näher in Betracht ziehen, weil E6 insbesondere ein Gerät zur Anzeige und optischen Darstellung der momentanen Querbeschleunigung offenbart, und dies zudem in Relation zur kippkritischen Querbeschleunigung (E6, Seiten 7, 8). Diese Anzeige weist nach links und nach rechts zu den Rändern hin jeweils nach oben und unten ansteigende LED-Bänder auf, die zu den Rändern hin eines nach dem anderen eingeschaltet werden und leuchtend erscheinen in der Weise, dass die momentane Querbeschleunigung im Vergleich zur kippkritischen Querbeschleunigung umso größer ist, je mehr LED-Bänder in Richtung links oder rechts aufleuchten.
Eine solche optische Anzeige würde der Fachmann auch in naheliegender Weise im Verfahren gemäß E1 einsetzen, da diese Art der Darstellung der momentanen Querbeschleunigung eine für den Fahrer einfach erfassbare und einprägsame Art der Darstellung ist. Zudem wird die besagte optische Anzeige gemäß E6 als modulartige und separate Komponente offenbart, die auch in Verbindung mit der Steuereinheit des Verfahrens gemäß E1 in naheliegender Weise verwendet werden kann.
Damit würde jedoch der Fachmann insgesamt noch nicht zum Merkmal (ii) gelangen, da dieses noch verlangt, dass die besagte Darstellung der momentanen Querbeschleunigung in Bezug auf die kippkritische Querbeschleunigung als "künstlicher Horizont" ausgestaltet ist.
Ein "künstlicher Horizont" impliziert notwendig eine variable "Neigung", wie z.B. aus der Luftfahrt bekannt ist (wie in der mündlichen Verhandlung diskutiert), wo ein Flugzeuginstrument zur Bestimmung der Lage des Luftfahrzeugs in Bezug auf die Erdoberfläche verwendet wird. Diese variable Neigung spiegelt im vorliegenden Fall nicht nur die tatsächliche Neigung des Fahrzeugs in der Kurve wider, sondern gibt zusätzlich auch eine Relation zwischen der momentanen Querbeschleunigung und der kippkritischen Querbeschleunigung wieder. Auf diese Weise ist es möglich, den Fahrer auf die aus der tatsächlichen Neigung des Fahrzeugs und der Querbeschleunigung der Kurvenfahrt resultierende Kippgefahr hinzuweisen und ihn auf intuitiv leicht erfassbare Weise bei der weiteren Fahrt kontinuierlich so anzuleiten, dass - durch Anpassung der Geschwindigkeit und ggf. des Kurvenradius sowie unter Berücksichtigung der jeweiligen Neigung der Strecke - immer ausreichender Abstand zu dem ebenfalls angezeigten Kipppunkt gehalten wird.
Vor diesem Hintergrund, der sich mit dem allgemeinen, aus der Luftfahrt bekannten Sprachgebrauch deckt, erachtet die Beschwerdekammer die Darstellung einer variablen "Neigung" als notwendige und wesentliche Eigenschaft eines "künstlichen Horizonts", die auch im Gegenstand des Anspruchs 1 zumindest implizit erfüllt und gegeben sein muss. Denn ohne eine solche "Neigung" hätte ein "künstlicher Horizont" keinen Sinn, da er von einem vom Fahrer oder Piloten in einer "normalen" (d.h. keine Querbeschleunigung aufweisende) Fahr- bzw. Flugsituation erfassten Horizont nicht zu unterscheiden wäre.
Diese variable "Neigung" ist in den Figuren 5 und 6 von EP-B ersichtlich, da im ersten Fall klar die Horizontale 61 und die variable, den künstlichen Horizont darstellende Linie 62 gezeigt werden, im zweiten Fall sich die Neigung klar aus der variierenden Differenz zwischen der Anzahl der im Block 70 einerseits ganz links und andererseits ganz rechts leuchtenden Balken 74, 75, 76 ergibt, wobei diese Differenz eindeutig beim Fahrer den Eindruck einer variablen Neigung erweckt.
Dies trifft hingegen (entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin) für die in E6 offenbarte Anzeige nicht zu, weil die in der Anzeige leuchtenden vertikalen LED-Balken (im Bereich des rechten und des linken Rands der Anzeige) sich symmetrisch oberhalb und unterhalb der Horizontale erstrecken (mit in Richtung zum jeweiligen Rand hin zunehmender Höhe), so dass im Bereich des linken bzw. rechten Randes jeweils ein leuchtendes Dreiecksgebilde entsteht, mit der Horizontalen als Symmetrieachse und der Basis als weitest rechts- bzw. linksaussen liegenden (vertikal ausgerichtete) Dreiecksseite.
Eine solche Konfiguration weist offensichtlich insgesamt keine "Neigung" auf, da die leuchtend erscheinenden LED-Balken sich symmetrisch und vertikal (links oder rechts in der Anzeige) gleichermassen oberhalb und und unterhalb der Horizontalen erstrecken, und eine "variable Neigung" wird erst recht nicht gezeigt.
Somit würde auch die für den Fachmann naheliegende Kombination von E1 und E6 nicht zu der Gesamtheit der Merkmale des Anspruchs 1 führen.
Die Beschwerdekammer stellt auch fest, dass Merkmal (ii) auch vom allgemeinen Fachwissen im Kraftfahrzeugbereich nicht nahegelegt wird, da es hierfür keine Nachweise oder Belege gibt und dies wurde von der Beschwerdeführerin auch nicht bestritten.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung
zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent auf der
Grundlage der folgenden Unterlagen aufrechtzuerhalten:
Ansprüche 1-6 gemäß neuem Hauptantrag, eingereicht als
Hilfsantrag 1 mit der Beschwerdeerwiderung,
Beschreibungsabsätze 1-20, 22 und 25-55 wie erteilt,
Beschreibungsabsätze 21, 23 und 24 wie eingereicht mit
der Beschwerdeerwiderung zum damaligen Hilfsantrag 1,
Figuren 1-6 wie erteilt.